18
Sie haben versucht, sich von den Soldaten fern zu halten, aber die Männer eröffneten das Feuer und töteten sie beide. Das Lied erzählt also was Falsches über das Gefängnis, macht die Sache aber dichterischer. In der Dichtung sind die Dinge nicht immer SO, wie sie wirklich sind. Dichtung hat nichts mit Wahrheit zu tun. Dafür reicht der Platz in den Strophen einfach nicht.
– Kommentar eines Sängers zu
›The Ballad of Sam Bass‹,
aus: A Treasury of American Folklore
Nichts von dem, was hier berichtet wird, kann es wirklich geben. Man fasse das Ganze metaphorisch auf, wenn einem dabei wohler ist. Schließlich ist Religion per definitionem etwas Bildhaftes: Gott ist ein Traum, eine Hoffnung, eine Frau, ein Ironiker, ein Vater, eine Stadt, ein Haus mit vielen Zimmern, ein Uhrmacher, der seinen preisgekrönten Chronometer in der Wüste hat liegen lassen, jemand, der dich liebt – und selbst wenn aller Anschein dagegen spricht, unter Umständen auch ein himmlisches Wesen, dessen einziges Interesse darin besteht, die Fußballmannschaft, die Armee, das Geschäft von einem blühen und gedeihen und über alle Gegner und Konkurrenten triumphieren zu lassen.
Die Religion ist ein Ort, wo man steht, sich umsieht und handelt, ein Aussichtspunkt, von dem aus man die Welt überblickt.
In Wirklichkeit geschieht also nichts von alledem. Solche Dinge gibt es eben nicht. Kein Wort ist im buchstäblichen Sinne wahr. Davon abgesehen, lief das nächste Ereignis folgendermaßen ab:
Am Fuße des Lookout Mountain waren Männer und Frauen im Regen um ein kleines Feuer versammelt. Sie standen unter den Bäumen, die kaum Schutz boten, und waren sich uneins.
Die Dame Kali, die mit der tintenschwarzen Haut und den weißen, scharfen Zähnen, sagte: »Es ist an der Zeit.«
Anansi, der mit den zitronengelben Handschuhen und dem ergrauenden Haar, schüttelte den Kopf. »Wir können warten«, sagte er. »Und wenn wir warten können, sollten wir auch warten.«
Unter den anderen erhob sich ablehnendes Gemurmel.
»Nein, hört zu. Er hat Recht«, sagte ein alter Mann mit eisengrauem Haar: Tschernibog. Er trug einen kleinen Vorschlaghammer bei sich, dessen Kopf an seiner Schulter lehnte. »Sie haben den Vorteil des höheren Geländes. Das Wetter ist gegen uns. Es wäre Wahnsinn, jetzt anzufangen.«
Etwas, das ein wenig einem Wolf ähnelte, ein wenig mehr aber einem Menschen, grunzte und spuckte auf den Waldboden. »Wann wäre es denn günstiger, lozuschlagen, Djeduschka? Sollen wir warten, bis es sich aufklart, und etwa dann angreifen, wenn sie es erwarten? Ich sage, gehen wir jetzt. Ich sage, marschieren wir los.«
»Es sind Wolken zwischen ihnen und uns«, gab Isten, einer der Madjaren, zu bedenken. Er hatte einen prächtigen schwarzen Schnauzbart, einen großen, verstaubten schwarzen Hut und das Grinsen eines Mannes, der seinen Lebensunterhalt damit bestritt, älteren Mitbürgern Aluminiumverkleidungen, neue Dächer und Regenrinnen zu verkaufen, der jedoch regelmäßig die Stadt bereits verlassen hatte, wenn die Bauaufsichtsbehörde angerückt kam.
Ein Mann in einem eleganten Anzug, der bislang geschwiegen hatte, legte die Hände zusammen, trat in den Schein des Feuers und trug seine Ansicht in prägnanten Worten vor. Einige Zuhörer nickten und murmelten Zustimmung.
Mit einer Stimme meldeten sich die drei Kriegerfrauen, die gemeinsam die Morrigan bildeten und im Schatten so dicht beisammenstanden, dass sie wie ein Ensemble aus blau tätowierten Gliedmaßen und baumelnden Krähenflügeln wirkten. Sie sagte: »Es kommt nicht darauf an, ob jetzt ein guter oder ein schlechter Augenblick ist. Es ist der Augenblick. Die haben unsere Leute umgebracht. Es ist besser, zusammen zu sterben, in der Schlacht und so, wie es Göttern eben geziemt, als allein auf der Flucht und wie eine Ratte im Keller.«
Neuerliches Murmeln, diesmal Zustimmung aus tiefstem Herzen. Sie hatte für alle gesprochen. Es war der Augenblick.
»Der erste Kopf gehört mir«, sagte ein sehr großer Chinese, der ein Band mit winzigen Schädeln um den Hals trug. Er begann den Hügel hinaufzusteigen, langsam und mit konzentrierter Aufmerksamkeit, wobei er einen Stock über der Schulter trug, von dessen Ende wie ein silberner Mond eine gebogene Klinge ragte.
Selbst das Nichts kann nicht ewig währen.
Er mochte zehn Minuten dort im Nirgendwo gewesen sein oder auch zehntausend Jahre. Es war gleichgültig: Zeit war eine Vorstellung, die er nicht länger benötigte.
Er konnte sich nicht mehr an seinen richtigen Namen erinnern. Er fühlte sich leer und rein an jenem Ort, der kein Ort war.
Er war gestaltlos und nichtig.
Er war nichts.
Und in dieses Nichts hinein sagte eine Stimme: »Ho-hoka, Vetter. Wir müssen uns unterhalten.«
Und etwas, das einst Shadow gewesen sein mochte, sagte: »Whiskey Jack?«
»Yeah«, sagte Whiskey Jack in der Dunkelheit. »Du bist verdammt schwer aufzuspüren, wenn du tot bist. Du bist nirgendwo gewesen, wo ich dich erwartet hätte. Ich musste überall suchen, bis ich draufgekommen bin, mal hier nachzusehen. Erzähl, hast du deinen Stamm gefunden?«
Shadow erinnerte sich an den Mann und das Mädchen unter der sich drehenden Diskokugel. »Ich glaube, ich habe meine Familie gefunden. Aber meinen Stamm, nein, den habe ich nicht gefunden.«
»Tut mir Leid, dass ich dich aufscheuchen muss.«
»Lass gut sein. Ich habe bekommen, was ich wollte. Ich bin mit allem durch.«
»Sie kommen dich holen«, sagte Whiskey Jack. »Sie werden dich wieder beleben.«
»Aber ich bin fertig«, sagte Shadow. »Es war alles vorbei und erledigt.«
»Keineswegs«, sagte Whiskey Jack. »Nichts dergleichen. Gehen wir zu mir. Möchtest du ein Bier?«
Eigentlich gab es dagegen wenig einzuwenden. »Klar.«
»Bring mir auch eins mit. Draußen steht ’ne Kühltasche«, sagte Whiskey Jack und zeigte zur Tür. Sie befanden sich in seiner Hütte.
Shadow öffnete die Tür mit Händen, die er Augenblicke zuvor noch nicht besessen hatte. Da draußen stand eine mit Eisklumpen aus dem Fluss gefüllte Plastikkühltasche, und zwischen dem Eis lag ein Dutzend Dosen Budweiser. Er zog zwei Bierdosen heraus, setzte sich damit auf die Türschwelle und blickte hinaus über das Tal.
Sie waren oben auf einem Hügel, in der Nähe eines von Schnee und Schmelzwasser angeschwollenen Wasserfalls. Das Wasser fiel in Kaskaden etwa zwanzig Meter nach unten, vielleicht auch dreißig. Die Sonne spiegelte sich in dem Eis, das die über das Wasserfallbecken hinausragenden Bäume bedeckte.
»Wo sind wir?«, fragte Shadow.
»Wo du letztes Mal auch warst«, sagte Whiskey Jack. »Bei mir zu Hause. Hast du die Absicht, mein Bier festzuhalten, bis es warm ist?«
Shadow stand auf und reichte ihm die Bierdose. »Du hattest keinen Wasserfall vor dem Haus, als ich das letzte Mal hier war«, sagte er.
Whiskey Jack sagte nichts darauf. Er riss den Verschluss auf und nahm sich Zeit für einen langen Schluck, mit dem er die halbe Dose leerte. Dann sagte er: »Erinnerst du dich an meinen Neffen? Henry Bluejay? Den Dichter? Er hat seinen Buick gegen euren Winnebago eingetauscht. Weißt du noch?«
»Klar doch. Ich wusste allerdings nicht, dass er Dichter war.«
Whiskey Jack reckte das Kinn und blickte stolz drein. »Der beste verdammte Dichter in Amerika«, sagte er.
Er schluckte den restlichen Inhalt der Bierdose weg, rülpste und holte sich eine neue, während Shadow jetzt erst seine Dose aufmachte, und dann saßen die beiden Männer draußen in der Morgensonne auf dem Felsstein zwischen dem blassgrünen Farnkraut, blickten auf das hinabstürzende Wasser und tranken ihr Bier. Es lag noch Schnee an den Stellen, wo der Schatten nie verschwand.
Der Boden war nass und matschig.
»Henry war Diabetiker«, fuhr Whiskey Jack fort. »Das kommt vor. Viel zu oft. Ihr Leute seid nach Amerika gekommen, ihr habt unser Zuckerrohr, unseren Mais und unsere Kartoffeln genommen, und jetzt verkauft ihr uns Kartoffelchips und Karamell-Popcorn, und wir sind diejenigen, die davon krank werden.« Nachdenklich schlürfte er sein Bier. »Er hat ein paar Preise mit seiner Dichterei gewonnen. In Minnesota gab es Leute, die ein Buch aus seinen Gedichten machen wollten. Er ist in einem Sportwagen hingefahren, um mit denen zu reden. Er hatte deinen ’Bago gegen einen gelben Mazda-Roadster eingetauscht. Die Ärzte glauben, dass er während der Fahrt ins Koma gefallen und von der Straße abgekommen ist und den Wagen gegen eins von euren Straßenschildern gefahren hat. Zu faul, um zu gucken, wo ihr seid, um die Berge und die Wolken zu lesen, müsst ihr überall Straßenschilder hinstellen. Und so ist Henry Bluejay für immer fortgegangen, lebt jetzt bei Bruder Wolf. Und da hab ich mir gesagt, dort hält mich nichts mehr. Ich bin also nach Norden gegangen. Hier oben kann man gut angeln.«
»Das mit deinem Neffen tut mir leid.«
»Mir auch. Jetzt lebe ich also hier im Norden. Weit weg von den Krankheiten des weißen Mannes. Den Straßen des weißen Mannes. Den Straßenschildern des weißen Mannes. Den gelben Sportwagen des weißen Mannes. Dem Karamell-Popcorn des weißen Mannes.«
»Dem Bier des weißen Mannes?«
Whiskey sah seine Dose an. »Wenn ihr irgendwann die Nase voll habt und nach Hause geht, dann könnt ihr uns die Budweiser-Brauereien hierlassen«, sagte er.
»Wo sind wir?«, fragte Shadow. »Bin ich auf dem Baum? Bin ich tot? Bin ich hier? Ich dachte, alles wäre zu Ende. Was ist wirklich?«
»Ja«, sagte Whiskey Jack.
»›Ja‹? Was für eine Antwort soll das denn sein?«
»Es ist eine gute Antwort. Eine wahre Antwort noch dazu.«
»Bist du auch ein Gott?«, sagte Shadow.
Whiskey Jack schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Kulturheros«, sagte er. »Wir machen denselben Scheiß, den die Götter auch machen, wir vermurksen nur mehr, und niemand betet uns an. Man erzählt Geschichten über uns, aber man erzählt eben auch die Geschichten, in denen wir echt schlecht aussehen, neben denen, wo wir einigermaßen gut wegkommen.«
»Verstehe«, sagte Shadow. Und so war es, mehr oder weniger.
»Pass auf«, sagte Whiskey Jack. »Das Land hier eignet sich nicht für Götter. Mein Volk hat das schon sehr früh begriffen. Es gibt Schöpfergeister, die die Erde gefunden oder gemacht oder ausgeschissen haben, aber wenn man es sich überlegt: Wer würde jemanden wie Kojote anbeten? Er hat mit Stachelschweinfrau geschlafen und hatte hinterher mehr Nadeln im Schwanz, als in ein Nähkissen reinpassen. Er hat sich mit Steinen gestritten, und die Steine haben gewonnen, also, ich bitte dich.
Tja, mein Volk hat sich also ausgerechnet, dass vielleicht irgendwas hinter allem steht, ein Schöpfer, ein großer Geist, und dem sagen wir also Dank, weil es immer gut ist, sich zu bedanken. Aber wir haben nie Kirchen gebaut. Das brauchten wir nicht. Das Land war die Kirche. Das Land war die Religion. Das Land war älter und weiser als die Menschen, die auf ihm wandelten. Es gab uns Lachs und Mais, den Bison und die Wandertaube. Es gab uns wilden Reis und den Zander. Es gab uns die Melone, den Kürbis und den Truthahn. Und wir waren die Kinder des Landes, genau wie das Stachelschwein und das Stinktier und der Blauhäher.«
Er trank sein zweites Bier aus und deutete auf den Fluss am unteren Ende des Wasserfalls. »Wenn du diesem Fluss ein Stückchen folgst, kommst du zu den Seen, wo der wilde Reis wächst. In der Reissaison fährst du mit einem Freund im Kanu raus und sammelst den Wildreis ein, du kochst ihn, lagerst ihn, und er nährt dich lange Zeit. In anderen Gegenden wächst andere Nahrung. Wenn du weit genug nach Süden gehst, hast du Orangenbäume, Zitronenbäume und diese weichen grünen Dinger, sehen aus wie Birnen …«
»Avocados.«
»Avocados«, sagte Whiskey Jack und nickte. »Genau. Die wachsen nicht in dieser Gegend. Hier ist Wildreisland. Elchland. Ich will damit nur sagen, was Amerika wirklich ist. Es ist kein guter Boden für Götter. Die wachsen hier einfach nicht. Die sind wie Avocados, die man in einer Wildreisgegend pflanzen will.«
»Sie mögen nicht sehr gut wachsen«, sagte Shadow, dem jetzt die Erinnerung zurückkam, »aber sie ziehen in den Krieg.«
Das war das einzige Mal, dass er Whiskey Jack je lachen sah. Es war fast ein Bellen, und es lag wenig Humor darin. »He, Shadow«, sagte Whiskey Jack. »Wenn alle deine Freunde von der Klippe runterspringen, würdest du dann auch springen?«
»Vielleicht.« Shadow fühlte sich wohl. Er glaubte nicht, dass es nur am Bier lag. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich zuletzt so lebendig gefühlt hatte, so aus einem Guss.
»Es wird kein Krieg werden.«
»Was dann?«
Whiskey Jack zerdrückte die Bierdose zwischen den Händen, bis sie platt war. »Guck mal«, sagte er und zeigte nach unten. Die Sonne stand jetzt so hoch, dass sie den Sprühnebel des Wasserfalls erfasste: Ein Regenbogenkranz hing in der Luft. Shadow fand, dass es das Schönste war, was er je gesehen hatte.
»Es wird ein Blutbad«, sagte Whiskey Jack kategorisch.
Da begriff Shadow. Er sah die ganze in ihrer Schlichtheit nackte Wahrheit. Er schüttelte den Kopf, dann fing er an zu kichern, schüttelte den Kopf noch ein paarmal, und aus dem Kichern wurde ein Lachen aus vollem Hals.
»Alles klar bei dir?«
»Alles bestens«, sagte Shadow. »Ich hab nur grade die versteckten Indianer gesehen. Zwar nicht alle, aber gesehen habe ich sie.«
»Dann waren’s wahrscheinlich Ho-Chunks. Diese Typen waren schon immer die größten Nieten, wenn’s ums Verstecken geht.« Er blickte hinauf zur Sonne. »Wird Zeit, zurückzukehren«, sagte er und stand auf.
»Es ist ein Zwei-Mann-Beschiss«, sagte Shadow. »Es ist überhaupt kein Krieg, nicht wahr?«
Whiskey Jack tätschelte Shadow am Arm. »Du bist gar nicht so blöd«, sagte er.
Sie gingen zurück zur Hütte. Whiskey Jack machte die Tür auf. Shadow zögerte. »Ich wollte, ich könnte hier bei dir bleiben«, sagte er. »Das scheint ein gutes Plätzchen zu sein.«
»Es gibt eine Menge guter Plätze«, sagte Whiskey Jack. »Das ist sozusagen der springende Punkt. Also, Götter sterben, sobald sie in Vergessenheit geraten. Menschen auch. Aber das Land ist immer da. Die guten Plätze und die schlechten. Das Land macht sich nicht aus dem Staub. Und ich auch nicht.«
Shadow schloss die Tür. Etwas zog an ihm. Einmal mehr war er allein in der Dunkelheit, aber die Dunkelheit wurde immer heller und heller, bis sie wie die Sonne brannte.
Und der Schmerz begann.
Easter schritt über die Wiese, und wo sie den Fuß hingesetzt hatte, da sprossen die Frühlingsblumen.
Sie kam an einer Stelle vorbei, wo vor langer Zeit einmal ein Farmhaus gestanden hatte. Noch heute standen dort ein paar Mauern, die aber wie verfaulte Zähne aus dem Unkraut und dem Gras hervorragten. Ein feiner Regen fiel. Die dunklen Wolken hingen tief, und es war kalt.
Ein Stück jenseits der Farmhausruine war ein Baum, ein gewaltiger silbergrauer Baum, allem Anschein nach winterlich abgestorben, lautlos, und im Gras vor dem Baum lagen zerfranste, farblose Stofffetzen. Die Frau blieb bei dem Stoff stehen, bückte sich und hob etwas Bräunlichweißes auf: Es war ein vielfach angenagtes Knochenstück, das einmal Teil eines menschlichen Schädels gewesen sein mochte. Sie warf es zurück ins Gras.
Dann betrachtete sie den Mann am Baum und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Nackt sind sie einfach nicht so interessant«, sagte sie. »Es ist das Auspacken, was den Großteil des Spaßes ausmacht. Wie bei Geschenken und Eiern.«
Der falkenköpfige Mann, der neben ihr ging, blickte auf seinen Penis hinunter und schien sich zum ersten Mal seiner Nacktheit bewusst zu werden. »Ich kann in die Sonne gucken, ohne zu blinzeln«, sagte er.
»Du bist ganz schön clever«, sagte Easter beipflichtend. »Nun, dann wollen wir ihn mal runterholen.«
Die nassen Seile, die Shadow an den Baum banden, waren schon längst verwittert und vermodert, weshalb sie leicht auseinandergingen, als sie zu zweit daran zogen. Der Körper am Baum kam ins Rutschen und glitt hinunter auf die Wurzeln zu. Sie fingen ihn auf und hoben ihn hoch, trugen ihn mit Leichtigkeit, obwohl er sehr groß war, und legten ihn auf die graue Wiese.
Der Körper auf dem Gras war kalt, kein Atem ging von ihm aus. Er hatte einen Fleck von getrocknetem schwarzem Blut in der Seite, als wäre er von einem Speer gestochen worden.
»Was jetzt?«
»Jetzt«, sagte sie, »wärmen wir ihn auf. Du weißt, was du zu tun hast.«
»Ich weiß. Aber ich kann es nicht.«
»Wenn du nicht bereit bist zu helfen, hättest du mich nicht herrufen sollen.«
Sie streckte ihre weiße Hand aus und berührte damit Horus’ schwarzes Haar. Er sah sie aufmerksam blinzelnd an. Dann begann er wie in einem Hitzeschleier zu flimmern.
Das ihr zugewandte Falkenauge glitzerte orange, als wäre soeben eine Flamme darin entfacht worden, eine Flamme, die lange erloschen gewesen war.
Der Falke erhob sich in die Lüfte, schwang sich aufwärts, kreiste und stieg in weitem Bogen auf, umkreiste den Abschnitt der grauen Wolken, wo die Sonne sein mochte, und während der Falke aufstieg, wurde er zunächst zu einem Punkt, dann zu einem Pünktchen am Himmel und war schließlich mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen, nur mehr vorstellbar. Die Wolkendecke wurde dünner und begann aufzureißen, wodurch ein Stück blauer Himmel freigegeben wurde, durch das grelles Sonnenlicht drang. Der einzelne Sonnenstrahl, der die Wiese in Licht tauchte, war wunderschön, aber dieses Bild schwand, je mehr Wolken sich auflösten. Bald glühte die morgendliche Sonne auf die Wiese herunter, wie sie es üblicherweise im Sommer um die Mittagszeit tat, verbrannte den vom Morgenregen zurückgebliebenen Wasserdampf zu Nebel und ließ den Nebel binnen kurzem ins Nichts verschwinden.
Die goldene Sonne bestrich die Leiche auf der Wiese mit ihren Strahlen und ihrer Hitze. Rosa und warmbraune Schattierungen überzogen das tote Ding.
Die Frau strich mit den Fingern ihrer rechten Hand leicht über den Brustkorb des leblosen Körpers. Sie meinte, einen Schauder in dessen Brust zu spüren – etwas, was nicht gerade ein Herzschlag war, aber dennoch … Sie ließ die Hand genau über dem Herzen auf der Brust liegen.
Sie senkte die Lippen auf Shadows Mund und atmete in seine Lunge, ein sanftes Hinein und Heraus, und dann wurde aus dem Atem ein Kuss. Ihr Kuss war zart, und er schmeckte nach Frühlingsregen und Wiesenblumen.
Aus der Wunde in der Seite floss wieder Blut – scharlachrotes Blut, das im Sonnenlicht wie flüssige Rubine strahlte, und auf einmal hörte das Bluten auf.
Sie küsste ihn auf die Wange und die Stirn. »Komm«, sagte sie. »Es ist Zeit, aufzustehen. Es geht los. Du willst doch nichts verpassen.«
Seine Augen zuckten und flatterten, dann gingen sie auf, zwei Augen so grau wie der Abend, und er sah sie an.
Sie lächelte und nahm die Hand wieder von der Brust.
»Du hast mich zurückgerufen«, sagte er, so langsam, als hätte er das Sprechen verlernt. Schmerz lag in seiner Stimme, aber auch Verwirrung.
»Ja.«
»Ich war durch. Mein Urteil war gefällt. Es war vorbei. Du hast mich zurückgerufen. Wie konntest du nur?«
»Es tut mir Leid.«
»Ja.«
Langsam setzte er sich auf. Er zuckte zusammen und legte die Hand an die Seite. Dann schaute er verwirrt: Da war zwar ein Perlenkranz von rotem Blut, aber keine Wunde darunter.
Er streckte eine Hand aus, worauf sie den Arm um ihn legte und ihm auf die Beine half. Er blickte über die Wiese, als versuchte er, sich an die Namen der Dinge zu erinnern, die er dort sah: die Blumen im hohen Gras, die Trümmer des Farmhauses, den Schleier grüner Knospen, der die Zweige des großen Silberbaums einhüllte.
»Erinnerst du dich?«, fragte sie ihn. »Weißt du noch, was du gelernt hast?«
»Ich habe meinen Namen verloren, und ich habe mein Herz verloren. Und du hast mich zurückgeholt.«
»Es tut mir Leid«, sagte sie. »Sie werden bald anfangen zu kämpfen. Die alten Götter und die neuen.«
»Du willst, dass ich für euch kämpfe? Da hast du deine Zeit vergeudet.«
»Ich habe dich zurückgeholt, weil es das war, was ich zu tun hatte«, sagte sie. »Tue jetzt du, was immer du zu tun hast. Es liegt an dir. Ich habe das meine getan.«
Plötzlich wurde sie sich seiner Nacktheit bewusst, ihre Wangen färbten sich ins glühend Scharlachrote, sie schlug die Augen nieder und wandte sich ab.
Im Regen und den tief hängenden Wolken bewegten sich Schatten den Berghang hinauf auf die Felswege zu.
Weiße Füchse trotteten in der Gesellschaft rothaariger Männer mit grünen Jacken einher. Ein stierköpfiger Minotaurus ging neben einem eisenfingrigen Dactylos. Ein Schwein, ein Affe und ein Ghul mit scharfen Zähne kraxelten Seite an Seite mit einem blauhäutigen, einen flammenden Bogen tragenden Mann, einem Bären, in dessen Fell Blumen geflochten waren, und einem Mann im goldenen Kettenpanzer, der ein mit Augen bestücktes Schwert trug.
Der schöne Antinous, welcher der Geliebte des Hadrian war, erkletterte den Hang an der Spitze einer Gruppe von Leder-Queens, deren Arme und Brüste perfekte, steroidgestützte Formen aufwiesen.
Ein grauhäutiger Mann, dessen Zyklopenauge wie ein riesiger Cabochon-Smaragd wirkte, ging mit steifen Schritten vor einer Gruppe untersetzter Männer von dunkler Gesichtsfarbe, deren ausdruckslose Züge in ihrer Regelmäßigigkeit an aztekische Skulpturen erinnerten: Sie kannten die Geheimnisse, die der Dschungel verschluckt hatte.
Ein Scharfschütze auf der Hügelspitze zielte mit Sorgfalt auf einen weißen Fuchs und feuerte. Es gab eine Explosion, worauf der Geruch von Kordit, von Schießpulver, in die feuchte Luft stieg. Das Opfer war eine junge Japanerin, der es den Bauch weggerissen hatte; ihr Gesicht war blutüberströmt. Langsam löste sich die Leiche auf.
Doch weiter ging es den Berg hinauf, auf zwei Beinen, auf vier Beinen oder auf gar keinen Beinen.
Die Fahrt durch die Berglandschaft von Tennessee war, wann immer der Sturm nachgelassen hatte, unglaublich schön gewesen, recht nervenaufreibend aber, solange der Regen auf sie heruntergeprasselt war. Town und Laura hatten geredet und geredet, den ganzen Weg über. Er war überaus froh, dass er ihr begegnet war. Es war, als wäre man einem alten Freund begegnet, einem wirklich guten alten Freund, den man vorher halt nur nicht gekannt hatte. Sie unterhielten sich über Geschichte und Filme und Musik, und sie erwies sich als die einzige Person, die einzige andere Person, der er je über den Weg gelaufen war, die einen ausländischen Film aus den Sechzigern namens Die Handschrift von Saragossa kannte (Mr. Town war sich sicher, dass es ein spanischer Film war, wohingegen Laura mit der gleichen Bestimmtheit behauptete, er sei polnisch), einen Film, von dem er langsam geglaubt hatte, er existiere nur in seiner Einbildung.
Als Laura ihn auf das erste BESUCHEN-SIE-ROCK-CITY-Schild hinwies, kicherte er und gestand, dass eben dies sein Ziel sei. Sie sagte, das sei ja cool. Sie habe schon immer mal eine solche Sehenswürdigkeit besuchen wollen, sei aber nie dazu gekommen und habe es hinterher immer bedauert. Das sei auch der Grund, warum sie jetzt unterwegs sei. Sie sei auf Abenteuerfahrt.
Sie arbeite in einem Reisebüro, erzählte sie. Lebe getrennt von ihrem Mann. Sie gestand ihm, sie glaube nicht, dass sie und ihr Mann je wieder zusammenfinden würden, und es sei allein ihre Schuld.
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
Sie seufzte. »Es ist aber wahr, Mack. Ich bin einfach nicht mehr die Frau, die er mal geheiratet hat.«
Nun ja, erwiderte er, die Menschen veränderten sich nun mal, und ehe er sich’s versah, war er dabei, ihr alles anzuvertrauen, was es aus seinem Leben zu berichten gab, er erzählte ihr sogar von Woody und Stone, wie sie drei immer die drei Musketiere gewesen seien, und als man dann die anderen beiden ermordet habe, nun, man könnte ja vielleicht meinen, dass sich einer, der schon so lange im Regierungsdienst stehe, gegen solche Vorfälle verhärten würde, aber nein, das schaffe man einfach nicht.
Sie streckte die Hand aus – sie war so kalt, dass er sofort die Heizung höher drehte – und drückte fest und innig seine Rechte.
Zu Mittag aßen sie, während sich ein Gewitter über Knoxville senkte, bei einem miserablen Japaner, aber Town kümmerte es nicht, dass das Essen mit Verzögerung kam, dass die Misosuppe kalt und das Sushi warm war.
Er genoss in vollen Zügen die Tatsache, dass sie mit ihm unterwegs war, auf Abenteuerfahrt sozusagen.
»Tja«, vertraute Laura ihm an, »mich hat einfach die Vorstellung erschreckt, dass man alt und abgestanden wird. Da, wo ich war, bin ich richtig vergammelt. Also hab ich mich aufgemacht, ohne Auto, ohne Kreditkarten. Ich verlasse mich ganz und gar auf die Hilfsbereitschaft von Fremden.«
»Haben Sie denn keine Angst?«, fragte er. »Das heißt, Sie könnten doch irgendwo stranden, Sie könnten ausgeraubt werden, könnten verhungern.«
Sie schüttelte den Kopf. Dann sagte sie, mit zögerlichem Lächeln: »Ich bin ja Ihnen begegnet, oder etwa nicht?«, worauf ihm keine Erwiderung einfiel.
Nachdem die Mahlzeit beendet war, rannten sie, wobei sie sich zum Schutz japanischsprachige Zeitungen über den Kopf hielten, durch das Gewitter zu seinem Auto, und dabei lachten sie, lachten wie Schulkinder im Regen.
»Wie weit kann ich dich mitnehmen?«, fragte er sie, als sie wieder im Trockenen saßen.
»Ich komme so weit mit, wie du fährst, Mack«, antwortete sie schüchtern.
Wie froh er war, dass er sich den Big-Mack-Spruch verkniffen hatte. Diese Frau, das spürte Mr. Town mit ganzem Herzen, war keine Nummer für eine Nacht. Es mochte ihn fünfzig Jahre gekostet haben, sie zu finden, aber jetzt war es schließlich doch vollbracht, das hier war die Richtige, diese wilde, zauberische Frau mit dem langen dunklen Haar.
Das hier war Liebe.
»Hör mal«, sagte er, als sie sich Chattanooga näherten. Die Scheibenwischer wälzten den Regen über die Windschutzscheibe und ließen das Grau der Stadt verschwimmen. »Wie wär’s, wenn wir heute Abend ein Motelzimmer für dich suchen? Ich bezahle natürlich. Und sobald ich meine Lieferung erledigt habe, können wir … Na ja, wir könnten zum Beispiel ein heißes Bad nehmen … um dich ein bisschen aufzuwärmen.«
»Das klingt großartig«, sagte Laura. »Was hast du denn abzuliefern?«
»Den Stock«, sagte er und kicherte. »Der auf dem Rücksitz liegt.«
»Okay«, sagte sie rücksichtsvoll. »Dann verrat es mir halt nicht, Mister Geheimniskrämer.«
Er erklärte ihr, dass es das Beste sei, wenn sie im Wagen auf dem Parkplatz von Rock City auf ihn wartete, während er die Ware ablieferte. Er fuhr, nie die fünfzig überschreitend, im strömenden Regen mit eingeschalteten Scheinwerfern den Hang des Lookout Mountain hinauf.
Sie hielten am hinteren Ende des Parkplatzes. Er stellte den Motor ab.
»He, Mack. Bevor du aussteigst, ist da vielleicht noch eine kleine Umarmung für mich drin?«, sagte Laura lächelnd.
»Aber sicher doch«, sagte Mr. Town. Er legte die Arme um sie, und sie schmiegte sich an ihn, während der Regen aufs Autodach trommelte. Er konnte ihr Haar riechen. Ein leicht unangenehmer Geruch drang durch den Duft des Parfüms, aber so etwas blieb beim Reisen ja einfach nicht aus. So ein Bad, befand er, hatten sie beide wirklich nötig. Er fragte sich, ob man wohl irgendwo in Chattanooga diesen Lavendel-Badezusatz bekommen konnte, den seine erste Frau immer so gemocht hatte. Laura lehnte ihren Kopf an seinen und strich ihm mit der Hand zerstreut über die Nackenlinie.
»Mack … ich denk die ganze Zeit: Du möchtest doch bestimmt gern wissen, was mit deinen Freunden passiert ist«, sagte sie. »Mit Woody und Stone. Oder nicht?«
»Yeah«, sagte er und bewegte die Lippen zum ersten Kuss auf sie zu. »Natürlich möchte ich das.«
Also zeigte sie es ihm.
Shadow schritt über die Wiese und beschrieb dabei seine eigenen langsamen, allmählich weiter werdenden Kreise um den Baum herum. Manchmal blieb er stehen und hob etwas auf: eine Blume, ein Blatt, einen Kieselstein, einen Zweig oder einen Grashalm. Er untersuchte jeden Gegenstand mit großer Sorgfalt, als würde er sich ganz und gar in die Zweigigkeit des Zweiges versenken, die Blättrigkeit des Blattes.
Easter fand sich an den Blick eines Säuglings erinnert, der gerade lernte, die Dinge ins Auge zu fassen.
Sie wagte nicht, ihn anzusprechen. Das wäre, jetzt in diesem Moment, nachgerade ein Sakrileg gewesen. Erschöpft, wie sie war, beobachtete sie ihn nur und staunte.
Etwa zehn Schritte vom Baumstamm entfernt fand er einen Segeltuchbeutel, der von langem Wiesengras und abgestorbenen Kriechpflanzen halb überwuchert war. Shadow nahm ihn hoch, knotete ihn auf und lockerte das Durchziehband.
Die Kleider, die er aus dem Beutel zog, waren seine eigenen. Sie waren alt, aber noch zu benutzen. Er drehte die Schuhe in den Händen. Er strich über den Stoff des Hemdes, die Wolle des Pullovers, starrte alles an, als lägen eine Million Jahre zwischen diesen Dingen und ihm.
Stück für Stück zog er die Sachen an.
Er steckte die Hände in die Taschen, schien verwirrt zu sein und zog die eine wieder heraus. Zwischen den Fingern hielt er etwas, das für Easter wie eine weißgraue Murmel aussah.
»Keine Münzen«, sagte er. Es war das Erste, was er seit Stunden gesagt hatte.
»Keine Münzen?«, wiederholte Easter.
Er schüttelte den Kopf. »Damit konnte ich die Hände immer gut beschäftigen.« Er bückte sich, um in die Schuhe zu schlüpfen.
Nachdem er angekleidet war, wirkte er normaler. Allerdings sehr ernst. Sie fragte sich, wie weit er wohl gereist war und was es ihn gekostet hatte, zurückzukehren. Er war nicht der Erste, dessen Rückkehr sie eingeleitet hatte, und sie wusste, dass dieser Eine-Million-Jahre-Blick recht bald verschwinden würde, dass die Erinnerungen und Träume, die er von dem Baum mitgebracht hatte, von der Welt der Dinge, die man berühren konnte, ausgelöscht werden würden. So geschah es immer.
Sie führte ihn zur Rückseite der Wiese. Ihr Transporttier wartete zwischen den Bäumen.
»Es kann uns nicht beide tragen«, sagte sie. »Ich werde auf eigene Faust nach Hause gelangen.«
Shadow nickte. Er schien in seiner Erinnerung zu suchen. Dann machte er den Mund auf und stieß einen freudigen Begrüßungsschrei aus.
Der Donnervogel öffnete seinen fürchterlichen Schnabel und erwiderte den Schrei.
Er ähnelte, jedenfalls oberflächlich, einem Kondor. Die Federn waren schwarz mit einem violetten Schimmer, und um den Hals hatte er eine weiße Krause. Der Schnabel war schwarz und grausam: der Schnabel eines Raubvogels. Mit angelegten Flügeln hatte er in Ruhestellung auf dem Boden die Größe eines Schwarzbären, und der Kopf befand sich auf gleicher Höhe mit Shadows Kopf.
»Ich habe ihn mitgebracht«, sagte Horus stolz. »Die leben in den Bergen.«
Shadow nickte. »Ich habe mal von Donnervögeln geträumt«, sagte er. »Der heftigste Traum, den ich je hatte.«
Der Donnervogel öffnete den Schnabel und gab einen überraschend sanften Laut von sich: Kraruh? »Du hast meinen Traum auch gehört?«, fragte Shadow.
Er streckte die Hand aus und rieb sanft über den Kopf des Tieres. Der Donnervogel drängte sich wie ein anhängliches Pony an ihn. Shadow kraulte ihn vom Nacken bis hinauf zum Kamm.
Er wandte sich an Easter. »Mit ihm bist du hierher geflogen?«
»Ja«, sagte sie. »Du kannst ihn zurückfliegen, wenn er dich lässt.«
»Wie fliegt man ihn?«
»Es ist ganz leicht«, sagte sie. »Du darfst nur nicht runterfallen. So wie man den Blitz reitet.«
»Werde ich dich da unten sehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab genug, Schatz«, erwiderte sie. »Geh du, und tue, was du zu tun hast. Ich bin müde. Viel Glück.«
Shadow nickte. »Whiskey Jack. Ich habe ihn gesehen. Nachdem ich gestorben bin. Er hat mich aufgespürt. Wir haben zusammen Bier getrunken.«
»Ja«, sagte sie. »Das glaube ich gern.«
»Werde ich dich je wiedersehen?«, fragte Shadow.
Sie sah ihn mit Augen an, deren Grün dem von reifendem Mais glich. Zunächst schwieg sie. Dann schüttelte sie jäh den Kopf. »Ich bezweifle es«, sagte sie.
Unbeholfen kletterte Shadow auf den Rücken des Donnervogels. Er kam sich vor wie eine Maus auf dem Rücken eines Falken. Er hatte einen Ozongeschmack im Mund, blau und metallisch. Etwas knackte und knisterte. Der Donnervogel breitete die Flügel aus und begann kräftig damit zu schlagen.
Während der Boden unter ihnen entschwand, klammerte Shadow sich fest. Das Herz klopfte ihm wie wild in der Brust.
Es war genau so, als würde man den Blitz reiten.
Laura holte den Stock von der Rückbank. Sie ließ Mr. Town zusammengesackt auf dem Fahrersitz, stieg aus und ging durch den Regen auf Rock City zu. Der Kartenschalter war geschlossen. Die Tür zum Souvenirladen war aber unverriegelt, also ging sie hindurch, an den Felsbonbons und den BESUCHEN-SIE-ROCK-CITY-Vogelhäusern vorbei ins Achte Weltwunder.
Niemand rief sie an und stellte sie zur Rede, obwohl ihr auf dem Pfad mehrere Männer und Frauen begegneten. Viele davon sahen etwas künstlich aus, einige waren sogar durchsichtig. Sie überquerte eine Hängebrücke mit Seilgeländer. Sie kam an den Gärten der weißen Rehe vorbei und drückte sich durch den Fat Man’s Squeeze, wo der Pfad zwischen zwei Felswänden hindurchführte.
Schließlich stieg sie über eine Kette, an der ein Schild mit der Mitteilung hing, dass dieser Teil der Sehenswürdigkeit vorübergehend geschlossen sei; sie ging weiter und kam in eine Höhle, wo sie einen Mann vor einem Diorama mit betrunkenen Gnomen auf einem Plastikstuhl sitzen sah. Er las im Licht einer kleinen Elektrolaterne gerade in der Washington Post. Als er Laura bemerkte, faltete er die Zeitung zusammen und legte sie unter den Stuhl. Er erhob sich, ein großer Mann mit kurz geschorenem orangefarbenem Haar in einem teuren Regenmantel, und deutete eine Verbeugung an.
»Ich darf wohl annehmen, dass Mister Town tot ist«, sagte er. »Willkommen, Speerträgerin.«
»Danke. Tut mir Leid wegen Mack«, sagte sie. »Waren Sie befreundet?«
»Überhaupt nicht. Wer seinen Job behalten will, muss schon aufpassen, dass er am Leben bleibt. Immerhin, Sie haben den Stock dabei.« Er musterte sie aus Augen, die wie die orange Glut eines verlöschenden Feuers glommen. »Da sind Sie mir gegenüber also im Vorteil. Hier oben auf dem Berg nennt man mich Mister World.«
»Ich bin Shadows Frau.«
»Ach, natürlich. Die liebreizende Laura«, sagte er. »Ich hätte Sie eigentlich wieder erkennen müssen. In der Zelle, die wir einst miteinander geteilt haben, hatte er über seinem Bett einige Fotos von Ihnen. Sie sehen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, reizender aus, als Sie es von Rechts wegen dürften. Müssten Sie auf dem Weg, den alles Irdische geht, nicht schon viel weiter in Richtung Verfallsstadium gekommen sein?«
»War ich auch«, sagte sie schlicht. »Aber diese Frauen auf der Farm, die haben mir Wasser aus ihrem Brunnen gegeben.«
Eine gelüpfte Augenbraue. »Urds Quelle? Nicht doch.«
Sie zeigte auf sich selbst. Ihre Haut war bleich, die Augenhöhlen waren dunkel, aber sie war offenkundig heil und ganz gut beieinander. Wenn sie tatsächlich eine wandelnde Leiche war, dann jedenfalls eine ziemlich frische.
»Das hält nicht vor«, sagte Mr. World. »Die Nornen haben Ihnen ein bisschen Vergangenheit zu schmecken gegeben. Die wird sich nur allzu bald wieder in die Gegenwart auflösen, und dann werden diese hübschen blauen Augen aus ihren Höhlen kullern und an diesen hübschen Wangen heruntertriefen, die zu diesem Zeitpunkt natürlich längst nicht mehr so hübsch sein werden. Übrigens, der Stock da gehört mir. Dürfte ich ihn bitte haben?«
Er zog eine Packung Lucky Strikes hervor, nahm sich eine Zigarette und zündete sie mit einem schwarzen Bic an.
»Kann ich auch eine bekommen?«, sagte sie.
»Klar. Ich gebe Ihnen eine Zigarette, wenn Sie mir meinen Stock geben.«
»Wenn er so wichtig für Sie ist, ist das aber mehr wert als nur eine Zigarette.«
Er sagte nichts darauf.
»Ich möchte Antworten haben«, sagte sie. »Ich möchte so einiges wissen.«
Er zündete eine Zigarette an und reichte sie ihr. Sie nahm sie und inhalierte. Dann blinzelte sie. »Ich kann sie beinahe schmecken«, sagte sie. »Ja, vielleicht wirklich.« Sie lächelte. »Mmh, Nikotin.«
»Ja«, sagte er. »Warum sind Sie überhaupt zu den Frauen in dem Farmhaus gegangen?«
»Shadow hat mich darum gebeten«, sagte sie. »Er meinte, ich sollte sie um Wasser bitten.«
»Ich frage mich, ob er da wusste, was es bewirken würde. Wahrscheinlich nicht. Immerhin, es hat etwas Gutes, dass er tot am Baum hängt. Jetzt weiß ich jederzeit, wo er ist. Nämlich von der Bildfläche verschwunden.«
»Sie haben meinen Mann betrogen«, sagte sie. »Die ganze Zeit habt ihr ihn hinters Licht geführt. Er hat nämlich ein gutes Herz, wissen Sie das?«
»Ja«, sagte Mr. World. »Ich weiß. Wenn das hier vorbei ist, werde ich mir wahrscheinlich einen Mistelzweig anspitzen, zur Esche gehen und ihm den Zweig durchs Auge rammen. Aber jetzt darf ich um meinen Stock bitten.«
»Wozu brauchen Sie ihn denn?«
»Er ist ein Andenken an diesen ganzen traurigen Kladderadatsch«, sagte Mr. World. »Keine Angst, es ist kein Mistelzweig.« Er grinste kurz. »Er symbolisiert einen Speer, und in dieser trostlosen Welt kommt es auf Symbole an.«
Der Lärm von draußen verstärkte sich.
»Auf welcher Seite stehen Sie?«, fragte sie ihn.
»Es geht hier nicht um Seiten«, erwiderte er. »Aber wo Sie schon fragen: Ich bin auf der Gewinnerseite. Immer.«
Sie nickte, ließ den Stock aber nicht los.
Sie wandte sich von ihm ab und blickte durch den Höhleneingang nach draußen. Weit unter ihr bei den Felsen sah sie etwas, was glühte und pulsierte. Es wickelte sich um einen dünnen, bärtigen Mann mit malvenfarbenem Gesicht, der mit einem Schrubberstab auf es einschlug, einem Gummischrubber von der Art, mit dem Leute seinesgleichen an Ampeln über die Windschutzscheiben wischen. Ein Schrei ertönte, und die beiden waren dem Blickfeld entschwunden.
»Okay, ich gebe Ihnen den Stock«, sagte sie.
Mr. Worlds Stimme näherte sich von hinten. »Braves Mädchen«, sagte er aufmunternd, auf eine Weise, die ihr sowohl gönnerhaft als auch undefinierbar männlich erschien. Sie bekam eine Gänsehaut.
Sie wartete in dem Felseingang, bis sie seinen Atem an ihrem Ohr spüren konnte. Sie musste abwarten, bis er nahe genug war. Soweit hatte sie sich die Sache zumindest zurechtgelegt.
Der Flug war mehr als erhebend, er war elektrisierend.
Sie fegten wie ein gezackter Blitzstrahl durch den Sturm und zuckten von Wolke zu Wolke; sie bewegten sich wie das Donnergrollen, wie das Schwellen und Reißen des Wirbelsturms. Es war eine knisternde, unmöglich zu glaubende Reise. Es war keine Angst dabei: nur die Kraft des Sturms, unaufhaltsam und alles verschlingend, und die Freude des Fliegens.
Shadow grub die Finger in die Federn des Donnervogels und fühlte das statische Prickeln auf der Haut. Blaue Funken wanden sich ihm wie winzige Schlangen über die Hände. Regen überspülte sein Gesicht.
»Das ist das Größte«, rief er über das Tosen des Sturms hinweg.
Als hätte er ihn verstanden, stieg der Vogel noch höher auf, tauchte und stürzte sich, jeder Flügelschlag ein Donnern, durch die dunklen Wolken.
»In meinem Traum habe ich dich gejagt«, sagte Shadow, und die Worte wurden vom Wind zerzaust. »In meinem Traum, da musste ich eine Feder zurückbringen.«
Ja. Das Wort war in seinem Kopf wie das elektrostatische Knistern im Radio. Sie kamen wegen der Federn zu uns, um den anderen zu beweisen, dass sie Männer waren; und sie kamen zu uns, um die Steine aus unseren Köpfen zu schneiden, um ihre Toten mit unserem Leben zu beschenken.
Auf einmal breitete sich ein Bild in Shadows Innern aus: von einem Donnervogel – ein Weibchen, vermutete er, weil das Gefieder braun, nicht schwarz war –, das, soeben zu Tode gekommen, auf dem Berghang lag. Daneben eine Frau. Sie war dabei, den Schädel des Vogels mit einem Feuerstein aufzuknacken. Sie wühlte sich durch die nassen Knochenstücke und das Gehirn, bis sie einen glatten, reinen Stein, gelbbraun wie Granat, gefunden hatte, in dessen Tiefen opalisierende Feuer flackerten. Adlersteine, dachte Shadow. Sie würde den Stein zu ihrem kleinen Sohn bringen, der drei Nächte tot gelegen hatte, und ihn auf seine kalte Brust legen. Bis zum nächsten Sonnenaufgang würde der Junge wieder lebendig und fröhlich sein, der Edelstein aber grau und trübe und tot wie der Vogel, von dem er gestohlen worden war.
»Ich verstehe«, sagte er zu dem Vogel.
Der Vogel warf den Kopf zurück und krähte, und sein Schrei war der Donner.
Die Welt unter ihnen raste als ein seltsamer Traum an ihnen vorbei.
Laura veränderte den Griff, mit dem sie den Stock hielt, und wartete darauf, dass der Mann, den sie als Mr. World kannte, zu ihr trat. Sie stand von ihm abgewandt und blickte dabei hinaus in den Sturm und auf die dunkelgrünen Hügel unter ihnen.
In dieser trostlosen Welt, dachte sie, kommt es auf Symbole an. Jawohl.
Sie spürte seine Hand, die sich weich um ihre rechte Schulter schloss.
Gut, dachte sie. Er will mich nicht erschrecken. Er hat Angst, dass ich sonst seinen Stock in den Sturm hinauswerfe, dass er den Abhang hinunterfällt und er ihn dann nicht wieder findet.
Sie lehnte sich zurück, allerdings nur ein bisschen, nur so weit, dass sie mit dem Rücken seine Brust berührte. Sein linker Arm bog sich um sie herum. Es war eine vertrauliche Geste. Seine linke Hand schwebte offen vor ihr. Sie schloss beide Hände um das obere Ende des Stocks, atmete aus und konzentrierte sich.
»Bitte. Meinen Stock«, sprach er ihr ins Ohr.
»Ja«, sagte sie. »Es ist Ihrer.« Und dann, ohne zu wissen, ob es irgendetwas bedeutete, sagte sie: »Diesen Tod widme ich Shadow«, stieß sich den Stock dicht unterhalb des Brustbeins in die Brust und fühlte, wie er dabei zitterte und sich in ihren Händen in einen Speer verwandelte.
Die Grenze zwischen Gefühl und Schmerz war seit ihrem Tod unscharf geworden. Sie fühlte, wie die Speerspitze ihren Brustkorb durchdrang, fühlte, wie sie im Rücken wieder austrat. Ein kurzer Widerstand – sie drückte kräftiger –, und der Speer bohrte sich in Mr. World hinein. Sie konnte seinen warmen Atem auf ihrer kühlen Nackenhaut spüren, als er, vom eigenen Speer aufgespießt, vor Schmerz und Überraschung aufheulte.
Sie verstand die Worte nicht, die er ausstieß, kannte nicht einmal die Sprache, der sie angehörten. Sie drückte den Schaft des Speeres weiter nach hinten und zwängte ihn durch ihren Körper in seinen hinein und hindurch.
Sie fühlte, wie ihr sein heißes Blut auf den Rücken spritzte.
»Miststück«, sagte er in ihrer Sprache. »Du verdammtes Miststück.« Es lag etwas Nasses, Gurgelndes in seiner Stimme. Vermutlich hatte die Speerspitze einen Lungenflügel durchschnitten. Mr. World bewegte sich jetzt, versuchte es jedenfalls, und jede seiner Bewegungen brachte auch sie ins Schaukeln: Sie waren durch die Stange miteinander verbunden, hingen wie zwei Fische auf einem einzigen Spieß. Er hatte jetzt ein Messer in der Hand, wie sie sah, und er stach damit wahllos und wie wild auf ihre Vorderseite, ihre Brust, ein, ohne überhaupt sehen zu können, was er tat.
Es kümmerte sie nicht. Was können Messerstiche einer Leiche schon anhaben?
Sie ließ eine Faust hart auf sein wedelndes Handgelenk niedersausen, worauf das Messer zu Boden flog. Mit dem Fuß stieß sie es in einen entlegenen Winkel der Höhle.
Nun war er am Heulen und Zähneklappern. Sie fühlte, wie er gegen sie drückte und mit den Händen an ihrem Rücken herumfummelte, wie ihr seine heißen Tränen auf ihren Nacken fielen. Ihr Rücken war von seinem Blut klatschnass, Blut, das mittlerweile auch hinten an ihren Beinen herunterlief.
»Das muss furchtbar würdelos aussehen«, flüsterte sie, nicht ohne eine gewisse grimme Belustigung.
Sie merkte, dass Mr. World hinter ihr stolperte, worauf auch sie stolperte, und dann rutschte sie in dem Blut aus – es war alles seines –, das sich auf dem Höhlenboden sammelte und Lachen bildete, und sie schlugen beide hin.
Der Donnervogel landete auf dem Parkplatz von Rock City. Es regnete in Strömen. Shadow konnte kaum fünf Meter weit sehen. Er ließ die Federn des Donnervogels los, und halb rutschte er, halb stürzte er auf den nassen Asphalt.
Ein Blitz zuckte, und der Vogel war verschwunden.
Shadow rappelte sich hoch.
Der Parkplatz war zu drei Vierteln leer. Shadow ging auf den Eingang zu. Er kam an einem braunen Ford Explorer vorbei, der neben einer Mauer stand. Das Auto kam ihm ausgesprochen bekannt vor. Er sah es sich neugierig an und bemerkte den Mann, der über dem Steuer zusammengesunken darin saß, als würde er schlafen.
Shadow zog die Fahrertür auf.
Zuletzt hatte er Mr. Town vor dem Motel am Mittelpunkt von Amerika gesehen. Der Ausdruck auf seinem Gesicht spiegelte Überraschung wider. Ihm war fachmännisch das Genick gebrochen worden. Shadow berührte das Gesicht des Mannes. Es war noch warm.
Shadow bemerkte einen Duft im Wageninnern, einen ganz schwachen Duft, wie der Nachklang eines Parfüms von jemandem, der Jahre zuvor das Zimmer verlassen hatte, aber Shadow hätte es immer und überall wiedererkannt. Er schlug die Tür des Wagens zu und überquerte den Parkplatz.
Beim Gehen spürte er ein Stechen in der Seite, einen heftigen Schmerz, nur eine Sekunde lang, oder nicht einmal, dann war er wieder verschwunden.
Es war niemand da, der Eintrittskarten verkaufte. Er ging durch das Gebäude hindurch und betrat die Gärten von Rock City.
Donner grollte, die Äste der Bäume knackten, selbst die riesigen Felsen schienen im Innern zu erzittern, und der Regen fiel mit kalter Wucht. Es war später Nachmittag, aber dunkel, als wäre die Nacht angebrochen.
Ein Blitzstrahl zuckte über die Wolken, und Shadow fragte sich, ob das wohl der Donnervogel war, der zu seinen hohen Felsspitzen zurückkehrte, oder nur eine atmosphärische Entladung oder ob am Ende beides irgendwie auf dasselbe hinauslief.
Und natürlich tat es das. Das war ja überhaupt der springende Punkt.
Von irgendwo ertönte der Ruf einer Männerstimme. Shadow hörte ihn. Doch das einzige, was er verstand oder zu verstehen glaubte, waren die Worte: »… dem Odin!«
Shadow eilte über den Fahnenplatz der Sieben Bundesstaaten, wo das Regenwasser inzwischen mit hoher Geschwindigkeit über die Steinplatten strömte. Einmal rutschte er auf dem glitschigen Untergrund aus. Dicke Wolkenschichten umgaben den Berg, und in all der sturmbewegten Dunkelheit war jenseits des Platzes kein einziger Bundesstaat zu sehen.
Es war völlig still. Der Ort schien gänzlich verlassen zu sein.
Er rief aufs Geratewohl, und es schien ihm, als würde jemand antworten. Er ging in die Richtung, aus der die Stimme gekommen sein musste.
Niemand. Nichts. Nur eine Kette vor dem Eingang zu einer Höhle, die für Besucher gesperrt war.
Shadow stieg über die Kette.
Er blickte sich um, spähte in die Dunkelheit hinein.
Es kribbelte auf seiner Haut.
Aus dem Schatten hinter ihm sprach eine völlig ruhige Stimme: »Du hast mich nie enttäuscht.«
Shadow drehte sich nicht um. »Das ist aber eigenartig. Mich selbst habe ich nämlich die ganze Zeit enttäuscht. Immer wieder.«
»Nicht im Geringsten«, sagte die Stimme. »Du hast alles getan, was du tun solltest, und sogar mehr als das. Du hast die Aufmerksamkeit aller auf dich gelenkt, sodass sie nie auf die Hand geschaut haben, in der die Münze war. Misdirection ist wohl der Fachausdruck dafür. Und es steckt viel Kraft in der Opferung eines Sohnes – Kraft genug, mehr als genug, um die ganze Sache ins Rollen zu bringen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich bin stolz auf dich.«
»Es war Beschiss«, sagte Shadow. »Von vorn bis hinten. Nichts von alledem war echt. Alles hat nur der Vorbereitung eines Massakers gedient.«
»Genau«, sagte Wednesday aus dem Schatten. »Es war Beschiss. Aber es war das einzige Spiel in der Stadt.«
»Ich suche Laura«, sagte Shadow. »Und Loki. Wo sind sie?«
Es folgte nur Stille. Regen wehte ihn an. Donnergrollen ertönte aus der Nähe.
Er ging tiefer in die Höhle hinein.
Loki der Lügenschmied saß auf dem Boden, mit dem Rücken an einen Metallkäfig gelehnt, in dem betrunkene Kobolde mit einem Destilliergerät hantierten. Er war in eine Decke gehüllt. Nur sein Gesicht war zu sehen, und seine Hände, die, weiß und langgliedrig, auf der Decke lagen. Auf einem Stuhl daneben stand eine Elektrolaterne. die Batterien mussten fast leer sein, weil das Licht, das sie spendete, nur mehr gelblich trüb war.
Loki sah blass und angeschlagen aus.
Die Augen jedoch. Die Augen waren noch voller Feuer und funkelten Shadow entgegen, als dieser durch die Höhle geschritten kam.
Ein paar Schritte von Loki entfernt blieb Shadow stehen.
»Du kommst zu spät«, sagte Loki. Seine Stimme klang krächzend und gurgelnd. »Ich habe den Speer geworfen. Ich habe die Schlacht feierlich eröffnet. Sie hat begonnen.«
»O Scheiße«, sagte Shadow.
»O Scheiße, genau«, sagte Loki. »Was du jetzt auch unternimmst, spielt keine Rolle mehr.«
Shadow dachte nach. Dann sagte er. »Den Speer musstest du werfen, um die Schlacht in Gang zu bringen. Die ganze alte Uppsala-Kiste. Und das ist die Schlacht, von der ihr euch nährt. Hab ich Recht?«
Schweigen. Er konnte Lokis Atem hören, ein entsetzlich rasselndes Luftholen.
»Ich bin dahinter gekommen«, sagte Shadow. »Mehr oder weniger. Ich bin mir allerdings nicht mehr sicher, wann das war. Vielleicht, als ich am Baum gehangen habe. Vielleicht schon vorher. Es war irgendwas, das Wednesday zu mir gesagt hat, zu Weihnachten.«
Loki starrte ihn nur vom Boden aus an und sagte nichts.
»Es ist einfach ein Zwei-Mann-Schwindel«, sagte Shadow. »Wie bei dem Bischof mit der Diamantenhalskette und dem Cop, der ihn verhaftet. Wie bei dem Mann mit der Geige und dem Typ, der sie ihm abkaufen will. Zwei Männer, die Gegenspieler zu sein scheinen, in Wirklichkeit aber gemeinsame Sache machen.«
»Das ist albern«, flüsterte Loki.
»Wirklich? Was du da im Motel gemacht hast, das hat mir gut gefallen. Das war clever. Du musstest dabei sein, um sicherzustellen, dass alles nach Plan verlief. Ich hab dich gesehen. Ich hab sogar begriffen, wer du bist. Aber trotzdem ist mir da nicht aufgegangen, dass du deren Mister World warst.«
Shadow hob die Stimme. »Du kannst rauskommen«, sagte er in die Höhle hinein. »Wo immer du bist. Zeige dich.«
Der Wind heulte im Eingang der Höhle und wehte einige Regenspritzer in ihre Richtung. Shadow erschauerte.
»Ich hab’s satt, für dumm verkauft zu werden«, sagte er. »Zeig dich einfach. Ich möchte dich sehen.«
Etwas an dem Schatten im hinteren Teil der Höhle veränderte sich. Etwas gewann mehr Festigkeit und bewegte sich. »Du weißt verdammt noch mal zu viel, mein Junge«, sagte Wednesday mit seinem vertrauten Grummeln.
»Sie haben dich also nicht getötet.«
»Doch, sie haben mich getötet«, sagte Wednesday aus dem Schatten. »Das alles hätte nicht funktioniert, wenn sie mich nicht getötet hätten.« Seine Stimme kam undeutlich – nicht eigentlich leise, aber sie hatte etwas, was Shadow an ein altes Radio mit einem fernen, nicht ganz richtig eingestellten Sender denken ließ. »Wenn ich nicht wahrhaftig gestorben wäre, hätten wir sie niemals alle hierher gekriegt«, sagte Wednesday. »Kali und die Morrigan und die Scheißalbaner und … Nun, du hast sie ja alle gesehen. Es war mein Tod, der sie hier hat zusammenkommen lassen. Ich war das Opferlamm.«
»Nein, du warst das Judasschaf.«
Die Geistererscheinung im Schatten drehte und verschob sich. »Keineswegs. Das würde unterstellen, dass ich die alten an die neuen Götter verraten hätte. Was aber nicht der Fall ist.«
»Überhaupt nicht«, flüsterte Loki.
»Ich verstehe«, sagte Shadow. »Ihr zwei habt nicht nur die eine Seite verraten, ihr habt beide Seiten betrogen.«
»Ich glaube, so kann man es ausdrücken«, sagte Wednesday. Er klang hochzufrieden.
»Ihr wolltet ein Massaker. Ihr brauchtet ein Blutopfer. Bei dem Götter geopfert werden.«
Der Wind wurde stärker, und aus dem Heulen vor dem Höhleneingang wurde ein Kreischen, als wollte ein unermesslicher Schmerz sich Ausdruck verschaffen.
»Warum auch nicht, zum Teufel? Ich sitze seit fast zwölfhundert Jahren in diesem verdammten Land fest. Mein Blut ist bereits ganz dünn. Ich habe Hunger.«
»Und ihr beide nährt euch vom Tod«, sagte Shadow.
Er glaubte Wednesday jetzt sehen zu können. Er war ein aus Dunkelheit bestehender Umriss, der sich erst verdichtete, wenn Shadow nicht hinsah, der nur am Rande seines Blickfelds Gestalt annahm. »Ich nähre mich von Toden, die mir gewidmet sind«, sagte Wednesday.
»Wie mein Tod am Baum«, sagte Shadow.
»Das«, sagte Wednesday, »war etwas Besonderes.«
»Und nährst du dich auch vom Tod?«, fragte Shadow, an Loki gerichtet.
Loki schüttelt müde den Kopf.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Shadow. »Du nährst dich vom Chaos.«
Darauf lächelte Loki, ein kurzes, gequältes Lächeln, und orange Flammen tanzten in seinen Augen und flackerten wie brennende Spitze unter seiner blassen Haut.
»Ohne dich hätten wir es nicht tun können«, sagte Wednesday in Shadows Augenwinkeln. »Ich war mit so vielen Frauen zusammen …«
»Du brauchtest einen Sohn«, sagte Shadow.
»Ich brauchte dich, mein Junge«, echote Wednesdays Geisterstimme. »Ja. Meinen eigenen Sohn. Ich wusste, dass du empfangen worden warst, aber deine Mutter hat plötzlich das Land verlassen. Wir haben so lange gebraucht, um dich zu finden. Und als wir dich endlich hatten, da hast du im Gefängnis gesessen. Wir mussten herausfinden, was dich trieb. Welche Knöpfe wir drücken mussten, um dich in Bewegung zu setzen. Wer du warst.« Loki sah vorübergehend recht selbstzufrieden drein. »Und du hattest eine Frau und also ein Zuhause. Das war unglücklich, aber kein unüberwindliches Hindernis.«
»Sie hat nichts getaugt«, flüsterte Loki. »Ohne sie warst du viel besser dran.«
»Wenn’s doch bloß auf andere Weise hätte sein können«, sagte Wednesday, und diesmal wusste Shadow, was er damit meinte.
»Wenn sie wenigstens … den Anstand gehabt hätte … tot zu bleiben«, keuchte Loki. »Wood und Stone … waren gute Männer. Du solltest … die Möglichkeit zur Flucht bekommen … wenn der Zug durch die Dakotas fahren würde …«
»Wo ist sie?«, fragte Shadow.
Loki streckte einen blassen Arm aus und deutete auf den hinteren Teil der Höhle.
»Sie ist da lang«, sagte er. Ohne Vorwarnung kippte er daraufhin vornüber und brach auf dem Steinboden zusammen.
Shadow sah jetzt, was die Decke verborgen hatte: die Blutlache, das Loch in Lokis Rücken, den rehbraunen Regenmantel, der sich mit schwarzem Blut voll gesogen hatte. »Was ist passiert?«, fragte er.
Loki schwieg.
Shadow hatte nicht den Eindruck, dass Loki je wieder etwas sagen würde.
»Deine Frau ist ihm passiert, mein Junge«, sagte Wednesdays ferne Stimme. Er war jetzt schlechter zu sehen, so als würde er zurück in den Äther verschwinden. »Aber die Schlacht wird ihn zurückholen. Wie sie auch mich endgültig zurückbringen wird. Ich bin ein Gespenst, und er ist eine Leiche, aber trotzdem haben wir gewonnen. Das Spiel war manipuliert.«
»Nichts leichter«, sagte Shadow, dem das wieder einfiel, »als ein manipuliertes Spiel umzudrehen.«
Es kam keine Antwort. Nichts rührte sich mehr im Schatten.
»Auf Wiedersehen«, sagte Shadow, und dann: »Vater.« Inzwischen gab es in der Höhle jedoch keine Spur mehr von einer anderen Person. Nicht die geringste.
Shadow ging zurück zum Fahnenplatz der Sieben Bundesstaaten, sah dort aber niemanden und hörte auch nichts außer dem Knattern der Fahnen im Sturmwind. Keine Personen mit Schwertern neben dem Tausend-Tonnen-Felsstein-im-Gleichgewicht, keine Verteidiger der Schaukelbrücke. Er war allein.
Absolut nichts zu sehen. Der Ort war verlassen. Es war ein leeres Schlachtfeld.
Nein. Nicht verlassen. Das war nicht ganz richtig.
Das hier war Rock City. Seit Tausenden von Jahren ein Ort der Ehrfurcht und des Gottesdienstes. Heute hatten die Millionen von Touristen, die durch die Gärten wanderten und über die Schaukelbrücke wankten, dieselbe Wirkung wie Wasser, das eine Million Gebetsmühlen drehte. Die Realität war hier nur recht dünn. Und Shadow wusste, wo die Schlacht nur stattfinden konnte.
Also ging er los. Er dachte daran zurück, wie er sich auf dem Karussell gefühlt hatte, und versuchte wieder auf genau die gleiche Weise zu fühlen …
Er erinnerte sich, wie er den Winnebago gesteuert, ihn in einen rechten Winkel zu allem gedreht hatte. Er versuchte diese Empfindung zu rekonstruieren …
Und dann, wie von selbst, geschah es.
Es war, als stieße man durch eine Membran, tauche aus tiefem Wasser an die Oberfläche. Ein einziger Schritt brachte ihn vom Touristenpfad hin zu …
Zu einem realen Ort. Er war hinter der Bühne.
Er befand sich immer noch auf der Spitze des Berges, so weit hatte sich nichts verändert. Aber es war einiges dazugekommen. Der Berggipfel war auf einmal die Quintessenz von Örtlichkeit, das Herz der Dinge, wie sie waren. Verglichen damit war der Lookout Mountain, den er soeben verlassen hatte, reine Kulissenmalerei gewesen, ein Modell aus Pappmaschee, wie man es vom Fernsehen her kannte – nur eine Wiedergabe der Sache, nicht die Sache selbst.
Das hier war der wahre, echte Ort.
Die Felswände bildeten ein natürliches Amphitheater. Es gab felsige Pfade, die sich rundherum und quer hinüber wanden und dabei durch und über die Felswände wie auf Escher-Bildern verschlungene natürliche Brücken bildeten.
Und der Himmel …
Der Himmel war finster. Aber die Welt darunter war von einem brennend grünlich-weißen Strahl erleuchtet, der heller als die Sonne war und sich, was völlig verrückt aussah, über den gesamten Himmel von einem Ende zum anderen gabelte wie ein weißer Riss im dunklen Himmelszelt.
Das war ein Blitz, begriff Shadow. Eingefroren in einem Augenblick, der sich ins Ewige dehnte. Das Licht, das er warf, war grell und unbarmherzig: Es bleichte die Gesichter aus und ließ die Augen in dunklen Höhlen versinken.
Dies war der Augenblick des Sturms.
Die Paradigmen verschoben sich. Er konnte es spüren. Die alte Welt, eine Welt unendlicher Weite, grenzenloser Ressourcen und Zukunft, wurde von etwas anderem herausgefordert – einem Netzwerk aus Energie, Meinungen und Abgründen.
Die Menschen glauben, dachte Shadow. So sind sie nun mal. Sie glauben. Aber dann wollen sie die Verantwortung für das, was sie glauben, nicht übernehmen; sie beschwören Dinge, aber trauen den Beschwörungen nicht. Die Menschen bevölkern die Dunkelheit mit Geistern, mit Göttern, mit Elektronen, mit Geschichten. Sie denken sich etwas aus, und sie glauben: Und es ist dieser Glaube, dieser felsenfeste Glaube, der die Welt bewegt.
Der Berggipfel war eine Arena, das erkannte er sofort. Und auf beiden Seiten der Arena hatten sie Aufstellung genommen.
Sie waren zu groß. Alles war viel zu groß an diesem Ort.
Da waren die alten Götter: Götter, deren Haut braun wie ein alter Pilz war, rosa wie Hühnerfleisch, gelb wie Herbstlaub. Einige waren verrückt, andere normal. Shadow erkannte die alten Götter. Er war ihnen bereits begegnet, ihnen oder solchen, die ihnen glichen. Es waren Ifrits und Kobolde, Riesen und Zwerge. Er sah die Frau, die er aus dem verdunkelten Schlafzimmer in Rhode Island kannte, sah die grünen Schlangenspiralen ihrer Haare. Er sah Mama-ji, die auf dem Karussell gewesen war, sie hatte Blut an den Händen und ein Lächeln auf dem Gesicht. Er kannte sie alle.
Die neuen erkannte er auch.
Da war einer, der ein Eisenbahnbaron sein musste, in einem altertümlichen Anzug, mit einer Uhrkette, die sich quer über seine Weste zog. Er trat auf wie jemand, der schon bessere Tage gesehen hatte. Seine Stirn zuckte.
Da waren die großen grauen Götter der Aeroplane, Erben all der Träume vom Schwerer-als-Luft-Reisen.
Automobilgötter waren anwesend: ein mächtiges Kontingent mit ernsten Gesichtern, Blut an den schwarzen Handschuhen und den Chromzähnen: Empfänger von Menschenopfern in einer Größenordnung, wie sie seit den Azteken undenkbar schien. Selbst sie schienen sich unbehaglich zu fühlen. Welten verändern sich.
Andere hatten verschmierte Phosphorgesichter; sie glühten sanft, als existierten sie nur in ihrem eigenen Licht.
Shadow hatte mit ihnen allen Mitleid.
Bei den neuen war eine gewisse Arroganz zu erkennen. Aber Shadow sah auch Furcht.
Sie befürchteten, dass, sofern sie mit einer sich wandelnden Welt nicht Schritt hielten, sofern sie nicht die Welt nach ihrem Bilde umgestalteten und neu schufen, ihre Zeit bereits abgelaufen sein könnte.
Jede Seite sah der anderen mit entschlossenem Mut ins Auge. Jede Seite sah in den Gegnern die Dämonen, die Monster, die Verdammten.
Shadow bemerkte, dass es bereits zu ersten Gefechten gekommen war. Die Felsen trugen Blutspuren.
Sie machten sich für die eigentliche Schlacht bereit: für den eigentlichen Krieg. Jetzt oder nie, dachte er. Wenn er jetzt nicht handelte, war es zu spät.
In Amerika dauert alles ewig, sagte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Die Fünfziger dauerten tausend Jahre lang. Du hast alle Zeit der Welt.
Shadow bewegte sich auf eine Weise, die halb Schreiten, halb gelenktes Stolpern war, in die Mitte der Arena.
Er fühlte Augen auf sich gerichtet, Augen und Dinge, die nicht im strengen Sinne Augen waren. Er erschauderte.
Das machst du sehr gut, sagte die Bisonstimme Verdammt richtig, dachte Shadow. Ich hin heute Morgen von den Toten zurückgekehrt. Danach sollte alles Weitere doch wohl ein Klacks sein.
»Wisst ihr«, sagte Shadow mit möglichst ungezwungener Stimme in die Luft. »Das hier ist kein Krieg. Es sollte nie ein Krieg sein. Falls irgendjemand von euch glaubt, dass das ein Krieg ist, dann macht er sich etwas vor.« Von beiden Seiten vernahm er murrende Geräusche. Er hatte offenbar keinen Eindruck gemacht.
»Wir kämpfen um unser Überleben«, sagte ein Minotaurus von einer Seite der Arena her.
»Wir kämpfen um unsere Existenz«, rief von der anderen ein Mund in einer Säule glitzernden Rauchs.
»Das hier ist kein geeignetes Land für Götter«, sagte Shadow. Als Eröffnung konnte sich das nicht unbedingt mit Mitbürger, Freunde, Römer messen, aber für seine Verhältnisse mochte es reichen. »Vermutlich habt ihr das inzwischen alle, jeder auf seine Weise, erfahren. Die alten Götter werden ignoriert. Die neuen Götter werden zuerst freudig angenommen, dann aber ebenso schnell wieder verabschiedet und zugunsten der nächsten großen Sache beiseite geworfen. Entweder geratet ihr in Vergessenheit oder ihr müsst ständig Angst haben, als veraltet zu gelten; vielleicht seid ihr es auch leid, von den Launen der Leute abhängig zu sein.«
Das Murren wurde weniger. Er hatte jetzt offenbar etwas gesagt, dem sie zustimmten. Jetzt, wo sie ihm zuhörten, musste er ihnen die ganze Geschichte erzählen.
»Es war einmal ein Gott, der kam aus einem fernen Land hierher, und seine Macht und sein Einfluss schwanden, je mehr der Glaube an ihn schwand. Er war ein Gott, der seine Kraft aus Opfern gewann, aus dem Tod, und vor allem aus dem Krieg. Der Tod derer, die im Krieg fielen, war ihm gewidmet – es waren ganze Schlachtfelder, die ihm in der alten Heimat Nahrung und Macht gesichert hatten.
Jetzt war er alt geworden. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich als Betrüger, wobei er mit einem anderen Gott aus seinem Pantheon zusammenarbeitete, einem Gott des Chaos und der Täuschung. Gemeinsam nahmen sie die Leichtgläubigen aus. Gemeinsam knöpften sie den Leuten alles ab, was sie hatten.
Irgendwann – vielleicht vor fünfzig, vielleicht vor hundert Jahren – setzten sie einen Plan ins Werk, den Plan, eine Kraftreserve anzulegen, die sie beide jederzeit anzapfen konnten. Etwas, das sie stärker denn je machen sollte. Denn was könnte mächtiger und kräftespendender sein als ein von toten Göttern übersätes Schlachtfeld? Das Spiel, das sie spielten, hieß ›Wir fangen einen Krieg an‹.
Versteht ihr?
Die Schlacht, die zu schlagen ihr gekommen seid, ist keine, die ihr gewinnen oder verlieren könnt. Sieg und Niederlage sind ihm, sind ihnen, ganz unwichtig. Es kommt nur darauf an, dass möglichst viele von euch sterben. Jeder von euch, der in der Schlacht fällt, gibt ihm Kraft. Von jedem, der stirbt, kann er sich nähren. Begreift ihr?«
Ein dröhnend dumpfer Klang wie von etwas, das Feuer fing, hallte durch die Arena. Shadow blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Ein gewaltiger Mann – die Haut tiefbraun wie Mahagoni, die Brust nackt, auf dem Kopf ein Zylinder, eine Zigarre keck im Mund – sprach mit einer Stimme, die so tief war wie das Grab. »Okay«, sagte Baron Samedi. »Aber Odin. Er ist gestorben. Bei den Friedensverhandlungen. Die Schweine haben ihn umgebracht. Er ist gestorben. Ich weiß, was Tod ist. Niemand macht mir was vor, wenn’s um den Tod geht.«
»Er musste wahrhaftig sterben«, sagte Shadow. »Natürlich. Er opferte seine körperliche Hülle, um diesen Krieg möglich zu machen. Nach der Schlacht würde er nämlich gesünder und kräftiger sein als je zuvor.«
»Wer bist du?«, rief jemand.
»Ich bin … ich war … ich bin sein Sohn.«
Einer der neuen Götter – die Art, wie er lächelte und glitzerte, ließ Shadow vermuten, dass er eine Droge war – sagte: »Aber Mister World hat gesagt …«
»Es gibt keinen Mister World. Eine solche Person hat nie existiert. Er war genauso ein Typ wie ihr alle, einer, der sich von dem Chaos nähren wollte, das er selbst geschaffen hat.«
Sie glaubten ihm, und er konnte die Kränkung in ihren Augen sehen.
Shadow schüttelte den Kopf. »Wisst ihr«, sagte er. »Ich glaube, ich wäre lieber ein Mensch als ein Gott. Wir Menschen brauchen niemanden, der an uns glaubt. Wir machen einfach immer irgendwie weiter. So sind wir und nicht anders.«
Auf der Stätte herrschte Schweigen.
Auf einmal stürzte mit entsetzlichem Krachen der im Himmel eingefrorene Blitzstrahl auf den Berggipfel, und die Arena versank in völligem Dunkel.
Viele der Wesenheiten vor ihm glühten in der Dunkelheit. Shadow fragte sich, ob sie Streit anfangen, ihn angreifen, ihn zu töten versuchen würden. Er wartete auf irgendeine Reaktion.
Und dann sah Shadow, wie die glühenden Lichter ausgingen. Die Götter verließen den Ort, erst einzeln, dann in Gruppen, schließlich in Scharen.
Eine Spinne von der Größe eines Rottweilers walzte auf sieben Beinen auf ihn zu; aus sämtlichen ihrer Augen drang ein schwaches Funkeln.
Shadow hielt die Stellung, obwohl ihm etwas übel wurde.
Als die Spinne nahe genug war, sagte sie mit Mr. Nancys Stimme: »Was für eine Vorstellung. Ich bin stolz auf dich. Das hast du gut gemacht.«
»Danke«, sagte Shadow.
»Wir sollten dich zurückbringen. Wenn du zu lange an diesem Ort bleibst, wird es dir nicht gut bekommen.« Die Spinne legte Shadow ein braun behaartes Bein auf die Schulter …
… und dann, auf dem Fahnenplatz der Sieben Bundesstaaten, musste Mr. Nancy husten. Seine rechte Hand lag auf Shadows Schulter. Es hatte aufgehört zu regnen. Mr. Nancy hielt sich mit der linken Hand die Seite, als hätte er Schmerzen. Shadow fragte, ob alles in Ordnung sei.
»Ich bin zäh wie altes Leder«, sagte Mr. Nancy. »Ach was, zäher.« Er klang nicht besonders glücklich. Er klang wie ein leidender alter Mann.
Da waren Dutzende von ihnen, die herumstanden oder auf Bänken oder der Erde saßen. Einige schienen schwer verwundet zu sein.
Shadow hörte ein Knattern im Himmel, das sich von Süden her näherte. Er sah Mr. Nancy an. »Hubschrauber?«
Mr. Nancy nickte. »Vor denen brauchst du keine Angst zu haben. Das ist vorbei. Die räumen hier nur die Bescherung weg und verschwinden dann wieder.«
»Verstehe.«
Einen Teil der Bescherung wollte Shadow sich jedoch selbst ansehen, bevor er weggeräumt wurde. Er borgte sich eine Taschenlampe von einem grauhaarigen Mann, der wie ein Nachrichtenmoderator im Ruhestand aussah, und begab sich auf die Suche.
Er fand Laura auf dem Boden ausgestreckt in einer Seitenhöhle neben einem Diorama mit Bergbau treibenden, unmittelbar aus Schneewittchen entsprungenen Zwergen. Der Boden unter ihr war blutgetränkt. Sie lag auf der Seite, dort, wo Loki sie anscheinend hatte fallen lassen, nachdem er den Speer aus ihrer beider Körper gezogen hatte.
Eine von Lauras Händen war gegen ihre Brust gepresst. Sie sah furchtbar verletzlich aus. Sie sah, genauer gesagt, ziemlich tot aus, aber daran hatte Shadow sich inzwischen fast gewöhnt.
Shadow hockte sich neben sie, legte ihr eine Hand an die Wange und sprach ihren Namen aus. Sie öffnete die Augen, hob den Kopf und drehte ihn, bis sie ihm zugewandt war.
»Hallo, Hündchen«, sagte sie. Ihre Stimme kam sehr dünn.
»Hi, Laura. Was ist hier passiert?«
»Nichts«, sagte sie. »Irgendwas halt. Haben sie gewonnen?«
»Ich habe die Schlacht verhindert, die sie schlagen wollten.«
»Mein schlaues Hündchen«, sagte sie. »Dieser Mann da, Mister World, der hat gesagt, dass er dir einen Stock durchs Auge bohren will. Der hat mir überhaupt nicht gefallen.«
»Er ist tot. Du hast ihn getötet, Schatz.«
Sie nickte. »Das ist gut.«
Sie schloss die Augen. Shadow fand ihre kalte Hand und hielt sie in seiner. Nach einer Weile machte sie die Augen wieder auf.
»Hast du rausfinden können, wie du mich von den Toten zurückholen kannst?«
»Ich glaub schon«, sagte er. »Eine Möglichkeit kenne ich.«
»Das ist gut«, sagte sie. Sie drückte ihm mit ihrer kalten Rechten die Hand. »Und das Gegenteil? Wie ist es damit?«
»Das Gegenteil?«
»Ja«, flüsterte sie. »Ich glaube, das müsste ich mir jetzt verdient haben.«
»Das will ich nicht tun.«
Sie schwieg. Sie wartete einfach.
»Okay«, sagte Shadow, löste die Hand von ihrer und legte sie ihr an den Hals.
»So kenn ich meinen Mann.« Sie sagte es stolz.
»Ich liebe dich, Kleines«, sagte Shadow.
»Ich liebe dich, Hündchen«, flüsterte sie.
Er schloss die Hand um die goldene Münze, die ihr um den Hals hing. Er zog fest an der Kette, die daraufhin ohne großen Widerstand zerriss. Dann nahm er die Goldmünze zwischen Daumen und Zeigefinger, blies dagegen und machte die Hand weit auf.
Die Münze war verschwunden.
Ihre Augen waren noch immer geöffnet, bewegten sich aber nicht.
Er beugte sich hinunter und küsste sie zärtlich auf die kalte Wange, aber sie reagierte nicht. Er hatte es nicht anders erwartet. Er stand auf, verließ die Höhle und starrte hinaus in die Nacht.
Die Stürme waren abgezogen. Die Luft war frisch und rein und fühlte sich an wie neu.
Morgen, da hatte er keinen Zweifel, würde ein verdammt schöner Tag werden.