Fünfundvierzigstes Kapitel
Der kleine Zug bewegte sich lautlos an der ewig rotierenden, endlichen und gleichzeitig unendlichen Zuckerserpentine von Mr. Crosettis Friseurladen vorbei, vorbei an den dunklen oder gerade dunkel werdenden Läden, durch die leeren Straßen. Die Leute waren jetzt nach dem Abendessen im Kirchenverein wieder zu Hause, oder sie waren zur letzten Vorstellung, zum letzten Sprung des Artisten von der hohen Leiter ins winzige Wasserbecken hinaus zum Zirkus gezogen.
Will spürte, wie tief unten seine Füße über den Bürgersteig schlurften. Eins, zwei, dachte er. Jemand sagt es mir. Die Drachenfliege flüsterte es mir zu: Eins, zwei.
Ist Jim auch mit dabei? Will warf einen raschen Blick zur Seite. Ja! Aber wer ist der Kleine? Der verrückt gewordene Zwerg, dem alles interessant war, der alles berührte, für den alles glühende Eisen waren, vor denen er zurückzuckte. Und das Skelett. Und hinter ihm? Wer waren all die Hunderte, nein, Tausende Menschen, die ihm folgten, deren Atem er in seinem Nacken spürte?
Der Illustrierte Mann.
Will nickte und winselte so leise und so hoch, daß nur Hunde ihn hören konnten. Hunde, die nicht reden, die ihm nicht helfen konnten.
Natürlich! Bei einem raschen Seitenblick bemerkte er nicht nur einen, sondern zwei, drei Hunde, die eine Gelegenheit witterten. Sie liefen vor dem kleinen Zug her, fielen dann wieder zurück, und ihre aufgestellten Schwänze waren die Standarten des Trupps.
Bellt, dachte Will. Bellt wie in den Filmen, ruft die Polizei herbei!
Aber die Hunde lächelten nur und trabten nebenher.
Ein Zufall, dachte Will. Bitte, nur ein kleiner Zufall!
Mr. Tetley! Ja! Will sah Mr. Tetley und sah ihn doch wieder nicht. Er schob den hölzernen Indianer in den Laden und schloß für die Nacht alles ab.
"Schaut zur Seite!" murmelte der Illustrierte Mann.
Jim blickte zur Seite. Will wandte seinen Kopf.
Mr. Tetley lächelte.
"Lächeln!" befahl Mr. Dark.
Die beiden Jungen lächelten.
"Hello!" sagte Mr. Tetley.
"Sagt ihm hello", flüsterte jemand.
"Hello", sagte Jim.
"Hello", sagte Will.
Die Hunde bellten.
"Freifahrt auf dem Karussell", murmelte Mr. Dark.
"Wir haben Freifahrtscheine", sagte Will.
"Beim Zirkus", fügte Jim automatisch hinzu.
Wie gutgeölte Maschinen schalteten sie ihr Lächeln wieder ab.
"Viel Spaß!" rief Mr. Tetley.
Die Hunde bellten freudig.
Dann bewegte sich der Zug weiter.
"Spaß", sagte Mr. Dark. "Freifahrten. Wenn alle nach Hause gehen. In einer halben Stunde. Jim darf fahren. Du willst doch noch auf dem Karussell fahren, Jim?"
Will hörte es und hörte es nicht. Er fühlte sich in der eigenen Brust eingesperrt und dachte: Jim, hör ihm nicht zu!
Jims Augen schwammen, ob wäßrig oder ölig, war schwer zu sagen.
"Du fährst mit uns, Jim, und wenn Mr. Cooger es nicht überlebt – sicher ist es nicht, wir haben ihn noch nicht gerettet, aber wir werden es jetzt noch einmal versuchen –, dann Jim, willst du vielleicht mein Partner werden?
Wie wäre das? Ich schenke dir ein hübsches, kraftvolles Alter. Einundzwanzig? Fünfundzwanzig? Dark und Nightshade, Nightshade und Dark. Genau passend für uns beide, wenn wir mit unserer Schau durch die weite Welt ziehen. Was hältst du davon, Jim?"
Jim sagte nichts. Er war eingesponnen in den Traum der Hexe.
Hör nicht hin, wimmerte sein bester Freund, der alles hörte und doch nicht hörte.
"Und Will?" fragte Mr. Dark. "Den lassen wir zurückfahren, wie? Aus ihm machen wir ein kleines Baby, das der Zwerg auf den Armen wiegt und wie einen winzigen Clown beim Umzug mitschleppt, jeden Tag in den nächsten fünfzig Jahren. Möchtest du das, Will? Für immer ein Baby sein? Nicht mehr reden können, nichts von den feinen Dingen sagen können, die du weißt? Ja, ich denke, das wird das beste für Will sein. Ein Spielzeug. Ein kleiner feuchter Freund für den Zwerg."
Will muß wohl aufgeschrien haben.
Aber nicht laut.
Denn nur die Hunde bellten erschrocken. Kläffend sausten sie davon, als hätte jemand mit Steinen nach ihnen geworfen.
Ein Mann bog um die Ecke.
Ein Polizist.
"Wer ist das?" fragte Mr. Dark leise.
"Mr. Kolb", antwortete Jim.
"Mr. Kolb!" sagte Will.
"Spitznadelig", flüsterte Mr. Dark. "Drachenfliege."
Will spürte, wie ein heißer Schmerz in seine Ohren stach. Moos verstopfte ihm die Augen. Seine Zähne waren aneinandergeklebt. Er fühlte, wie etwas über sein Gesicht huschte, tappte, streichelte. Alles fühlte sich wieder taub an.
"Sagt hello zu Mr. Kolb!"
"Hello", sagte Jim.
"... Kolb...", murmelte Will verträumt.
"Hello, ihr beiden. Hello, Sir."
"Rechtsum!" befahl Mr. Dark.
Sie gehorchten.
Ohne Trommeln und Trompeten bewegte sich der stumme Zug auf die Wiesen zu, weg von den warmen Lichtern, weg von der guten Stadt, weg von den sicheren Straßen.