Der Parasit befand sich wieder in seinem eigenen Körper unter der Treppe und untersuchte von dort aus sorgfältig das Haus, um sicherzugehen, daß sich dort außer Gross und seiner Frau kein anderes lebendes Wesen mehr befand – wie zum Beispiel ein Hund, dessen Gebell die Frau hätte aufwecken können, wenn Gross nach unten in die Küche ging. Er fand keinen Hund vor; nur einen Kanarienvogel, der in einem zugedeckten Bauer im Wohnzimmer schlief. Sein Wirt brauchte diesen Raum nicht zu betreten.
Siegfried und Elsa Gross schliefen beide friedlich.
Der Parasit ergriff von Gross Besitz – und wieder ereignete sich der schreckliche, aber kurze Kampf, der sich jedesmal abspielte, wenn er sich ein intelligentes Lebewesen als Wirt nahm. Zu seiner großen Enttäuschung dauerte es diesmal weniger lange als bei Tommy Hoffmann. War sein neuer Wirt sogar noch weniger intelligent als der Junge, der in der Schule durchgefallen war und keinerlei Interesse für wissenschaftliche Dinge zeigte? Von diesem älteren Mann hatte er mehr erwartet, aber anscheinend war dies ein Trugschluß gewesen. Gross, das erkannte er sofort, interessierte sich für dergleichen Dinge sogar noch weniger als Tommy Hoffmann. Er hatte die Schule bereits nach der sechsten Klasse verlassen und wußte wenig über das, was außerhalb seiner Farm vorging. Er besaß nicht einmal ein Radiogerät und las nur eine Wochenzeitung und ein Mitteilungsblatt für Farmer – beide allerdings mit erheblichen Schwierigkeiten.
Der Parasit ließ seinen Wirt noch eine Weile unbeweglich liegen, bis er sich in Gross' Verstand orientiert hatte, wodurch er auch die Antwort auf zwei entscheidende Fragen zu finden hoffte.
Beide Antworten fielen zufriedenstellend aus. Erstens – Elsa Gross schlief sehr fest; kein Geräusch, das nicht ebenso laut war wie das der Eule, als sie durch das Fenster flog, würde sie aufwecken. In der Küche, die nicht direkt unter dem Schlafzimmer lag, brauchte er also nicht übertrieben leise zu sein solange er nichts zu Boden fallen ließ. Zweitens – im Kühlschrank stand ein Topf mit etwa einem Liter Fleischbrühe, aber auch eine Schüssel fetter Soße. Aus diesen Zutaten ließ sich eine ideale Nährlösung herstellen, wenn man sie erwärmte, damit die Nahrungsaufnahme schneller vor sich gehen konnte.
Mehr brauchte er im Augenblick nicht zu wissen; alles andere – was ihn aus dem Gedächtnis des Farmers noch interessierte – konnte er später in aller Ruhe in sich aufnehmen. Dazu hatte er mindestens eine Stunde Zeit, während sein Körper in der Nährlösung lag.
Nachdem der Parasit ihm einen kurzen Befehl dazu erteilt hatte, stand Siegfried Gross leise auf und schlich barfuß auf Zehenspitzen an die Schlafzimmertür. Er öffnete und schloß sie so leise wie möglich, tastete sich die Treppe hinunter und machte erst Licht, als er die Küche erreicht hatte.
Dann holte er den Topf und die Schüssel aus dem Kühlschrank, schüttete den Inhalt der beiden Gefäße in einen Topf, der groß genug war, um später den Körper des Parasiten aufzunehmen, und stellte ihn auf den Herd. Nun riß er ein Streichholz an und setzte den Propangasbrenner in Betrieb. Er rührte die Mischung öfters um und kostete von Zeit zu Zeit mit einem Teelöffel, ob sie bereits warm genug war.
Als sie die richtige Temperatur erreicht hatte – ziemlich heiß, denn der Parasit vertrug ohne weiteres erhebliche Temperaturunterschiede, die von minus fünfzig Grad Celsius bis zu plus hundert Grad reichten –, drehte er die Flamme ab.
Daraufhin verließ er das Haus durch die Hintertür, griff unter die Treppe und fand dort den Körper des Parasiten. Er trug ihn in die Küche und legte ihn vorsichtig in die heiße Flüssigkeit.
Nach einem Blick auf die Küchenuhr, damit er den Vorgang nicht zu früh abbrach, ließ Siegfried Gross sich auf einem Stuhl nieder, um dort zu warten. Während dieser Zeit durchforschte der Parasit das Gedächtnis und die Erinnerungen seines Wirts.
Was er dadurch erfuhr, war keinesfalls ermutigend, falls er die Absicht hatte, Gross weiterhin als Wirt zu gebrauchen, nachdem er diese Aufgabe zufriedenstellend erfüllt hatte.
Siegfried Gross, der vor wenigen Wochen fünfundsechzig geworden war, führte ein einsames Leben. Er verstand sich einigermaßen mit seinen Nachbarn und etlichen Geschäftsleuten in Bartlesville, hatte aber keine richtigen Freunde. Er hatte niemand gern – und niemand hatte ihn gern, nicht einmal seine Frau. Sie waren nur deshalb zusammen geblieben, weil sie aufeinander angewiesen waren. Elsa hatte keine Verwandten mehr, zu denen sie ziehen konnte, und wußte nicht, wie sie sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen sollte; Siegfried brauchte sie als Haushälterin und überließ ihr das Versorgen der Tiere auf der Farm.
Sie hatten zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, aber Siegfried hatte sich mit beiden zerstritten, als sie in die Stadt ziehen wollten, um dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Elsa hatte noch einige Briefe von ihnen erhalten, aber Siegfried hatte ihr zu antworten verboten, so daß sie jetzt nicht einmal mehr wußten, wo ihre Kinder lebten.
Er selbst hatte nicht mehr allzuviel vom Leben zu erwarten, denn seit einigen Jahren litt er an einer Arthritis, die sich fortwährend verschlimmerte. Schon jetzt tat ihm jeder Handgriff weh, und er wußte, daß er in wenigen Jahren arbeitsunfähig sein würde, so daß er die Farm verkaufen mußte. Er hatte keinerlei Hypotheken darauf, deshalb würde er vielleicht genug bekommen, um sich und Elsa damit in ein Altersheim einzukaufen, in dem sie ihr Leben beschließen konnten. Mehr durfte er nicht erhoffen, nachdem die Ärzte ihn nicht zu heilen vermocht hatten – das und die kaum zu ertragenden Schmerzen, die ihn zum Krüppel machen würden, falls er lange genug lebte.
Der Parasit nahm diese Einzelheiten nur deshalb in sich auf, weil er genügend Zeit dazu hatte, während sein Körper Nahrung aufnahm, und weil er sich für alles interessierte, was mit Menschen zusammenhing um daraus mehr über sie zu lernen. Angesichts der Verzweiflung seines Wirts empfand er keinerlei Mitgefühl; er beurteilte seine Wirte nur nach dem Gesichtspunkt ihrer Verwendbarkeit. Und er hatte bereits entschieden, daß Siegfried Gross für keine weitere Aufgabe mehr zu gebrauchen war.
Gross führte ein Einsiedlerleben; er unterhielt keine Verbindungen zu anderen Menschen und konnte sich bestimmt keine der Informationen verschaffen, die der Parasit benötigte, ohne dabei unnötiges Aufsehen zu erregen. Er hatte kein Telefon, schrieb keine Briefe und erhielt nur Geschäftsdrucksachen. Einmal pro Woche fuhr er nach Bartlesville, um dort seine Einkäufe zu erledigen. Dazu benutzte er Pferd und Wagen, denn er hatte nie ein Auto besessen – oder eines besitzen wollen. Niemals öfter als einmal in der Woche, falls er nicht Gemüse auf dem Markt verkaufen wollte, womit er nicht bis Samstag warten konnte. Er bevorzugte bestimmte Läden und hielt sich selbst dort nie länger als unbedingt notwendig auf, sprach mit niemand und machte ein mürrisches Gesicht, wenn jemand ihn anzusprechen versuchte, was allerdings selten genug vorkam, da seine abweisende Art bekannt war. Seit mehr als fünfzehn Jahren war er nicht mehr über Bartlesville hinausgekommen und verspürte auch gar nicht den Wunsch danach.
Nein, Siegfried Gross wäre so ziemlich der schlechteste Wirt, den der Parasit für seine Zwecke wählen konnte. Jetzt erfüllte er noch seinen Zweck, aber wenn er seine Pflicht getan hatte, mußte er gehen.
Außerdem hatte der Parasit heute nacht bereits einen idealen Wirt entdeckt, der ihm jede gewünschte Information zutragen konnte – die Katze. Solange er sich noch in Gross befand, schieden Katzen als Wirte aus, aber eine von ihnen würde ihn schließlich zu dem Menschen in oder in der Nähe von Bartlesville führen, der sich am besten als Wirt eignete. Im Augenblick hatte der Parasit keine Eile, da die Nahrungsaufnahme noch nicht beendet war.
Aber solange Gross ohnehin warten mußte, konnte es nicht schaden, wenn der Parasit sich über die Menschen auf den benachbarten Farmen informierte. Er erfuhr auf diese Weise einige neue Einzelheiten, die ihm allerdings im Augenblick nicht als wichtig erschienen. Gross wußte viel weniger über seine Nachbarn als zum Beispiel Tommy Hoffmann. Und er hatte noch nicht einmal von Tommys »Selbstmord« gehört; wahrscheinlich hätte er erst auf seiner nächsten Fahrt in die Stadt davon erfahren.
Der Parasit erhielt aber eine Antwort auf die Frage, die er zuvor nicht selbst zu lösen vermocht hatte – warum auf der Nachbarfarm ein Hund gehalten wurde, der so bissig war, daß er an die Kette gelegt werden mußte. Dabei handelte es sich um eine tragende Hündin, die seit einigen Tagen jeden anfiel, der sich ihr näherte. Ihr Besitzer, ein gewisser Loursat, wollte sie nur noch so lange behalten, bis sie geworfen hatte, weil er annahm, daß die Jungen sich als normal erweisen würden. Deshalb hatte er die Hündin vorläufig im Stall angekettet und den strengen Befehl gegeben, daß niemand zu ihr dürfe. Gross hatte davon erfahren, als Loursat ihm einen der jungen Hunde angeboten hatte. Er hatte abgelehnt, weil er Hunde nicht ausstehen konnte; er duldete auch die Katze nur auf der Farm, weil sie Mäuse fing.
Der Parasit sah durch die Augen seines Wirts auf die Uhr an der Wand und stellte fest, daß er sich nun lange genug in der Nährlösung befand; in diesem Fall mußte er sich nach einer Uhr richten, da die Sinnesorgane seines Körpers nicht funktionierten, solange er sich in einem Wirt befand.
Gross erhob sich, nahm den Körper des Parasiten aus der Flüssigkeit und ging auf die ins Freie führende Tür zu. Dann änderte der Parasit seine Absicht und ließ ihn zu dem Abspülbecken zurückgehen. Er spülte den Panzer gründlich mit warmem Wasser ab und rieb ihn trocken. Der Parasit hatte sich noch rechtzeitig überlegt, daß der Geruch nach Fleisch ein Tier anlocken konnte, das vielleicht unter die Treppe kriechen und ihn hervorzerren würde. Er selbst war völlig geruchlos. Das hatte er erfahren, als er Buck benutzt hatte, um sich in der Höhle ausgraben und fortschaffen zu lassen.
Gross trug ihn nach draußen, wobei er die Tür einen Spalt breit offen ließ, um genügend Licht zu haben. Der Parasit ließ sich von ihm tief unter die Treppe schieben und dort locker mit Erde bedecken. Der Mann beugte sich noch einmal zu Boden, als er bereits wieder auf der Treppe stand, und verwischte sorgfältig alle Fußabdrücke, die seine bloßen Füße auf dem weichen Untergrund hinterlassen hatten.
Dann ging er hinein, um zu sterben.
Aber zuerst beseitigte er sämtliche Spuren seiner nächtlichen Tätigkeit; er schüttete den Rest der Flüssigkeit in den Ausguß und wusch die Gefäße ab, die er benutzt hatte. Er stellte die beiden Töpfe an den gewohnten Platz und die Schüssel zu den übrigen. Wahrscheinlich würde Elsa sich darüber wundern, daß die Fleischbrühe und die Soße so plötzlich verschwunden waren, aber schließlich konnte sie auch nichts daran ändern. Außerdem war sie in letzter Zeit in zunehmendem Maße zerstreut geworden; vielleicht würde sie sogar glauben, daß sie die Fleischbrühe und die Soße bereits verwendet hatte und es nur nicht mehr wußte.
Außerdem hatte sie dann auch den Schock wegen seines unerwarteten Todes zu überwinden, so daß sie sich kaum mit solchen Belanglosigkeiten beschäftigen würde. Obwohl sie nicht um ihn trauern würde, war doch zu erwarten, daß diese plötzliche Veränderung in ihrem bisher so geruhsamen Leben ihr einen Schock versetzen würde. Später würde sie zu der Erkenntnis kommen, daß ihre finanzielle Lage sich durch den Selbstmord ihres Mannes erheblich verbessert hatte. Schließlich konnte ein Mensch von dem Verkaufserlös der Farm wesentlich besser und komfortabler leben als zwei.
Sollte er in seinem Abschiedsbrief darauf eingehen? Diesmal würde ein letzter Brief gefunden werden, denn der Parasit wollte nicht noch einmal den gleichen Fehler wie bei Tommy Hoffmann begehen. Er wollte den Selbstmord des Farmers als völlig normal erscheinen lassen und vor allem ein plausibles Motiv angeben, damit der Fall kein unangemessenes Aufsehen erregte.
Er ließ also Gross einen Schreibblock und einen Bleistift holen, mit denen er sich an den Küchentisch setzte. Dann überlegte er, was Gross schreiben würde, wenn er wirklich Selbstmord begehen würde. Jedenfalls würde er nicht auf den Gedanken kommen – und folglich auch nichts davon erwähnen –, daß Elsa auf diese Weise besser versorgt wäre. Dergleichen selbstlose Überlegungen waren ihm völlig fremd. Nein, wenn er überhaupt schrieb, dann würde er nur kurz den Grund angeben – kein Geschwafel, keine Entschuldigungen und ganz gewiß keine rührenden Abschiedsworte.
Gross schrieb langsam und umständlich.
»Ich erschieße mich, weil ich die Schmerzen nicht mehr aushalten kann.«
Nun noch die Unterschrift, dann war alles vorbereitet. Gross nahm seine Schrotflinte aus dem Wandschrank in der Küche, lud sie und setzte sich wieder an den Tisch. Dann steckte er den Lauf in den geöffneten Mund und betätigte den Abzug. Blut spritzte über den Tisch und befleckte auch den Schreibblock, aber der Text war noch immer lesbar.
Der Parasit befand sich wieder in seinem eigenen Körper unter der Treppe, so daß er seinen Spürsinn gebrauchen konnte, um zu hören, wie Elsa vom Schlafzimmer aus nach ihrem Mann rief. Er beobachtete, wie sie Licht machte, die Treppe hinabeilte und die Küchentür aufriß.