Damit begann Hreshs wahrer Vorstoß in die Geheimnisse von Vengiboneeza. Die Maschine im Kellergewölbe unter dem Platz der Sechsunddreißig Türme hatte ihm den Zugang eröffnet; sie und der Barak Dayir.
Jedermann wußte, daß ihm eine große Entdeckung geglückt war. Haniman hatte es überall herumerzählt, und die Geschichte kitzelte sogar die dumpfsten, phantasieärmsten Hirne. Hresh stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des ganzen Volkes. Man glotzte ihn an, als wäre er soeben von einem Mahl am Tisch der Götter zurückgekehrt. „Und du hast tatsächlich die Große Welt erblickt?“ wurde er zwanzigmal am Tag gefragt. „Wie war sie denn? Sag es mir! Sag es!“
Doch es war Taniane, welche die wirkliche Wahrheit sah. „Du bist auf etwas Schreckliches gestoßen, als du dort unten in diesem Loch warst. Es hat dich dermaßen verstört, daß du nichts darüber sagen magst. Aber es hat dich verwandelt, nicht wahr, Hresh? Und was es auch immer war, das kann ich sehen. Jetzt hängt eine Düsternis um deinen Geist, die früher nicht da war.“
Erstaunt blickte er sie an. „Nichts an mir hat sich verändert“, sagte er verkniffen.
„Doch, ich kann es sehen.“
„Du bildest dir da bloß was ein.“
„Mir kannst du es ruhig sagen“, bat sie schmeichelnd. „Wir sind doch immer Freunde gewesen, Hresh. Es wird deiner Seele wohltun, wenn du mit jemandem darüber redest.“
„Da gibt es nichts zu erzählen. Gar nichts!“
Und er wandte sich rasch von ihr weg, wie er es stets zu tun pflegte, wenn er befürchtete, jemand könne es ihm am Gesicht ablesen, daß er log.
Er konnte es nicht nur nicht über sich bringen, das Geheimnis, diese quälende Wahrheit, die er im Kellergewölbe unter den Sechsunddreißig Türmen entdeckt hatte, mit irgendeinem der anderen im Stamm zu teilen, nein, er vermochte es auch kaum auszuhalten, für sich alle in daran zu denken. Ab und zu fühlte er es wie einen dumpfen Schmerz nahe dem Herzen; hin und wieder hörte er eine rauhe spöttische Stimme flüstern: Kleiner Affe, Äffchen, kleiner Affe. Aber dieser Enthüllung konnte er sich jetzt noch nicht stellen, sie war zu schmerzlich. Er schob sie fort, er verdrängte sie bis tief unter sein waches Bewußtsein.
Erleichterung für seine Seele fand er, indem er sich heftig in die Erforschung der Ruinen Vengiboneezas stürzte. Das von der Maschine und dem Barak Dayir angelegte Muster diente ihm als Leitplan. Wenn er den Wunderstein anwendete, boten ihm die kleinen roten Lichterpunkte, die er auf den erscheinenden geschlossenen Kreiszonen erblickte, die nötigen Hinweise; und damit begann er systematisch mit der Aufspürung der in der Stadt versteckten unbeschädigten uralten Maschinenmechanismen, von denen er ja nun wußte, daß sie zuhauf überall greifbar noch vorhanden waren, einige versteckt in verborgenen Gewölben, andere aber praktisch offen zutage liegend.
Es erstaunte ihn, daß so zahlreiche Schätze aus der Zeit der Großen Welt den Langen Winter überstanden hatten. Sogar Metall, dachte er, müßte doch eigentlich über einen dermaßen gewaltigen Zeitraum hin zu Staub zerfallen. Und doch — wohin immer er blickte, nun, da er wußte, wie er die richtigen fündigen Stellen ausmachen konnte — stieß er allerorts auf größere oder kleinere Wunderwerke. Die meisten der Apparaturen waren viel zu umfangreich, als daß er sie hätte bewegen können, aber viele schleppten sie zur Siedlung zurück, wo man ihm einen abgeschirmten Lagerraum für sie im Tempel einrichtete. Der füllte sich sehr rasch mit merkwürdigen blitzenden Geräten, deren Funktion und Zweck rätselhaft waren. Hresh untersuchte sie mit behutsamer Vorsicht. Solche Objekte zu entdecken, das war eine Leistung, aber zu bestimmen, wie man sie benutzen könnte, war etwas ganz anderes. Das war eine langwierige, eine schwierige und eine frustrierende Aufgabe und Arbeit.
Um Hresh formte sich eine Gruppe, die im Volk als „die Sucher“ bekannt wurde und die ihm bei seinen Forschungs- und Erkundungsaufgaben helfen sollte.
Anfangs waren die Sucher nichts weiter als die Handvoll Leibwächter — Konya, Haniman, Orbin —, die regulär mit ihm zu seinem Schutz auszogen, wenn er die Stadt durchstreifte. Zu Beginn hatte Hresh sie als ein notwendiges Übel angesehen, als bloße Speerfuchtler. Doch es dauerte nicht lang, und sie kannten die Stadt beinahe ebenso gut wie er selber. Zwar versuchte er seine kartographischen Erkenntnisse für sich zu behalten, aber es war ganz unmöglich zu verhindern, daß auch die anderen sich allmählich in der Stadt zurechtzufinden lernten. Und inzwischen starteten sie sogar bereits eigene Expeditionen ohne ihn. Es entwickelte sich geradezu zu einer Art Prioritätenwettstreit und Rangelei, sobald es Hreshs Beschützern in die Schädel gedrungen war, wie enorm dessen Renommee gestiegen war, weil er dermaßen oft ‚draußen in der Stadtwildnis‘ auf Expedition gewesen war. Und ab und zu brachten die Burschen dann ja auch irgendein kleines glitzerndes Wunderding aus der Ur-Vorzeit zutage, das sie unter einer umgestürzten Säule hervorgezerrt oder aus einem Wust von Schutt aus einem Untergeschoß herausgebuddelt hatten.
Hresh erhob bei Koshmar gegen diese Praktiken Protest. „Sie haben doch keine Ahnung“, sagte er. „Sie beschädigen möglicherweise die Dinge, die sie finden, wenn ich nicht da bin und die Arbeiten beaufsichtige.“
„Aber sie werden mit der Zeit einen Begriff bekommen“, antwortete Koshmar, „wenn sie erst einmal anfingen, ihren Verstand zu benutzen. Und sie können auch lernen, behutsam mit ihren Funden umzugehen. Diese Stadt ist dermaßen groß, daß wir alle Sucher einsetzen müssen, die wir dazu abstellen können.“ Und nach einer Pause setzte Koshmar hinzu: „Sie brauchen einfach das Gefühl, Hresh, daß sie was Wichtiges tun. Sonst fangen sie an, sich zu langweilen, und werden unruhig, und das brächte uns alle in Gefahr. Ich sage, wir lassen sie ruhig herumstromern, wo sie wollen.“
Hresh mußte sich fügen. Er wußte, wann er sich davor hüten mußte, die Entscheidungen des Häuptlings anzuzweifeln.
Im Laufe der Zeit nahm die Zahl der Sucher zu. Die von Neugier auf die Wunder der Stadt Gepackten waren viele.
An einem Tag, als er gerade mit Orbin die reichen Fundstellen im Yissou Tramassilu Bezirk bearbeitete, stieß Hresh auf ein rätselhaftes kleines Behältnis, das mit raffiniert verschlungenen Ketten gesichert war. Er versuchte es zu öffnen, doch die Verkettung war zu schwierig und zu verschlungen, als daß seine oder Orbins plumpe Mannsfigur sie hätte lösen können. Nein, hier waren die Hände einer Frau, zartere und für solches Werk geeignetere Hände nötig.
Er brachte das Behältnis in die Siedlung zurück und übergab es Taniane, auf daß sie sich damit befasse. Ihre Finger flogen wie wirbelnde Sicheln, und Minuten später hatte sie den Behälter aus der Umhüllung gelöst. Im Innern war nichts weiter als die vertrockneten Knochen eines kleinen Tieres, steinhart, und ein Häuflein grauen Pulvers, das möglicherweise Asche war.
Taniane begab sich zu Koshmar und ersuchte um die Erlaubnis, sich den Suchern anschließen zu dürfen. „Vielleicht finden sie viele Sachen wie diese kleine Kästchen“, sagte sie. „Und sie zerstören sie — oder werfen sie einfach weg. Meine Augen sind schärfer als ihre, und meine Finger sind viel geschickter. Schließlich, alles in allem, sind sie ja bloß Männer.“
„In dem, was du sagst, steckt Sinn“, antwortete Koshmar.
Und sie befahl Hresh, auf seine nächste Expedition Taniane mitzunehmen. Er akzeptierte das mit sehr gemischten Gefühlen. Taniane war in letzter Zeit gewachsen, und sie war seidenglatt und scharfsinnig geworden und hatte ihn auf eine seltsame und beunruhigende Art zu bezaubern begonnen, die er kaum begriff. Wenn sie in seiner Nähe war, empfand er ein rätselhaftes erregendes Wärmegefühl, aber gleichzeitig löste sie in ihm ein starkes Unbehagen aus, und manchmal war ihm in ihrer Nähe dermaßen ungut zumute, daß er es geradezu darauf anlegte, ihr aus dem Weg zu gehen. Aber er nahm sie in seine Suchergruppe auf, weil Koshmar es so befohlen hatte. Gleichzeitig jedoch achtete er sorgsam darauf, daß stets Orbin und Haniman ebenfalls zur Gruppe gehörten, wenn Taniane dabei war. Sie lenkten ihr Interesse ab und verhinderten, daß sie ihm unbequeme Fragen stellen konnte.
Und nach Taniane kam das Mädchen Bonlai an und wollte in die Gruppe der Sucher aufgenommen sein: Wenn Taniane mit hinausziehen durfte, dann ja wohl auch andere Mädchen, nicht wahr, forderte sie. Außerdem bekam sie auf diese Weise die Möglichkeit, in Orbins Nähe zu sein. Hresh vermochte darin keinerlei Vorteil zu erblicken, und diesmal überrundeten seine Argumente Koshmars Entscheidungsvorlieben. Bonlai, erklärte Koshmar bereitwillig, sei noch zu jung, um auf einen Forschungsausflug zu gehen. Leider konnte Hresh in dem Fall Sinistine, der Kopulationspartnerin Jalmuds, mit dem Argument nicht durchdringen, und so wurde sie zur zweiten weiblichen Stammesangehörigen, die sich der Gruppe anschließen durfte.
Kurz darauf ersuchte der schüchterne, völlig unauffällige Jungkrieger Praheurt um Aufnahme in das Forschungsteam, und danach Shatalgit, ein Weib, das gerade das gebärfähige Alter erreicht hatte und nur allzu deutlich sichtbar darauf abzielte, sich mit Praheurt kopulativ zu paaren. Also hatte man inzwischen insgesamt sieben Sucher — fast ein Zehntel des ganzen Stammes auf Achse.
„Also — sieben, das reicht doch bestimmt“, sagte Hresh zu Koshmar. „Bald haben wir keinen mehr, der in den Gemüseplantagen arbeiten will oder sich um die Fleischtiere kümmert, und das ganze Volk stromert in den Ruinen herum.“
Koshmar verzog finster die Stirn. „Sind wir denn hergekommen, um den Acker zu bestellen und Früchte zu ernten. oder um den Geheimnissen der Großen Welt auf die Spur zu kommen, die uns erlauben werden, sie in Besitz zu nehmen?“
„Aber wir haben doch schon eine ganze Menge von den Geheimnissen der Großen Welt entdeckt.“
„Ja, und sie bleiben weiterhin Geheimnisse“, sagte Koshmar scharf. „Du hast keine einzige Maschine bisher beherrschen gelernt.“
Hresh bemühte sich, seinen bitteren Ärger herunterzuschlucken. „Ich arbeite daran! Aber die Geheimwissenschaft der Großen Welt wird uns recht wenig nützen, wenn wir verhungern, während wir uns darum bemühen, wie wir sie für uns nutzbar machen können. Ich glaube, sieben Sucher sind genug.“
„Also schön“, sagte Koshmar.
Die ganze Zeit hindurch gab es nichts Neues von diesem Volk der Behelmten. Harruel ließ es sich besonders angelegen sein, nach ihnen Ausschau zu halten. Er war überzeugt, daß in dem gebirgigen Land über den nordöstlichen Ausläufern der Stadt weitere von diesen Fremdlingen lauerten, und er war gleichfalls fest davon überzeugt, daß sie irgendwann einen Anschlag auf den Stamm planten. Daß es Krieg geben werde, daran zweifelte er nicht im geringsten. Am besten wäre es, wenn sich das Volk sofort total militarisierte: sich durch Wehrübungen und Drill und Marschausbildung auf die künftigen Auseinandersetzungen vorbereitete. Doch keiner im Volk — nicht einmal Koshmar — brachte dafür Interesse auf. Also blieb Harruel vorläufig eine Einmannarmee. Und in Ermangelung von Dienstwilligen übernahm er auch gleich sämtliche Chargen vom Gemeinen bis zum General. Und in seiner Funktion als General schickte er sich selbst tagtäglich als Spähtrupp in die Vengiboneeza überragenden Berghänge.
Anfangs zog er allein los und sagte keinem, wohin er gehe. Den ganzen Tag lang durchstreifte er die Ruinenzonen der Oberstadt bis in die hinter ihnen liegende Wildnis, immer Ausschau haltend nach dem fernen Blitzen von Helmen. Es war ein einsames Werk, aber es gab ihm das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Seitdem sich das Volk in Vengiboneeza niedergelassen hatte, hatte er in dieser Hinsicht eine schmerzliche Leere empfunden.
Nach einiger Zeit erkannte Harruel, daß es töricht war, wenn er allein zu derartigen Patrouillengängen auszog. Wenn die Behelmten zurückkehrten, würden sie ja wahrscheinlich massiert auftreten. Und so stark er auch war, er würde wohl kaum mehr als jeweils zwei oder drei Gegner aufhalten können. Nein, er brauchte einen Gefährten auf seinen Streifzügen, damit im Falle eines Angriffs der andere noch sich davonstehlen und Alarm auslösen könne.
Zuerst versuchte er Konya zu rekrutieren. Immerhin war ja Konya dabeigewesen, als er den ersten Behelmten erwischte. Und Konya begriff, von welcher Art der Feind war, mit dem sie es zu tun hatten.
Doch zu Harruels tiefer Enttäuschung war Konya inzwischen schwer auf dieses widerwärtige Sucherzeug abgefahren, das Hresh sich ausgedacht hatte. Die ganze Zeit steckte er in den Ruinen der Stadt und stöberte nach nutzlosen und unverständlichen Gegenständen, anstatt zu exerzieren und sich zu stählen, wie es sich für den wahren Krieger gehört. Und er gab Harruel außerdem auch noch zu verstehen, daß er beabsichtige, das nicht zu ändern.
„Wenn die Behelmten zurückkommen sollten, werden wir uns schon angemessen um sie kümmern. Kein Grund zu Besorgnis. Wir schicken einfach den Hresh los, und der zerschmettert sie mit seinem Zweiten Gesicht. Aber in der Zwischenzeit bergen wir erstaunliche Dinge aus den Ruinen.“
„Ja, ihr bergt Schutt und Abfall“, sagte Harruel.
Konya zuckte die Achseln. „Hresh meint, sie sind wertvoll. Er sagt, das sind die Schätze aus den Weissagungen, und sie werden uns helfen, die Welt zu beherrschen.“
„Wenn wir von dem Volk der Behelmten niedergemetzelt werden, Konya, werden wir nichts weiter in Besitz nehmen als unser Grab. Komm mit mir und hilf mir, das Grenzland der Stadt zu bewachen, und gib dieses gimpelhafte Graben in nutzlosem närrischen Nichts auf!“
Konya jedoch wollte ihm nicht nachgeben. Harruel dachte flüchtig daran, es ihm zu befehlen, als sein König, daß er ihn auf seinen Wachgängen begleite. Doch dann fiel ihm ein, daß er ja noch nicht König sei und — außer in seinem Hirn — über nichts und niemanden herrsche. Es wäre also vielleicht nicht gerade klug, Konyas Vasallentreue jetzt schon auf eine so schwere Probe zu stellen. Also mochte er ruhig weiter mit Hresh nach diesem Glitzerzeug und Unsinn herumscharren; er würde schon rechtzeitig wieder zur Vernunft zurückfinden.
Der Jungkrieger Sachkor setzte Harruels Überredungskünsten weniger Widerstand entgegen. Das war ein seriöser und pflichtergebener Soldat, ganz ohne den Ehrgeiz, ein Sucher werden zu wollen. Und seit er das Kopulationsalter erreicht hatte — anscheinend hatte er ein Auge auf das Mädchen mit Namen Kreun geworfen —, spähte Sachkor nach einer Möglichkeit, wie er sich im Stamm auszeichnen könne, um Kreuns Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Verbindung mit Harruel war dazu möglicherweise der rechte Weg. Harruel hegte einige Zweifel an Sachkors Vollwertigkeit als Held, denn er war schlank und wirkte nicht übermäßig kräftig; doch immerhin war er schnellen Fußes und mochte sich als Melder nützlich machen.
„Es halten sich Feinde in Verstecken in den Bergen auf“, erklärte Harruel ihm. „Sie haben rote Augen und auf dem Haupt häßliche Helme, und an einem dieser Tage werden sie herabsteigen und uns alle zu ermorden versuchen. Wir müssen darum beständig auf der Hut sein vor ihnen.“
Also begleitete von da an Sachkor an jedem Morgen Harruel hinauf in das Bergland. Er wirkte überglücklich, weil er nun eine bedeutsame Aufgabe zu erfüllen hatte, und manchmal sprudelte er dermaßen vor Übermut über, daß er wild die bewaldeten Hänge in überschwenglich losschnellender Geschwindigkeit hinanpreschte. Harruel, der mächtiger und gewichtiger war und älter und bei weitem nicht so flink an den Füßen, fand dieses Betragen ärgerlich und befahl Sachkor, sich mehr in seiner Nähe zu halten. „Es wäre unklug“, sagte er, „wenn wir beide uns hier draußen voneinander trennten. Bei einem Angriff müssen wir einander beistehen.“
Aber sie wurden niemals angegriffen. Sie sichteten einige seltsame Wildtiere, von denen aber nur wenige feindselige Absichten zu hegen schienen; vom Volk der Behelmten zeigte sich keiner. Dennoch zogen sie jeden Tag auf Spähgang aus. Harruel wurde des ständigen Gebrabbels von Sachkor mehr und mehr überdrüssig, denn dabei handelte es sich vorwiegend um die unentwegte Lobpreisung des dichten dunklen Fells der Jungmaid Kreun und ihrer langen zierlichen Beine. Doch Harruel riß sich zusammen, indem er sich sagte, daß ein Krieger bereit sein müsse jegliche erdenkliche Art Unbill zu ertragen.
Es gelang Harruel, unter den beschäftigungslosen Jungkriegern ein paar weitere Rekruten zu gewinnen: Salaman und Thhrouk. Nittin, der gar kein Krieger war, sondern eher eines von den zur Kopulation bestimmten Mädchen des Volkes, schloß sich ihm gleichfalls an. Er sei es leid, sagte er, seine Tage inmitten einer Säuglingsstation zu verbringen. Und es bestand ja wahrlich auch kein Grund, die altmodische Kastenstruktur hier draußen in der Freiheit fortzusetzen, oder? Anfangs verwirrte solche Rede Harruel, aber nach einigem Nachdenken erkannte er, wie vernünftig Nittins Angebot war. Denn wenn er später einmal mit Koshmar um die Herrschaft über das Volk streiten wollte, würde er die Unterstützung von möglichst vielen Fraktionen im Stamm brauchen. Und Nittin, mit seinen Verbindungen zu den Weibern und zu weiteren Zuchtmännern, tat da neue Möglichkeiten auf.
Ein Versuch, auch Staip zu rekrutieren, führte allerdings ins Leere. Staip, ein halbes Jahr älter als Harruel, war stark und zuverlässig, aber ein irgendwie farbloser Mann, und Harruel erschien es, als besitze er überhaupt keinen Funken von Kämpferseele. Er tat, was ihm aufgetragen ward. und ansonsten tat er gar nichts. Aus eben diesem Grunde hatte Harruel geglaubt, ihn leicht für sich einnehmen zu können; aber als er dann mit Staip sprach und den behelmten Mann erwähnte, die Bedrohung, die dieser darstelle, starrte Staip ihn nur begriffsstutzig an und sagte: „Aber der ist doch tot, Harruel.“
„Das war nur der erste von denen. Aber da stecken mehr von denen in den Bergen und lauern nur darauf, über uns herzufallen.“
„Meinst du wirklich, Harruel?“ fragte Staip gleichgültig.
Er konnte — oder wollte — nicht begreifen, wie wichtiges war, beständige Patrouillen durchzuführen; und nach einigem Hin und Her hob Harruel erzürnt die Hände gen Himmel und ließ den Mann einfach stehen.
Bei Lakkamai, dem vierten Seniorkrieger, widerfuhr Harruel ähnliche Widerwärtigkeit. Der wortkarge, übellaunige Lakkamai schien kaum zuzuhören, als Harruel ihn anging. Ungeduldig fiel er ihm ins Wort, noch ehe Harruel mit seinem Spruch zu Ende war. „Das geht mich nichts an. Ich werde nicht mit dir in den Bergen herumkraxeln, Harruel.“
„Aber wenn sich dort der Feind versteckt hält und darauf lauert, uns Böses zu tun?“
„Der einzige Feind sitzt in deinem verwirrten Hirn“, sagte Lakkamai. „Mich laß in Frieden. Ich habe eigene Aufgaben, die ich erfüllen muß, und zwar hier in der Stadt.“
Und Lakkamai ging davon. Harruel spuckte hinter ihm drein. Eigene Aufgaben, pah! Was konnte von höherer Wichtigkeit sein als die Verteidigung des Stammes? Aber Lakkamai, soviel war klar, würde sich nicht herumkriegen lassen, ebenso wenig noch weitere von den älteren Männern. Es sah also so aus, daß nur die Jungmänner bereit sein würden, sich dem hehren Heldentum zu verpflichten, jene, die noch voller voranstrebender Säfte steckten und nicht wußten, worauf sie ihren Ehrgeiz lenken sollten. Nun, so sei es denn, dachte Harruel. Genau die werde ich brauchen können, wenn ich mich anschicke, mein neues Königtum zu errichten, sie, und nicht Staip, nicht Lakkamai, ja nicht einmal Konya.
Koshmar war indessen kundig geworden, daß tagtäglich mehrere Männer unter Harruels Führung zu geheimnisvollen Ausflügen ins Bergland aufbrachen. Also ließ sie ihn rufen und verlangte eine Erklärung von ihm.
Harruel erläuterte genau, was er getan habe und warum, und er machte sich auf eine hitzige Auseinandersetzung bereit.
Zu seiner Verblüffung erfolgte keine. Koshmar nickte nur ruhig und sprach: „Du hast uns guten Dienst geleistet, Harruel. Dies Volk der Behelmten ist vielleicht die größte Gefahr, die uns droht.“
„Wir werden die Streifzüge fortsetzen, Koshmar?“
„Ja. Ja, das sollte man unbedingt. Vielleicht werden sich einige der anderen Männer anschließen wollen. Das einzige, worauf ich bestehe“, sagte sie, „wenn du künftig derlei Sachen organisierst, wirst du mich bitte vorher unterrichten, was du vorhast. Es gibt da nämlich ein paar im Volk, die vermuten, du bildest dir da vielleicht in den Bergen eine Privatarmee aus und hast vor, uns anzugreifen, um — wer weiß? — uns deinen Willen auf zuzwingen.“
Harruel erwiderte mit wütendem Augenfunkeln: „Den Stamm angreifen? Aber das wäre doch Wahnwitz, Koshmar!“
„Eben. Genau dies dachte auch ich.“
„Sag mir, wer derartige Lügen über mich verbreitet! Ich will ihm die Haut abziehen und sie ausstopfen lassen! Ich werde ihn zu einem Fußschemel machen! Ein eigenes Heer? Um den Stamm anzugreifen? — Götter! Wer ist der lästerliche Leumundschänder?“
Koshmar sagte: „Ach, es war weiter nichts als törichtes Getuschel, nichts weiter als Vermutungen. Als man es vor mich brachte, konnte ich nur lachen, und dann mußte auch der Tratscher lachen und eingestehen, daß für eine solche ungeheuerliche Sache wenig Wahrscheinlichkeit spreche. Keiner hat deine Ehre angetastet, Harruel. Niemand zweifelt an deiner Treue. Also geh denn nun und schare deine Mannen um dich, und dann nehmt eure Patrouillen wieder auf. Du erweist uns eilen damit einen großen Dienst.“
Harruel trat ab. Er fragte sich, wer solche Gedanken in Koshmars Kopf geflüstert haben mochte.
Konya war der einzige, zu dem er jemals über seinen ehrgeizigen Plan gesprochen hatte, Koshmar aus der Stammesherrschaft zu vertreiben und selbst unter dem Titel eines Königs die Herrschaft über das Volk anzutreten. Und Konya hatte sich geweigert, an den Streifzügen teilzunehmen. Dennoch, Harruel vermochte es einfach nicht zu glauben, daß Konya ihn verraten haben könnte. Es war unmöglich.
Also? Wer dann?
Hresh?
Da hatte es einmal vor langer Zeit, erinnerte Harruel sich, diesen Vorfall gegeben, als Hresh gerade frisch zum Chronisten ernannt worden war, und er, Harruel, mit seinen Fragen über die geschichtliche Bedeutung der Königherrschaft an den Knaben herangetreten war. Hinterher war er zu der Überzeugung gelangt, daß es gefährlich sein könnte, Hreshs Aufmerksamkeit zu stark auf derlei Dinge zu lenken, und er hatte die Sache dem Jungen gegenüber nie wieder angeschnitten. Aber dieser Hresh verfügte über einen eigenartigen Verstand, einen brütenden Verstand, in dem die Dinge lange keimten und reiften, bis er die tieferen Zusammenhänge zwischen ihnen knüpfte.
War es aber Hresh, der Koshmar den Gedanken des Argwohns ins Ohr geflüstert hatte, so sah Harruel derzeit nicht, was er dagegen unternehmen könnte. Vernünftig wäre es allerdings, Hresh von nun an als einen Feind zu betrachten und sich dementsprechend zu verhalten. Aber die Zeit war noch nicht gekommen, sich ihm offen entgegenzustellen. Zuerst mußte alles klar durchdacht werden. Jedenfalls, man mußte sich vor diesem kleinen Hresh hüten: er war viel zu scharfsinnig, er sah die Dinge viel zu klar. und er verfügte über große Macht.
Es fuhr Harruel auch durch den Sinn, daß Koshmar vielleicht nur darum seine täglichen Streifzüge vor die Stadt so freundlich begrüßte, weil er ihr auf diese Weise nicht in die Quere geraten konnte. Solange er sich halbe Tage lang in den Vorbergen herumtrieb, stellte er in der Siedlung keine Bedrohung ihrer Autorität dar. Vielleicht glaubte sie, daß das äußerst nett seinerseits sei.
Und so zog Harruel weiter Tag um Tag hinaus, gewöhnlich in Begleitung von Nittin oder Salaman, seltener der Sachkors. Irgendwie war ihm die Geduld abhanden gekommen, sich unablässig anhören zu müssen, wie wundervoll und wunderschön die von Sachkor geliebte Kreun war.
Das Volk der Behelmten blieb weiterhin unsichtbar. Widerwillig begann Harruel mit dem Gedanken zu spielen, daß es ‚den Feind‘ vielleicht überhaupt nicht gebe. Womöglich war dieser erste Späher ein Einzelgänger gewesen, ein weitab allein und fern von seinem Volke umherstreifender Wanderer. Oder vielleicht hatten ihn die Helmträger auf dem Durchmarsch in der Nähe Vengiboneezas, das sie als bereits besiedelt von Koshmars Stamm erkannten, vorgeschickt, auf daß er herausfinde, wie man ihn empfangen würde; und als er dann nicht zurückkehrte, waren die Helmleute einfach weitergezogen.
Der Gedanke war nur schwer zu schlucken. Harruell hoffte, das Volk der Behelmten möge sich zeigen und möglichst auf Zwist und Kampf aus sein. Oder wenn schon nicht die Behelmten, dann eben irgendein anderer Feind — jeder, aber wirklich jeder beliebige Feind wäre ihm recht gewesen. Dieses satte, friedliche Stadtleben hatte ihn von den Fußsohlen bis zu den Haarwurzeln auf seinem Schädel, ja bis ins Mark seiner Knochen mit Unrast erfüllt. Wirklich, es schmerzte ihn bis ins Mark. Er sehnte sich nach einem richtig schönen fröhlichen Schlachtgemetzel, nach einem heftigen ausgedehnten Krieg.
Im Verlauf dieser spannungsgeladenen Periode eines ungestörten Friedens legte sich Harruels Kopulationspartnerin, Minbain, nieder und wurde von einem kräftigen, prächtigen männlichen Kind entbunden. Es gefiel ihm, daß er Vater eines Sohnes geworden war. Hresh wurde gerufen und vollzog das Namensritual. Und Hresh verlieh seinem neuen Halbbruder den Namen des Samnibolon, was Harruel ganz und gar nicht gefiel, denn Samnibolon war der Name des früheren Kopulationspartners der Minbain gewesen, Hreshs leiblichen Vaters. In gewisser Weise kam Harruel sich betrogen und geleimt vor, daß dieser Name in Verbindung mit seinem eigenen leiblichen Sohn ins Stammesregister zurückkehren sollte.
Und Hresh ist es, der mir dies angetan hat, dachte er grimmig.
Jedoch, der Alte Mann des Stammes hatte den Namen in Gegenwart der Eltern ausgesprochen und vor der Opferfrau, also war dieser Name nicht rückgängig zu machen. Samnibolon-Sohn-des-Harruel, so würde es von nun an heißen. Aber den Göttern sei gedankt, es war nur der Geburtsname. Der Knabe würde sich, wenn in neun Jahren sein Benamungstag kam, selbst seinen Dauernamen wählen, und Harruel wollte es sich gewißlich zur Aufgabe machen, daß der Name ein anderer sein sollte. Dennoch, neun Jahre, das war eine lange Zeit, wenn du deinen Erstgeborenen bei einem Namen rufen mußt, der dir im Mund wie eine vorwurfsvolle Bitternis aufquillt. Harruel gelobte sich insgeheim, daß er Hresh dies eines Tages auf irgendeine Weise heimzahlen werde.
Es war eine schwere Zeit für Harruel: Mond über Mond in friedlicher Folge — und dann, ein Sohn geboren, und er bekommt einen widerwärtigen Taufhamen. Grämlicher Ärger kochte brodelnd in Harruels Herzen.
Nicht lange würde es währen, bis das Gift im Kessel überkochte.
Es ergaben sich kaum triumphale Erfolge, aber viele Mißgeschicke im Verlaufe der Bemühungen Hreshs, die Fundsachen zu begreifen, die er in den Ruinen Vengiboneezas ausgegraben hatte.
Die Leute der Großen Welt — oder die Mechanischen, die für sie als Handwerker und Instrumentenbauer gearbeitet hatten — waren offenbar bestrebt gewesen, ihre Geräte und Apparaturen für die Ewigkeit zu bauen. Manche von diesen waren einfache Konstruktionen, verschiedenfarbige Metallstreifen in raffinierten Mustern angeordnet. Es gab nur wenige Anzeichen von Rost oder andere Abnutzungs- und Zerfallsmerkmale. Oft waren kostbare Steine eingelagert, die anscheinend Teile der Mechanik und nicht pure Schmuckstücke waren.
Manchmal bereitete es überhaupt keine Schwierigkeit, die Apparate zum Funktionieren zu bringen. Einige wenige besaßen kompliziert angeordnete Druckpunkte und Hebel, doch die meisten hatten nur aller-simpelste Kontrollpaneele, wenn überhaupt. Wie aber sollte man wissen, welche Funktion eine Schaltung zu erfüllen hatte? Oder welche Katastrophe man auslösen könnte, wenn man sie auf falsche Weise betätigte?
Die anfänglichen Experimente, die Hresh durchführte, endeten in der Mehrzahl mit kleineren Katastrophen und selten erfolgreich. Da war etwa dieses Instrument — nicht länger als sein Arm —, das sofort nachdem er einen kupfernen Knubbel an seiner Schauze berührt hatte, damit begann, ein Netz zu weben. Mit märchenhafter Geschwindigkeit spuckte es feine klebrige, fast unzerreißbare Fäden aus seiner Schnauze und schoß sie in wilden Schleifen dreißig Schritt weit umher. Sobald er sah, was passierte, ließ Hresh zwar den Kontrollknopf los, aber inzwischen hatte er Sinistine, Praheurt und Haniman in einem festen Netz dieses Stoffes gefangen. Es dauerte Stunden, bis man sie wieder daraus losgeschnitten hatte, und Tage, ehe ihr Fell wieder völlig sauber war.
Ein anderer Apparat, den er zum Glück fern von Leuten und draußen im Tempelhof ausprobierte, schien Erde in Luft verwandeln zu können. Mit einem raschen Feuerstoß schnitt Hresh eine Grube aus dem Grund, die hundert Schritt breit und fünfzehn Schritt tief war, und es blieb nichts übrig von dem, was sich da zuvor befunden hatte — außer einem schwachen Brandgeruch. Vielleicht hatte der Apparat dazu gedient, Gelände zu roden, oder vielleicht war es eine Waffe. Voll Abscheu versteckte Hresh das Ding, wo es wohl kaum jemand je wieder würde finden können.
Eine lange schmale Schachtel mit kantigen Auswüchsen längs der Flanken entpuppte sich als Brückenbaumaschine. In den fünf Minuten, ehe es Hresh in verzweifeltem Bemühen gelang, das Ding abzuschalten, erbaute die Maschine eine bizarre Schwebebrücke vom Nichts ins Nichts, die mitten in der Luft endete, aber eine ganze Hauptstraße der Stadt ausfüllte. Als Baumaterial verwendete das Ding eine steinähnliche Substanz, die es — anscheinend — aus dem Nichts heraus produzierte. Eine ähnlich aussehende Maschine erwies sich als Mauernbauer: Mit dem gleichen aberwitzigen Eifer wie die Brückenbauerin begann sie auf Knopfdruck, willkürlich in der Straße hohe Wände zu errichten. Hresh griff auf seine Grabmaschine zurück, um die Brücke und die Wände wieder zu beseitigen; doch trotz aller Behutsamkeit eliminierte er gleichzeitig auch drei Häuser der Avenue. Er hoffte, daß sie ohne Bedeutung gewesen sein mochten.
Und dann gab es da Gerätschaften, die überhaupt nicht zum Funktionieren bewegt werden konnten — und das waren leider die meisten —, und dann die anderen, die so gemein und hinterhältig und fragwürdig aussahen, daß es ihm als überstürzt erschienen wäre, sie jetzt schon überhaupt auszuprobieren. Diese legte Hresh beiseite, bis zu dem Tag, an dem er vielleicht etwas genauer wissen würde, was er tat.
Und dann gab es die Apparate, die bereitwillig einmal funktionierten und sich danach selbst zerstörten. Diesen Typ fand er von allen am widerwärtigsten und ärgerlichsten.
Ein solches Ding baute eine Sternkarte auf: eine weiche dunkle Kugel, vielleicht dreimal von der Länge eines Mannsleibes. Und auf ihrer Oberfläche waren sämtliche Himmelssterne in funkelnder Pracht aufgezeichnet. Während man sie noch ansah, bewegten sie sich; und wenn man mit einem Lichtspeer, der aus dem Apparat kam, auf einen der Sterne zeigte, ertönte eine Stimme und gab einen einzigen feierlichen Laut von sich, den Hresh für den Namen des betreffenden Sternes in der Sprache der Großen Welt hielt. Staunend und ehrfürchtig starrte er die Maschine an. Doch fünf Minuten später stiegen sich kräuselnde Rauchfäden von ihr auf, und die funkelnde Heerschar der Sterne verschwand von einem Augenblick zum andern, und Hresh saß da und empfand einen atembeklemmenden Schmerz wie bei einem unabänderlichen Verlust. Nie wieder gelang es ihm, diesen Apparat zur Funktion zu erwecken.
Ein anderes Gerät spielte Musik: eine tumultartige, das Firmament erfüllende Musik voller dumpfer klirrender Melodien, die jedermann im Stamm zusammenlaufen ließ, als wären die Götter über Vengiboneeza hereingebrochen und spielten im Wettstreit auf ihren Instrumenten. Auch dieses Gerät gab, kurz nachdem es zu funktionieren begonnen hatte, rauchend seinen Geist auf.
Ferner gab es ein Gerät, das mit Lettern aus goldenem Feuer eine unverständliche Botschaft in den Himmel schrieb. Sekunden darauf verröchelte die Maschine mit einem traurigen leisen Seufzer, und der Wind verwehte die merkwürdig kantige wilde Schrift.
„Wir zerstören viel und lernen dabei nur wenig Wissenswertes“, sagte Hresh bedrückt zu Taniane eines Tages, als drei solche Katastrophen sich ereigneten. Doch Vengiboneeza erwies sich als unglaublich reich bestücktes Lagerhaus für Kunstwerke und Relikte aus der Großen Welt. Nahezu Tag für Tag brachten die Sucher neue Schätze heran. Es war eine Schande und ein Jammer, auch nur einen davon sinnlos zu verschwenden, das wußte Hresh. Jedoch vielleicht gehörte eine gewisse Zerstörung unvermeidlich zum Lernprozeß. Er mußte einfach mit seinen Experimenten fortfahren — ungeachtet der Verluste und der Risiken. Es war seine Aufgabe. Und das Schicksal des Stammes stand auf dem Spiel. Und möglicherweise sein ganz persönliches Geschick gleichfalls: denn er war an seinen Platz gestellt, nicht bloßes merkwürdiges Spielzeug zu entdecken, sondern die Geheimnisse, vermittels derer sein Volk über die Erde herrschen sollte.
Die warme feuchte Jahreszeit kehrte wieder. Dies war der Winter, und als die kühlen östlichen Winde sich legten und die schweren Regenfälle begannen, machte Torlyri sich auf, um das Winter-Opfer darzubringen. Tag um Tag hing die Sonne tief am Himmel, weswegen Hresh diese Jahreszeit ‚Winter‘ genannt hatte; doch Torlyri kam dies seltsam vor, denn die Witterung war doch so mild. Winter, das sollte doch eigentlich die kalte Jahreszeit sein. Sie hatten sie doch „Winter“ genannt, diese bitterböse gerade zu Ende gegangene Zeit, den Langen Winter der Welt, in dem alles erstarrte und alles Lebendige hatte fliehen und Schutz suchen müssen.
Doch Torlyri begriff mehr und mehr, daß ein Unterschied bestand zwischen dem Langen Winter und einem ganz gewöhnlichen Winter. Es gab also Große Zyklen und kleinere. Der Lange Winter war die dunkle Weltkatastrophe gewesen, bewirkt von den stürzenden Todessternen, deren Staub und Rauch am Himmel die Strahlen der Sonne fernhielt, so daß eine grausame Kälte sich über die Welt senkte; aber dies war ein Ereignis der Großzyklen gewesen, die unendliche Zeiträume umfaßten und in langen, weit auseinander liegenden Intervallen Verderben brachten. Herabgesandt aus den fernen Himmeln, und alle Welt war davor auf die Knie gefallen. Nun würden Millionen Jahre verstreichen, ehe derlei sich erneut ereignete. Ganze Äonen des Lebens würden entstehen und wieder vergehen und keine Erinnerung haben an den letzten Langen Winter des Großzyklus und würden nichts wissen von der nächsten Katastrophe in einer fernen Zukunft.
Aber der gewöhnliche Winter war weiter nichts als eine der Jahreszeiten des Kleinzyklus. Und er konnte sich von einem Ort auf der Erde zum anderen stark unterscheiden. Hresh hatte ihr erklärt, was die Jahreszeiten verursachte, allerdings hatte sie noch immer eine recht verschwommene Vorstellung von dem Ganzen. Es hing irgendwie mit dem Lauf der Sonne um die Erde zusammen — oder mit dem der Erde um die Sonne, sie war nicht sicher, was von beidem. Es kam eine Jahreszeit, in der die Sonne kaum über den Horizont emporstieg, und das war der Winter. Im allgemeinen war Winter kalt — und er war es gewißlich gewesen, als sie die weiten Ebenen durchquerten, damals im ersten Jahr —, doch an bestimmten vom Glück begünstigten Orten war der Winter sanft und mild. Und hier war ein solcher Ort. Und darum hatten die Saphiräugigen, die Kälte schlecht vertrugen, hier ihre Große Stadt zu errichten beschlossen, vor langer, langer Zeit, ehe die Todessterne kamen.
Und so kreisten die Jahreszeiten. Wir haben wieder Winter, dachte Torlyri, unseren warmen feuchten vengiboneezischen Winter. Und die Zeit vergeht, und wir werden alle älter.
Der Stamm wuchs sehr rasch an Zahl. Es lebten noch alle, die mit dem Großen Treck aus dem Kokon Vengiboneeza erreicht hatten, und die Siedlung wimmelte inzwischen von neugeborenen Kindern. Die vordem Kinder gewesen waren, wuchsen ihrer Reife entgegen. Taniane, Hresh, Orbin, Haniman — sie waren fast schon alt genug für die Einweihung in die Mysterien des Tvinnr. Und wenig später würden sie Kopulationspartner wählen. Und selbst Kinder haben.
Torlyri dachte darüber nach, wie das sein mochte, selbst ein Kind zu haben. Zu fühlen, wie Tag um Tag das Leben in einem wächst. Wie es pulsiert. Nach außen drängt. Und wie es wäre, wenn sie dann, sobald ihre Zeit gekommen war, da zwischen den Weibern zu liegen und die Beine zu breiten, damit dieses neue Leben herauskönne.
Als sie noch ein Mädchen war, hatte sie sich nie viele Gedanken über Kopulation oder Mutterschaft gemacht. Doch seit mindestens einem Jahr spielte sie nun mit der Vorstellung herum. Hier und jetzt in diesem Neuen Frühling war dies auch keineswegs ein absonderlicher Gedanke. Seit der Sittenreform hatte es im Volk eine Unzahl neuer Kopulationspartnerschaften gegeben, und nahezu alle, die sich bislang noch nicht kopulativ gebunden hatten, hatten doch immerhin mit der Vorstellung geliebäugelt. Sogar Koshmar hatte gewitzelt über Torlyris plötzliche neckische Verspieltheit gegenüber diesem oder jenem Mann. Aber Koshmar schien sich keine ernsthaften Sorgen zu machen. Es war nicht Brauch, daß die Opferfrau sich einen Kopulationspartner wählte; und was den Kopulationsakt selbst anging, so wußte Koshmar ja, daß Torlyri daran nie ein besonders großes Interesse gehabt hatte.
Torlyris Erwählung zur nächsten Opferfrau war früh erfolgt, als sie kaum über die Mädchenjahre hinaus war. Das war unter der Häuptlingsschaft Themurs und der Zeit Gonnaris als Opferpriesterin gewesen. Diese beiden waren praktisch gleichaltrig gewesen, mußten also das Grenzalter gleichzeitig, mit nur einem Monat Abstand, erreichen und durch die Schleuse schreiten. Thekmur erwählte sich Koshmar als Nachfolgerin, und Gonnaris Wahl fiel auf Torlyri. Im Verlauf der folgenden fünf Jahre hatten sich Koshmar und Torlyri, die bereits Tvinnr-Partner waren, der Ausbildung für die großen Aufgaben unterzogen, die ihrer harrten; und dann waren für Thekmur und Gonnari deren Todestage gekommen, und für Koshmar und Torlyri war das Leben schlagartig und endgültig verändert.
Das war nun zwölf Jahre her. Torlyri war zweiunddreißig Jahre alt, fast dreiunddreißig. Wenn man noch im Kokon lebte, würde ihr eigener Todestag nur wenige Jahre entfernt sein und sie würde bereits eifrig ihre Nachfolgerin heranbilden. Aber niemand sprach mehr von Grenzalter oder Todestagen. Torlyri würde die Opferpriesterin bleiben, bis ihr natürlicher Tod zu ihr kam und sie hinwegnahm. Und sie dachte — anstatt ans lästige Sterben — an Liebeswerben.
Seltsam! Sehr seltsam!
Ab und zu hatte sie ein paar Kopulationsversuche unternommen — das taten fast alle, selbst jene, die ihrem Entwurf und ihrer Struktur nach nicht für die Fortpflanzung bestimmt waren —, aber Torlyri hatte derlei nicht sehr oft getan und nun schon seit langer Zeit nicht mehr. Angeblich war die Sache mit hoher.Lust verbunden, doch ihr war es nie gelungen, diese dabei zu finden. Übrigens auch kein Unbehagen: sie hatte es nur als etwas Beiläufiges betrachtet und erlebt, einen gewissen Bewegungsablauf, den man mit dem Körper durchführte, etwa so befriedigend wie Fußboxen oder Handlaufen, vielleicht nicht einmal dies.
Ihre erste Erfahrung hatte sie mit vierzehn gemacht, kurz nach ihrem Tvinnr-Tag, also im üblichen Alter für solcherart Initiationen. Ihr Partner war Samnibolon, der später Minbains Kopulationspartner werden sollte. Er machte sich in einem abgeschiedenen Winkel des Kokons an sie heran und winkte ihr zu und hielt sie fest und streichelte ihren dunklen Pelz, bis sie schließlich begriff, was er vorhatte. Es schien daran nichts Böses. Also tat sie, wie sie es bei älteren Frauen gesehen hatte, und öffnete sich ihm und ließ ihn seine steife Kopulationsrute in sie schieben. Er bewegte sie rasch her und hin, und sie rollten irgendwie ineinander verstrickt herum, und irgendeine plötzliche Eingebung befahl ihr, die Beine anzuziehen und ihre Knie gegen seine Flanken zu pressen, was ihm sehr zu gefallen schien. Und nach einer Weile schnaufte er grunzend und ließ sie wieder los. Dann lagen sie still einige Zeit im Arm des Andern, Samnibolon redete auf sie ein, wie schön sie sei und was für eine leidenschaftliche Frau sie werden würde. Und damit hatte es sich. Er kam ihr nie wieder zu nahe. Wenig später wurden Minbain und er Kopulationspartner.
Ein, zwei Jahre darauf zog sie der alte Krieger Binigav beiseite und bat sie, mit ihm zu kopulieren; und da er freundlich war und außerdem schon dem Grenzalter nahegerückt, tat sie ihm den Gefallen. Er war sanft, zärtlich und behutsam mit ihr, und nachdem er in sie eingedrungen war, verhielt er dort eine lange Zeit; sie aber verspürte weiter nichts als eine milde Wärme, aber wenig aufregend.
Das drittemal war mit Moarn, dem Vater jenes Moarn, der nun Stammeskrieger war. Moarn war bereits partnerschaftlich kopulationsverbunden, und deshalb überraschte es Torlyri, als er nach einem Fest nach ihr griff. Er hatte zu viel vom Samtbeerwein getrunken, und sie gleichfalls. Sie begrapschten und befummelten einander und umarmten sich. Torlyri war sich später nie ganz sicher, ob sie tatsächlich kopuliert hatten oder nicht: sie erinnerte sich, daß es da gewisse Schwierigkeiten gegeben hatte. Doch wie immer, es bedeutete kaum einen Unterschied. Auf jeden Fall war es kein buchenswertes Erlebnis gewesen. Und das war die Liste ihrer drei Kopulationserfahrungen: Samnibolon, Binigav und Moarn. Alle drei Männer waren schon lange tot; und sie — sobald sie in ihrem achtzehnten Jahr zur nächsten Opferfrau erwählt war — hatte nie wieder den Versuch unternommen, diesen Lebensbereich zu erforschen.
Doch nun. aber jetzt.
Seit Wochen schon hatte Lakkamai sie so seltsam angestarrt. Dieser stille, verschlossene, abweisende Mann, was bewegte er in seinem Kopf? Noch nie hatte jemand sie dermaßen fest angestarrt. In seinen grauen Augen leuchteten helle grüne Flecken, und das ließ ihn geheimnisvoll, unergründlich erscheinen. Es war, als versuche er, tief in ihre Seele hinabzublicken.
Jedesmal wenn sie sich plötzlich umschaute, stand da etwas entfernt Lakkamai und blickte sie an. Und dann wandte er stets hastig den Blick und gab vor, mit etwas, mit irgend etwas beschäftigt zu sein. Manchmal lächelte sie ihm zu. Manchmal aber kehrte sie ihm einfach den Rücken zu; und wenn sie sich ihm dann erneut zuwandte, fünf oder zehn Minuten später, stand er wieder da und starrte sie an.
Allmählich begriff sie.
Sie ertappte sich oft dabei, daß sie nun ihrerseits zu Lakkamai hinüberschaute, um zu sehen, ob er zu ihr herüberblickte. Und dann ertappte sie sich dabei, daß sie Lakkamai anschaute, einfach um des Vergnügens willen, ihn anzuschauen, sogar wenn er ihr den Rücken zukehrte.
Er war so geschmeidig und graziös und dabei doch auch stark; nicht kräftig in der dickfleischigen Art von Harruel, sondern ausgestattet mit einer drahtigen, federnden Kraft, die sie an jenen armen Behelmten erinnerte, der beim Verhör durch Koshmar und Hresh gestorben war. Lakkamai war einer der ältesten Männer im Stamm, ein langgedienter Krieger, doch sein Fell, ein satter brauner und bläulichroter Pelz, zeigte noch keine Spur von Grau. Sein Gesicht war lang, Kinn und Kiefer kantig und scharf vorspringend, die Augen tief in den Höhlen liegend. In allen seinen Lebenstagen hatte er nur wenig Worte gemacht. So klein der Stamm war, so familiär und vertraulich das Dasein im Kokon gewesen war, Torlyri hatte nun das Gefühl, daß sie diesen Mann kaum kenne.
Eines Nachts träumte ihr, daß sie sich mit ihm kopulativ vereinte.
Das kam völlig überraschend für sie. Denn tatsächlich lag sie neben Koshmar auf dem Lager. Zufällig hatten sie am Abend getvinnert, zum erstenmal seit vielen Wochen. Ihre Seele hätte also von Koshmar ganz erfüllt sein müssen, während sie schlief. Statt dessen kam Lakkamai zu ihr, stand stumm über ihr und betrachtete sie eindringlich. Und sie hatte ihn zu sich gewinkt und ihn an ihre Seite niedergezogen — er schien neben sie zu schweben —, und Koshmar verschwand und es waren nur noch sie beide auf der Schlafmatte, und Lakkamai war in ihr, und sie fühlte eine plötzliche Hitze in ihrem Leib und wußte, daß er ihr ein Kind gemacht hatte.
Keuchend erwachte sie und saß dann bebend da.
„Was ist denn?“ fragte Koshmar sogleich. „Ein Traum, war es ein Traum?“
Torlyri schüttelte den Kopf. „Nur ein flüchtiges Frösteln“, sagte sie. „Ein Winterhauch, der mir übers Gesicht huschte.“
Noch nie zuvor hatte sie Koshmar belogen.
Aber es hatte sie auch nie zuvor nach einem Mann verlangt.
Als Torlyri am nächsten Tag Lakkamai vor dem Tempel begegnete, vermochte sie seinem Blick nicht standzuhalten, so mächtig war das Gefühl in ihr, daß sie in der verflossenen Nacht sich wahrhaftig mit ihm gepaart hatte. Und wenn dieser Traum dermaßen lebendig für sie gewesen war, dann mußte doch auch er ihn gefühlt haben. Ihr schien, er müsse bereits alles von ihr wissen, wie sich ihre Brüste unter seinen Händen anfühlten, wie ihr Mund schmeckte, wie ihr Atem roch; und trotz ihres Alters kam sich Torlyri plötzlich wie ein ganz junges Mädchen vor, und ein recht törichtes überdies.
In der folgenden Nacht träumte sie er erneut von Lakkamai. Sie keuchte und stöhnte und zuckte in seinen Armen, und als sie erwachte, starrte Koshmar sie mit hellwachen Augen durch die Finsternis an, als fürchte sie, Torlyri sei dabei, den Verstand zu verlieren.
Und in der dritten Nacht kehrte der Traum erneut wieder, und er war sogar noch lebendiger. Sie vollzog Dinge mit Lakkamai, die sie andere niemals bei der Kopulation hatte tun sehen, von denen sie sich nie auch nur hätte vorstellen können, daß jemand auf sie verfallen könnte; und diese Dinge bereiteten ihr eine höchste und schärfste Lust.
Sie vermochte das nicht länger zu ertragen.
Am nächsten Morgen setzten die Regengüsse, die viele Wochen lang über der Stadt niedergeprasselt waren, endlich aus, und ein klarer blauer Winterhimmel brach wie ein Trompetenstoß durch die Wolkendecke. Torlyri vollzog das Sonnenaufgangsopfer wie gewohnt; und danach begab sie sich äußerst ruhig und gelassen zu dem Haus, in dem die invermählten Krieger lebten. An der Hausecke auf der Veranda hing ein Käfig mit drei kleinen scharfäugigen schwarzen Geschöpfen darinnen, die von den Kriegern gefangen worden waren und nun immer rund und rund im Kreis herumliefen und zornige grelle hohe Töne ausstießen. Torlyri schenkte ihnen ein trauriges mitleidvolles Lächeln.
Lakkamai stand vor dem Haus, als habe er sie erwartet. Schweigsam wie stets, scheinbar ganz gelassen, lehnte er an der Wand und schaute sie an, während sie auf ihn zukam. Die kühlen festen Augen hatten nichts mehr von dem heftigen fragenden Starren, mit dem er sie in jüngerer Zeit so oft angeblickt hatte. Aber ein Winkel seines Mundes bewegte sich mehrmals kurz und zuckend und verriet so seine innere Gespanntheit. Er schien sich dessen nicht bewußt zu sein.
„Komm“, sagte Torlyri leise. „Komm und spaziere mit mir. Die Regen haben nachgelassen.“
Lakkamai nickte. Seite an Seite machten sie sich auf, ließen jedoch dabei soviel Platz zwischen sich, daß der breite Harruel leicht zwischen ihnen hätte gehen können. An den Behausungen des Stammes vorbei schritten sie, vorbei am Tor zum sechseckigen Turm aus Purpurstein, der nun der Tempel war, vorüber an dem Garten mit Büschen und Blütenpflanzen, den Boldirinthe und Galihine und ein paar andere so eifrig pflegten, und vorbei an dem schimmernden Teich aus rosa Strahlung, der einst die Lust der Saphiräugigen gewesen war. Keiner sprach ein Wort. Sie blickten fest geradeaus. Torlyri hatte das Gefühl, aus dem Augenwinkel kurz Hresh zu sehen. Konya, Taniane, ja vielleicht sogar Koshmar, während sie so dahinschritten. Doch keiner rief sie an, und sie bewegte den Kopf nicht, um jemanden genauer zu erkennen.
Jenseits des Gartens der Frauen und des Lichterteichs der Saphiräugigen befand sich ein weiterer Garten, ein verwilderter, ungepflegter, wo über einem dichten Teppich von bläulichem Moos Schlingreben und krummästige Bäume und fremdartige prallbäuchige, schwarzblättrige Gesträuche in aberwitziger Üppigkeit wuchsen. Hierhin setzte Torlyri den Fuß, und Lakkamai ging neben ihr, doch nun etwas näher. Noch immer sagte keiner ein Wort. Sie gingen vielleicht zwei Dutzend Schritte weiter, bis sie an eine Stelle kamen, wo das Unterholz sich lichtete und fast eine Art Laubhütte bildete. Hier wandte sich Torlyri lächelnd Lakkamai zu; und er legte ihr die Hände auf die Schultern, wie um sie mit sich auf das Moos herabzuziehen, aber da war kein Ziehen nötig. Wie ein Leib sanken sie zu Boden.
Sie hätte nicht sagen können, ob er in sie eindrang oder ob sie sich hüllend um ihn schmiegte; jedenfalls preßten sie sich plötzlich dicht gegeneinander, und ihre Leiber vereinten sich. Das Moos unter ihnen gab ein leises Seufzen von sich. Es war sattgetränkt von den vielen Regentagen, und Torlyri stellte sich vor, daß durch ihrer beider Bewegungen das Wasser in die kleine flache Mulde gepreßt werde, in der sie lagen, so daß sich um sie herum allmählich ein kleiner Teich bildete. Ihr sollte es lieb sein. Mit Wonne wollte sie in diese weiche Wärme tauchen.
Lakkamai bewegte sich in ihr. Und sie klammerte sich an ihn und krallte sich in die kantigen Muskeln unter dem dicken Fell auf seinem Rücken.
Es war nicht ganz so wie in ihrem Traum. Aber es war auch ganz und gar nicht so, wie sie es von Samnibolon und Binigav und Moarn in Erinnerung hatte. Die Verschmelzung, die Vereinigung war bei weitem nicht so tief oder erfüllend wie beim Tvinnr — und wie hätte dies auch möglich sein sollen? —, doch war sie viel tiefer, als sie dies jemals von einer Kopulation vermutet hätte. Während sie Lakkamai fest umschlungen hielt, dachte Torlyri voll Verwunderung, daß dies hier weit über eine Kopulation hinausreichte: es war wohl wirklich so, wie ein Verschmelzen sein muß. Und in diesem Augenblick erstaunter Bewußtwerdung erhob sich eine schrille Stimme in ihrem Innern, die fragte: Was habe ich getan? Was wird Koshmar dazu sagen?
Torlyri ließ die Frage unbeantwortet, und sie wiederholte sich nicht. Sie verlor sich in der wundersamen Stille, welche die Seele Lakkamais war. Nach einiger Zeit machte sie sich von ihm frei, und dann lagen sie ein Stückchen auseinander, und nur ihre Fingerspitzen berührten sich.
Sie dachte daran, ihn mit der Spitze ihres Sensororgans zu streicheln, aber nein, nein, das wäre dem Tvinnr zu ähnlich gewesen. Nein, es wäre ein Tvinnr gewesen. Und ihr Tvinnr-Partner war Koshmar, nicht Lakkamai. Aber Lakkamai war ihr Kopulationspartner.
Torlyri wälzte diese Gedanken im Kopf herum. Wieder und wieder.
Lakkamai ist mein Kopulationspartner. Lakkamai ist mein Mann.
Sie war zweiunddreißig und seit einem Dutzend Jahren die Opferpriesterin des Stammes, und nun hatte sie plötzlich nach solch langer Zeit einen Mann und Kopulationspartner. Wie merkwürdig! Wie äußerst merkwürdig!
An einem kühlen klaren Wintertag, als der letzte Sturm seine Wut gen Osten ausgetobt hatte und der nächste noch nicht von der westlichen See herangefegt kam, machte Hresh sich erneut auf, um das häßliche abstoßende Gebäude, das er ‚die Zitadelle‘ getauft hatte, zu erforschen. Der Vorschlag stammte von Taniane, und sie begleitete ihn. Seit kurzem hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht und war auf viele seiner Exkursionen mitgegangen. Koshmar schien derzeit nichts dagegen zu haben, wenn er ohne einen Krieger zu seinem Schutz in den Ruinen umherstreifte. Und Hresh hatte Tanianes Beitritt zu der Gruppe der Sucher rasch schätzen gelernt. Zwar war immer noch etwas an ihr, das ihm Unbehagen bereitete und ihn verunsicherte, wenn er zu dicht in ihrer Nähe weilte, doch zugleich spürte er ein merkwürdig albernes Vergnügen, wenn er mit ihr allein die entfernteren Bezirke der Stadt durchstreifte. Hresh hatte eigentlich nicht zur Zitadelle zurückkehren wollen. Er meinte jetzt zu wissen, worum es sich da handelte, und er fürchtete sich vor der Bestätigung, daß seine Vermutung richtig sei. Das seltsame Bauwerk jedoch faszinierte Taniane, und sie bettelte und bohrte immer wieder, bis er ihr endlich nachgab. Und nachdem er einmal dazu entschlossen war, entschied er sich dafür, dem Geheimnis der Zitadelle auf den Grund zu kommen, und sei es mit Gewalt, was immer auch die Folgen davon sein würden. Sag ihr nichts, sondern laß sie selbst sehen. Sie soll ihre eigenen Schlußfolgerungen ziehen. Vielleicht, dachte er, ist die Zeit gekommen, ein Stück der schrecklichen Wahrheit mit jemandem zu teilen, die ich in mir verschließe. Und vielleicht war Taniane genau die richtige Person dafür.
Der Pfad zur Zitadelle war schwierig und bestand aus grauen Steinplatten, die von der Zeit und den Erdbeben in alle Richtungen verschoben waren und die während der Winterregen von einer dichten pelzigen Schicht glitschiger grüner Algen überwuchert waren. Zweimal rutschte Taniana aus und Hresh mußte sie abfangen, einmal am Oberarm, das andre Mal beim Schenkel und dem Kreuz; und jedesmal brannten ihm von der Berührung die Finger ganz seltsam. Und in den Lenden und in seinem Sensororgan rührte sich etwas. Er ertappte sich über dem Wunsch, sie möchte noch ein drittesmal ausrutschen, aber sie tat es leider nicht.
Dann waren sie oben und traten auf die Felszunge, auf der die Zitadelle in einsamer Majestät über Vengiboneeza brütete. Hresh überquerte den Teppich des kurzen dichten breitblättrigen Grases, das um den Bau herum wuchs, und trat an die Kante und spähte hinaus. Unermeßlich weit breitete sich unter ihm die Stadt und leuchtete in dem fahlen milchigen Winterlicht. Er blickte auf die zerbrochenen weißen Gebäudestümpfe hinab, auf zierliche Schwebebrücken, die zu Trümmerhügeln zusammengesunken waren, auf Straßenläufe aus schimmerndem Stein, durchsetzt von lebhaften Grün- und Blautönen, die sich bis zum Horizont dehnten. Schwer atmend vom Anstieg, stand Taniane dicht bei ihm.
„All dies habe ich gesehen, als es noch lebendig war“, sagte Hresh nach einer Weile.
„Ja. Haniman hat mir davon erzählt.“
„Es war absolut wunderbar. So viele Sachen, die sich gleichzeitig ereigneten, so viele verschiedene Leute, eine solche Energie. Erstaunlich. Und sehr niederschmetternd.“
„Niederschmetternd?“
„Ich hatte nie so recht begreifen können, was eine Hochzivilisation wirklich ist, bis ich die Große Welt erblickt hatte. Und mir war auch nie klar geworden, wie weit wir noch davon entfernt sind, zivilisiert zu sein. Ich hatte mir vorgestellt, das muß so ungefähr wie in einem Kokon sein, nur um vieles größer und mit mehr Leuten, die mehr Beschäftigungen nachgehen. Aber das ist es gar nicht, Taniane. Es besteht ein Unterschied in der Qualität, nicht bloß in der Quantität. Es gibt einen bestimmten Punkt, an dem eine Zivilisation sich erhebt, an dem sie beginnt, ihre Eigenkraft zu entfalten, und dann wächst sie aus sich selbst heraus immer weiter, nicht nur aus der Summe der Aktionen der Menschen, aus denen sie besteht. Kannst du mich überhaupt verstehen? Unser Stamm ist für so etwas viel zu klein. Wir haben unsere kleinen Aufgaben zu erledigen, und das tun wir, und am nächsten Tag machen wir es genauso, aber darin steckt nicht das gleiche Sinnpotential, nicht die gleichen Möglichkeiten der Umgestaltung, eines explodierenden Wachstums. Dazu braucht man eine größere Zahl von Leuten. Nicht bloß ein paar hundert. Man braucht Tausende — Millionen.“
„Aber das werden wir eines Tages haben, Hresh.“
Er zuckte die Achseln. „Bis dahin ist es noch sehr weit. Und zuerst gibt es ungewöhnlich viel Arbeit zu leisten.“
„Auch die Große Welt hat klein angefangen.“
„Ja“, sagte er, „das halte ich mir auch immer vor.“
„Also das war es, was deine Seele dermaßen bekümmert hat, seit du damals heimkehrtest, nachdem du geschaut hast, was du da geschaut hast?“
„Nein“, sagte Hresh. „Das war es nicht. Das war was anderes.“
„Kannst du es mir sagen?“
„Nein. Ich kann es keinem sagen.“
Lange blickte sie ihn schweigend an. Dann lächelte sie und berührte ihn sacht an der Schulter. Er schauderte unter der Berührung und hoffte, sie möge es nicht bemerkt haben.
Er drehte sich um und betrachtete eine Weile die Zitadelle. Diese massiven grünlich-schwarzen Wälle, die gigantischen Steinsäulen, das niedrige schwere Schrägdach: ein Bauwerk, das Macht und Stärke verriet, sogar Anmaßung und kolossale Selbstsicherheit. Hresh schloß die Augen und sah wieder die hochgewachsenen bleichen Unbehaarten, die Menschen aus seiner Vision, geistergleich durch diese türenlosen Mauern gleiten, nachdem sie sie mit einem Finger berührt hatten, als wären diese Mauern aus Dunst und Rauch. Wie hatten sie das bewerkstelligt? Und auf welche Weise könnte es auch ihm möglich sein?
„Dreh dich um!“ befahl er.
„Warum?“
„Ich muß etwas machen und will nicht, daß du es siehst.“
„Aber Hresh, warum wirst du denn auf einmal so geheimnisvoll.“
„Bitte!“
„Wirst du was mit dem Wunderstein machen?“
„Ja“, fuhr er sie ärgerlich an.
„Ach, den brauchst du vor mir doch nicht zu verstecken.“
„Bitte, Taniane!“
Sie schnitt ihm eine Grimasse, drehte ihm aber den Rücken zu. Er griff in seine Schärpe, zog den Barak Dayir hervor, und nach einem Augenblick der Unschlüssigkeit berührte er ihn mit der Spitze seines Sensororgans, und er hörte durch die Klüfte und Abgründe der Luft seine starke Zaubermusik heraufschwellen, bis sie seine Seele erfüllte. Er begann zu zittern. Er fing die Kraft des Steins ein und stellte sie ein und zentrierte sie, und auf den Mauern der Zitadelle begannen dichte rote, gelbe und weiße Wirbel aufzuleuchten. Tore, dachte er.
„Gib mir deine Hand“, sagte er.
„Was hast du vor?“
„Wir werden hineingehen. Gib mir deine Hand, Taniane!“
Sie starrte ihn seltsam an, dann legte sie ihre Hand in die seine. Der Wunderstein verstärkte seine Sinneswahrnehmungen derart, daß Tanianes Handfläche wie Feuer auf seiner Haut brannte und er die Heftigkeit der Berührung kaum zu ertragen vermochte; aber es gelang ihm irgendwie, und mit einem leichten Zerren führte er sie auf den nächstgelegenen Lichtwirbel zu. Dieser wich bei seiner Annäherung, und er trat ohne Schwierigkeiten durch die Mauer und zog Taniane hinter sich drein.
Im Innern öffnete sich gewaltiger leerer Raum, der von einem trüben gespenstischen Licht erhellt war, das von überall her, ohne sichtbare Quelle aufschien. Sie hätten sich in einer Höhle befinden können, die halb so weit war wie die Welt und halb so hoch wie ein Berg.
„Bei Yissous Augen“, wisperte Taniane. „Wo sind wir?“
„In einem Tempel, glaube ich.“
„Wem gehört er?“
„Denen.“ Hresh streckte die Hand aus.
Hoch in der Luft über ihnen bewegten sich Menschen umher, schwerelos wie Staubkörner. Sie schienen aus den Wänden aufzutauchen, und sie schwebten zu zweit und zu dritt in den Höheren Regionen des gewaltigen Raumes umher und schienen offensichtlich in ernste Gespräche vertieft, und dann verschwanden sie am gegenüberliegenden Ende wieder in der Wand. Sie ließen sich durch nichts anmerken, ob sie sich der Gegenwart von Taniane und Hresh bewußt waren oder nicht.
„Träumeträumer!“ murmelte sie. „Sind die wirklich da?“
„Vielleicht sind es nur Visionen. Aus einer anderen Zeit. Von damals, als diese Stadt noch voll Leben steckte. Oder aber wir träumen sie.“ Immer noch hielt er mit der einen Hand den Barak Dayir umklammert. Er steckte ihn wieder in seinen Beutel und hakte diesen an seiner Schärpe fest. Sofort verschwanden die Geistergestalten über ihren Köpfen, und man sah nichts weiter als die vier nackten rauhen Steinwände, die trüb in dem dünnen Geisterlicht glommen, das von ihnen selbst ausging.
„Was war los?“ fragte Taniane. „Wohin sind sie verschwunden?“
„Der Wunderstein hat sie uns vor Augen gebracht. Sie waren gar nicht wirklich hier, nur ihre Abbilder. Ein Schein über Tausende von Jahren herüber.“
„Ich versteh das nicht.“
„Ich auch nicht“, sagte Hresh.
Er machte ein paar vorsichtige Schritte bis zu der Wand, zu der Stelle, an der sie hereingelangt waren, und strich mit der Hand über den Stein. Er fühlte sich höchst unnachgiebig und etwas warm an, genau wie der Barak Dayir selbst auch. Ein Schauder lief Hresh das Rückgrat entlang. Nichts war hier in diesem ganzen riesenhaften Raum, gar nichts, keine zerschlagenen Bildwerke, keine umgestürzten Thronsessel, kein Hinweis auf irgendwelche Bewohner.
„Mir ist nicht gut hier“, sagte Taniane. „Gehn wir lieber!“
„Gut.“
Er kehrte ihr den Rücken zu und holte wieder den Wunderstein hervor, doch diesmal gab er sich keine besondere Mühe, ihn ihrem Blick zu entziehen. Sie schaute mit geweiteten Augen zu und schlug das Yissou-Zeichen. Und kaum hatte er den Stein berührt, da begannen die Wände wieder in hellem Licht zu erstrahlen und die gespensterhafte Luftprozession der Menschen hoch droben zog wieder dahin. Hresh sah, daß Taniane sie mit offenem Mund und ganz verdutzt beschaute. „Träumeträumer“, sagte sie noch einmal. „Sie sehen genauso aus wie er. Wie Ryyig. Wer waren sie?“
Hresh gab ihr keine Antwort.
„Ich glaube, ich weiß es“, sagte sie.
„Weißt du es?“
„Es ist eine verrückte Vorstellung, Hresh.“
„Dann sag sie mir nicht.“
„Aber dann sag mir doch wenigstens, was du glaubst.“
„Ich bin nicht sicher“, sagte Hresh. „Ich bin mir in gar nichts mehr sicher.“
„Du glaubst, was ich auch glaube.“
„Vielleicht“, sagte er. „Vielleicht auch nicht.“
„Nein, wir glauben beide das gleiche. Hresh, ich habe Angst.“
Er sah, daß sich ihr Fell sträubte und daß ihre Brüste zu wogen begannen. Er wünschte, daß er den Mut aufbrächte, sie an sich zu ziehen und ganz fest an sich zu drücken.
„Komm!“ sagte er. „Wir sind lang genug hier drin geblieben.“
Wieder ergriff er sie an der Hand und führte sie durch das Schleusentor in der Mauer. Draußen wandten sie sich beide um und blickten zurück, und danach schauten sie einander nur wortlos an. Noch nie hatte er Taniane derart erschüttert erlebt. Und in seiner Seele schwebte noch immer diese seltsame Prozession der Träumeträumer durch die Luft über seinem Kopf, geheimnisvoll, aufs höchste aufregend und quälend, zauberisch, und beschied ihn erneut mit dem Spruch, den er nicht hören wollte.
Schweigend stiegen sie über den glitschigen gewundenen Steinpfad wieder in die Stadt hinab. Auf dem ganzen Weg zurück in die Siedlung wechselten sie nicht ein einziges Wort.
Als sie dort anlangten, vernahmen sie zorniges Rufen, lautes Geschrei, die gellenden höhnischen Schnatterlaute der Dschungelaffen. Alles steckte voll von ihnen, zu Dutzenden schwangen sie sich kapriolend zwischen den Dächern umher.
„Was ist denn los?“ fragte Hresh, als Boldirinthe, einen Speer schwingend vorbeigerannt kam.
„Siehste das denn nicht?“
Weiawala, die hinter ihr angelaufen kam, blieb stehen und erklärte ihnen die Situation. Die Affen waren plötzlich aufgetaucht und hatten die papierenen Nester irgendeiner Insektenart mitgeschleppt. Diese Nester platzten auf, wenn sie auf der Erde aufschlugen, und gaben Schwärme von glitzernden langbeinigen Ekeln frei, die mit gezackten Kneifern ausgerüstet waren, die tiefe Wunden verursachten. Ihr Zubiß brannte wie glühende Kohlen, und sie ließen sich auch nicht wegreißen, sondern man konnte sie nur mit dem Messer aus der Haut herauspuhlen. Die Wanzen hatten sich über die ganze Niederlassung ausgebreitet, und die Affen ebenso, die allerdings von hoch oben herab lachten und kreischten und hin und wieder ein weiteres Insektennest herabschleuderten. Der gesamte Stamm war damit beschäftigt, sie zu vertreiben und das Stechgeziefer unter Kontrolle zu bekommen.
Es währte Stunden, bis im Dorf wieder Ruhe einkehrte. Und dann schien keiner mehr sich Gedanken zu machen, wo Hresh gewesen war oder was er getan hatte. Noch später am selben Abend sah er Taniane ganz allein dahocken und ins Leere starren; und als Haniman zu ihr hinüberging und zu ihr redete, ließ sie ihn zornig abfahren und ging aus dem Raum.
Auf halbem Weg den Hang des Mount Springtime, des ‚Frühlingsberges‘, hinauf lag ein scharfgezähnter Felskamm, den Harruel oft als Hochsitz und Ausguck benutzte, wenn er seinen Wachdienst über Vengiboneeza erledigte. Der Kamm krängte aus der Bergflanke heraus wie eine Art Terrasse, so daß Harruel, blickte er hangaufwärts, den Sattel im Blickfeld hatte, den jede eindringende Heerschar beim Abstieg vom Gipfel würde durchqueren müssen. Aber von hier aus konnte er auch in der anderen Richtung ganz Vengiboneeza überblicken, das sich drunten vor ihm breitete, als wäre es ein Lageplan.
Dort saß Harruel manchmal Stunde um Stunde, selbst im Regen, in der Gabelung eines gewaltigen Baumes mit schimmernder Borke und dreikantigen rötlichen Blättern. In der letzten Zeit war er mehr und wieder allein ins Gebirge hinaufgezogen. Seine frischrekrutierten Soldaten hatten sich für ihn mehr und mehr zu einem Ärgernis entwickelt, denn er erkannte natürlich, wie ungeduldig sie waren und wie stark sie daran zweifelten, daß sich jemals Eindringlinge zeigen würden.
Oft überfielen ihn jetzt düstere Gedanken. Er kam sich wie in einer Art Traum gefangen vor, in dem alles zu starrer Unbewegtheit verdammt ist. Die Monde, sogar die Jahre verstrichen, und er saß hier in dieser uralten Ruinenstadt in der Falle — genauso wie er es einst im Kokon gewesen war. Aber irgendwie hatte es ihm im Kokon nichts ausgemacht, daß jeder neue Tag genauso verlief wie der vorherige. Hier aber, hier, wo die ganze Welt ganz knapp außerhalb seines Zugriffs lag wie eine schimmernde Perle, hier kochte und brodelte Ungeduld in Harruels Herzen. Er war zu der Überzeugung gelangt, daß er für Großes geboren war. Aber wann konnte er endlich damit beginnen, diese Größe zu erlangen? Wann? Wann?
Während der langen Regenperiode waren solcherlei Gefühle immer stärker in ihm angestiegen, bis sie nahezu unerträglich geworden waren. Er brachte ganze Tage in seinem Gabelbaum zu, naß bis auf die Haut, miefend, muffig und mürrisch zornig. Wütend schoß er düstere Blicke zur Stammessiedlung unter sich am Stadtrand und brüllte seine Verachtung für dieses armselige, teigigträge Volk hinab. Er starrte erbittert den Berg über sich an und schrie höhnische Herausforderungen gegen den eindringenden Feind empor, der so hartnäckig sich weigerte zu erscheinen. Er wurde steif und wund. Der ganze Körper schmerzte ihn, und sein Hirn pochte. Hin und wieder stieg er von seinem Baum herab und pflückte sich Beeren von den Sträuchern in der Nähe. Und mehr als einmal fing er irgendein Niederwild mit bloßen Händen und tötete es und verspeiste es roh.
Einmal verbrachte er eine ganze Nacht zusammengekauert in seinem Baum, obschon der Regen ohne Unterlaß in schweren dicken Tropfen niederrauschte. Wozu sollte es schon gut sein, wenn er heimkehrte? Minbain war vollauf mit ihrem Baby beschäftigt; an Kopulation war sie derzeit ganz und gar nicht interessiert. Und der Regen kühlte immerhin seine Wut. Ein wenig.
Am Morgen traf ihn überraschend strahlender Sonnenschein wie ein Hieb auf den Mund. Harruel blinzelte benommen und glotzte und richtete sich auf, und hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Dann fiel ihm wieder ein, daß er ja im Baum übernachtet hatte.
Bestürzt nahm er einen Augenblick lang an, was er sah, seien Goldstachelhelme auf der ganzen Breite des gezackten Felskamms zu seiner Linken. Die Invasion? Endich? Nein, nein. Es war nur das Morgenlicht, tief hinterm Horizont, das durch die Wassertröpfchen stach, die auf jedem Blatt blitzten.
Er schwang sich zur Erde hinab und humpelte steifgliedrig in die Stadt, um sich dort etwas zu essen zu beschaffen.
Auf halber Bergeshöhe kam ihm eine Gestalt ins Blickfeld. Zunächst glaubte er, es könnte Salaman sein oder Sachkor, die sich auf die Suche nach ihm begaben, nun da die Regen aufgehört hatten. Doch nein: das war ein Weib. Ein Mädchen. Groß und schlank, mit einem Fell von ungewöhnlich schwarzer Tönung. Harruel erkannte sie nach einiger Zeit als die junge Kreun, Sachkors Angebetete, die Tochter der alten Thalippa. Sie winkte ihm zu und rief: „Ich suche Sachkor! Ist er nicht bei dir?“
Harruel glotzte sie an, gab aber keine Antwort. Er hatte einst, vor vielen Jahren, mit Thalippa kopuliert. Das war eine Hitzige gewesen damals, diese Thalippa. Nach all den Jahren schlüpfte die Erinnerung aus den Tiefen seines Gedächtnisses wieder herauf. Sie hatte ihn mit ihren Krallen zerkratzt, diese Thalippa. Er erinnerte sich auf einmal wieder an den schweren süßen Moschusduft, den sie ausströmte. Erstaunlich, daß man sich nach fünfzehn Jahren noch an so was erinnert. Vor einem halben Leben war das gewesen.
„Niemand weiß, wo er ist“, sprach Kreun weiter. „Gestern früh war er noch da, und dann war er plötzlich verschwunden. Ich bin zu dem Ort gegangen, wo die Jungmänner sind, aber dort war er auch nicht. Salaman meinte, vielleicht ist er hier oben im Berg bei dir.“
Harruel zuckte die Achseln. Früher einmal hätte dies alles vielleicht eine Bedeutung gehabt. Jetzt aber hielt ein seltsamer Bann seinen Geist umklammert.
„Es ist so lange her, Thalippa.“
„Wie?“
„Komm zu mir! Komm näher, damit ich dich anschauen kann, Thalippa.“
„Ich bin Kreun. Thalippa ist meine Mutter.“
„Kreun?“ sagte er fragend, als habe er den Namen nie zuvor gehört. „Ach, ja. Kreun.“
Zwischen seinen Schenkeln fühlte er glühende Hitze und einen scheußlichen bohrenden Schmerz. Viele Tage in diesem Baum, und nun noch eine ganze Nacht lang war er im Regen dort gehockt. Hatte Wache gehalten für dieses Torenvolk, für dieses dumme, achtlose Volk. Hatte sie gegen einen Feind beschützt, an den sie nicht einmal glauben mochten. Und währenddessen verstrichen leer und nutzlos seine Lebenstage, wo doch die ganze Welt nur darauf wartete, daß er sie in seine Arme reiße.
„Ist was nicht in Ordnung mit dir, Harruel? Du siehst so seltsam aus.“
„Thalippa.“
„Nein, ich bin Kreun!“ Und nun begann sie vor ihm zurückzuweichen, und in ihrem Blick lag Furcht.
Sachkor tat ganz recht, dermaßen viel über das Mädchen zu schnattern. Kreun war sehr schön. Diese langen schlanken Beine, der üppige dunkle Pelz, die hellgrünen Augen, in denen nun Angst aufzuckte. Merkwürdig, daß ihm das nie aufgefallen war, wie hinreißend Kreun aussah; aber schließlich war sie ja jung, und man schenkte Mädchen keine Beachtung, bevor sie nicht das Tvinnr-Alter erlangt hatten. Sie war ein Wunder an Schönheit. Seine Minbain war herzlich gut und liebevoll, doch ihre Schönheit war ihr schon vor Jahren verlorengegangen. Kreun hingegen begann gerade zu ihrer höchsten Schönheit zu erblühen.
„So warte!“ rief Harruel.
Kreun blieb stehen, die Brauen unsicher zusammengezogen. Er torkelte den Pfad hinab auf sie zu. Als er dicht bei ihr war, zog sie scharf die Luft ein und versuchte davonzulaufen, doch er griff mit seinem Sensororgan zu und erwischte sie am Hals. Es ging ein Sirren von ihr aus, er fühlte es, und es verdoppelte seinen rasenden Wahnsinn. Ohne Schwierigkeiten holte er sie zu sich heran, packte sie an den Schultern und warf sie bäuchlings auf die nasse Erde.
„Nein! Nicht! Bitte.“, wimmerte sie.
Sie versuchte wegzukriechen, doch sie hatte gegen ihn keine Chance. Er stürzte sich auf sie und packte sie von hinten an den Armen. Die Hitze in seinen Lenden war inzwischen unerträglich geworden. Irgendwo tief in seiner Seele mahnte eine leise Stimme: Was du tust, ist unrecht, man darf keine Frau mit Gewalt gegen ihren Willen nehmen, und die Götter werden dich dafür zur Rechenschaft ziehen. Aber Harruel vermochte nicht gegen diese wilde Wut anzukämpfen, gegen die Raserei, gegen den Zwang, die ihn überwältigt hatten. Er preßte die Schenkel gegen das seidige fellweiche Hinterteil des Mädchens und stieß zu. Sie brach in einen gurgelnden Schmerzensschrei aus, in den sich Entsetzen mischte. „Es ist mein Recht“, keuchte er ihr immer und immer wieder entgegen, während er sein Glied tiefer und tiefer in sie hineinstieß. „Ich bin der König. Es ist mein Recht.“