Bist du noch wütend auf mich?
Nein.
Das ging schnell.
Wut ist sinnlos.
Das sehe ich nicht so. Wut kann unter den richtigen Umständen sehr mächtig sein. Lass mich dir eine Geschichte erzählen, um das zu verdeutlichen. Es war einmal ein kleines Mädchen, dessen Vater seine Mutter ermordete.
Wie furchtbar.
Ja, du verstehst diese Art des Verrats. Das kleine Mädchen war damals sehr jung, und deshalb verbarg man die Wahrheit vor ihr. Vielleicht sagte man ihr, dass die Mutter die Familie verlassen hätte. Vielleicht verschwand ihre Mutter; in ihrer Welt passierte so etwas. Aber das kleine Mädchen war sehr schlau, und sie liebte ihre Mutter von ganzem Herzen. Sie tat so, als ob sie die Lügen glaubte, aber in Wirklichkeit wartete sie nur auf den richtigen Augenblick.
Als sie älter und weiser war, fing sie an, Fragen zu stellen — aber nicht ihrem Vater oder anderen, die behaupteten, sich um sie zu sorgen. Man konnte ihnen nicht vertrauen. Sie fragte ihre
Sklaven, die sie bereits hassten. Sie fragte einen unschuldigen, jungen Schreiber, der in sie verliebt, intelligent und leicht zu manipulieren war. Sie fragte ihre Feinde, die Ketzer, die ihre Familie seit Generationen verfolgt hatten. Keiner von ihnen hatte einen Grund zu lügen, und aus den einzelnen Teilen setzte sie sich die Wahrheit zusammen. Dann verschrieb sie ihren Geist, ihr Herz und ihren unglaublichen Willen der Rache ... weil das eine Tochter tut, deren Mutter ermordet wurde.
Ah, ich verstehe. Aber ich frage mich: Liebte das kleine Mädchen seinen Vater?
Das frage ich mich auch. Früher wird sie das sicherlich getan haben — Kinder können nicht anders als lieben. Aber später? Kann Liebe so einfach ganz in Hass umschlagen? Oder weinte sie innerlich, als sie sich gegen ihn wandte? Ich weiß diese Dinge nicht. Aber ich weiß, dass sie eine Kette von Ereignissen in Gang setzte, die die Welt über ihren Tod hinaus erschüttern würde. Die ganze Menschheit würde ihre Rache zu spüren bekommen, nicht nur ihr Vater. Weil wir am Ende alle mitschuldig sind.
Alle? Das scheint ein wenig extrem.
Ja. Ja, das ist es. Aber ich hoife, sie bekommt, was sie möchte.
Also so sah die Arameri-Nachfolge aus: Ein Nachfolger wurde vom Familienoberhaupt bestimmt. Wenn sie die einzige Nachfolgerin war, musste sie die Person, die ihr am nächsten stand, davon überzeugen, in ihrem Namen zu sterben, den Stein zu benutzen und das Hauptsiegel auf ihre Stirn zu übertragen. Wenn es mehr als einen Nachfolger gab, wetteiferten sie gegeneinander, um das ausersehene Opfer dazu zu bringen, zwischen ihnen zu wählen. Meine Mutter war damals die einzige Erbin — wen hätte sie töten müssen, wenn sie nicht abgedankt hätte? Vielleicht hatte sie Viraine aus mehr als einem Grund zum Liebhaber gemacht. Vielleicht hätte sie Dekarta davon überzeugen können, es zu tun.
Vielleicht wollte sie deshalb nach ihrer Hochzeit und nachdem sie mit mir schwanger war nicht mehr hierher zurückkehren.
So viele Teile waren an ihren Platz gefallen. Es schwebten aber immer noch mehr unbestimmt irgendwo herum. Ich spürte, dass ich kurz davor war, alles zu verstehen, aber würde ich genug Zeit haben? Da war der Rest der Nacht, der nächste Tag und dann noch eine Nacht und ein Tag danach. Dann der Ball, die Zeremonie und das Ende.
Mehr als genug Zeit, beschloss ich.
»Das geht nicht«, sagte Si’eh erneut und drängend, während er neben mir hertrottete. »Yeine, Naha muss heilen, genau wie ich. Er kann das nicht, wenn die Augen eines Sterblichen ihn mustern.«
»Dann schaue ich ihn eben nicht an.«
»So einfach ist das nicht! Wenn er schwach ist, ist er noch gefährlicher als sonst, weil er sich kaum unter Kontrolle halten kann. Du solltest nicht ...« Seine Stimme fiel plötzlich um eine Oktave und brach wie im Stimmbruch. Er fluchte leise und blieb stehen. Ich ging weiter und war nicht überrascht, als ich ihn hinter mir aufstampfen hörte und er schrie: »Ich habe mich noch nie mit einer Sterblichen abgeben müssen, die so stur ist und mich so wütend macht wie du!«
»Danke«, rief ich zurück. Vor mir war eine Kurve, und ich blieb stehen, bevor ich sie umrundete. »Geh und ruh dich in meinem Zimmer aus«, sagte ich. »Ich lese dir eine Geschichte vor, wenn ich zurückkomme.«
Die Antwort, die er in seiner Sprache knurrte, bedurfte keiner Übersetzung. Aber die Wände stürzten nicht ein, und ich wurde nicht zu einem Frosch, also kann er nicht allzu wütend gewesen sein.
Zhakkarn hatte mir verraten, wo ich Nahadoth finden konnte. Sie hatte mich lange angeschaut, bevor sie es mir sagte. Sie hatte mein Gesicht mit Augen abgesucht, die die Entschlossenheit von Kriegern seit Anbeginn der Zeit einschätzten. Dass sie es mir sagte, war ein Kompliment — oder eine Warnung. Entschlossenheit konnte sehr schnell zu Besessenheit werden. Es war mir egal.
Zhakkarn sagte, dass Nahadoth mitten in der untersten bewohnten Etage eine Wohnung hatte. Diese Stelle lag aufgrund der Größe des Palastes in ewigem Schatten, und in der Mitte gab es keine Fenster. Alle Enefadeh hatten auf der Etage Behausungen, die sie für die unangenehmen Gelegenheiten nutzen, wenn sie schlafen, essen oder sich anderweitig um ihre halbsterblichen Körper kümmern mussten. Zhakkarn hatte nicht erwähnt, warum sie so eine unschöne Gegend gewählt hatten, aber ich glaubte, dass ich es wusste. Dort unten, direkt über dem Verlies, waren sie Enefas Stein näher als dem Himmel, dessen Itempas sich bemächtigt hatte. Vielleicht spendete ihnen das Gefühl ihrer Gegenwart Trost, zumal sie in ihrem Namen sehr viel erlitten hatten.
Die Etage war ruhig, als ich aus der Aufzugnische trat. Kein sterblicher Einwohner des Palastes lebte hier, und ich konnte es ihnen nicht verübeln. Wer hätte schon den Lord der Finsternis als Nachbarn haben wollen? Es war nicht weiter überraschend, dass die ganze Etage ungewöhnlich düster wirkte. Die Palastwände leuchteten hier nicht so hell. Nahadoths bedrückende Anwesenheit breitete sich in der gesamten Etage aus.
Aber als ich die letzte Kurve umrundete, wurde ich plötzlich von einem unerwarteten Aufblitzen geblendet. Im Nachbild dieses Blitzes sah ich eine Frau. Sie hatte bronzefarbene Haut und silbernes Haar, war fast so groß wie Zhakkarn und von strenger Schönheit. Sie kniete im Flur, als ob sie betete. Das Licht stammte von Flügeln auf ihrem Rücken, die mit hellen, spiegelnden Federn aus verschiedenen wertvollen Metallen bedeckt waren. Ich hatte diese Frau schon einmal gesehen, in einem Traum ...
Dann blinzelte ich mit meinen tränenden Augen, schaute noch einmal hin — und das Licht war weg. An seiner Stelle befand sich korpulent wie immer die unscheinbare Kurue, die sich mühsam auf die Füße erhob und mich wütend anstarrte.
»Es tut mir leid«, sagte ich, da ich offensichtlich die Meditation einer Göttin unterbrochen hatte. »Aber ich muss mit Nahadoth sprechen.«
Es gab nur eine Tür auf diesem Flur, und Kurue stand genau davor. Sie verschränkte ihre Arme. »Nein.«
»Lady Kurue, ich weiß nicht, wann ich noch einmal die Chance bekomme, diese Dinge zu fragen ...«
»Was genau bedeutet ›nein‹ in eurer Sprache? Offensichtlich verstehst du kein Senmite ...«
Bevor unser Streit eskalieren konnte, glitt die Wohnungstür einen Spalt zur Seite. Ich konnte durch den Schlitz nichts erkennen, außer Dunkelheit. »Lass sie reden«, sagte Nahadoths tiefe Stimme von drinnen.
Kurues Gesichtsausdruck verfinsterte sich noch mehr. »Naha, nein.« Ich erschrak ein wenig, da ich noch nie gehört hatte, wie ihm jemand widersprach. »Es ist ihre Schuld, dass du in diesem Zustand bist.«
Ich errötete, aber sie hatte recht. Aus dem Zimmer kam keine Antwort. Kurues Fäuste ballten sich, und sie starrte mit einem ausgesprochen bösen Blick in die Dunkelheit.
»Würde es helfen, wenn ich eine Augenbinde trage?«, fragte ich. Es lag etwas in der Luft, das auf einen lange währenden Ärger hindeutete, der über diesen Austausch hinausging. Ah, natürlich — Kurue hasste Sterbliche, da sie uns zu recht für ihren versklavten Zustand verantwortlich machte. Sie dachte, dass Nahadoth verrückt nach mir wäre. Wahrscheinlich hatte sie auch damit recht, da sie die Göttin der Weisheit war. Ich fühlte mich nicht beleidigt, als sie mich mit neuer Verachtung ansah.
»Es geht nicht nur um deine Augen«, sagte Kurue. »Es geht um deine Erwartungen, Ängste und Begierden. Ihr Sterblichen wollt, dass er ein Ungeheuer ist, und so wird er zu einem ...«
»Dann werde ich eben nichts wollen«, sagte ich. Ich lächelte, als ich das sagte, aber ich war jetzt verärgert. Vielleicht lag Weisheit in ihrem blinden Hass auf die Menschheit. Wenn sie das Schlimmste von uns erwartete, dann konnten wir sie nicht enttäuschen. Aber darum ging es nicht. Sie stand mir im Weg, und ich hatte noch etwas zu erledigen, bevor ich starb. Ich würde ihr befehlen, zur Seite zu sehen, wenn es sein musste.
Sie starrte mich an und erkannte vielleicht meine Absichten. Einen Moment später schüttelte sie den Kopf und machte eine wegwerfende Geste. »Fein. Du bist eine Närrin. Und du bist nicht besser, Naha. Ihr habt euch verdient.« Mit den Worten ging sie fort und murmelte immer noch, als sie um eine Kurve ging. Ich wartete, bis das Geräusch ihrer Schritte verklungen war — es wurde nicht leiser, sondern hörte einfach auf —, und drehte mich dann herum, um die Türe zu öffnen.
»Komm«, sagte Nahadoth von drinnen.
Ich räusperte mich und war auf einmal nervös. Warum machte er mir immer zur falschen Zeit Angst? »Entschuldigt, Lord Nahadoth«, sagte ich, »aber vielleicht sollte ich lieber hier draußen bleiben. Wenn es wahr ist, dass allein meine Gedanken Euch schon etwas anhaben können ...«
»Deine Gedanken konnten mir schon immer etwas anhaben. All dein Entsetzen, all deine Bedürfnisse — sie ziehen und zerren als schweigende Befehle an mir.«
Ich wurde vor Entsetzen steif. »Ich wollte nicht zu Eurem Leiden beitragen.«
Eine Pause entstand, und ich hielt den Atem an.
»Meine Schwester ist tot«, sagte Nahadoth sehr leise. »Mein Bruder ist verrückt geworden. Meine Kinder — die wenigen, die noch übrig sind — hassen und fürchten mich genauso, wie sie mich verehren.«
Und ich verstand: Was Scimina ihm angetan hatte, war gar nichts. Was waren ein paar Augenblicke Leiden neben den Jahrhunderten voller Trauer und Einsamkeit, die Itempas ihm auferlegt hatte? Und da stand ich nun und grämte mich wegen meines eigenen unbedeutenden Beitrags.
Ich öffnete die Tür und trat ein.
Im Inneren des Zimmers war die Finsternis vollkommen. Ich blieb kurz bei der Tür stehen und hoffte, dass meine Augen sich daran gewöhnten, aber das geschah nicht. In der Stille, nachdem die Türe geschlossen wurde, nahm ich in einiger Entfernung langsames, gleichmäßiges Atmen wahr.
Ich streckte meine Hände aus und begann, mich blindlings in die Richtung des Geräusches zu tasten. Dabei hoffte ich, dass Götter nicht viele Möbel brauchten. Oder Treppen.
»Bleib, wo du bist«, sagte Nahadoth. »Ich bin ... es ist in meiner Nähe nicht sicher.« Dann, leiser: »Aber ich bin froh, dass du hier bist.«
Das war der andere Nahadoth — nicht der sterbliche, aber auch nicht das irre Biest aus dem kalten Wintermärchen. Dies war der Nahadoth, der mich an dem ersten Abend geküsst hatte, derjenige, der mich scheinbar wirklich mochte. Der, dem ich am wenigsten entgegenzusetzen hatte.
Ich atmete tief ein und versuchte, mich auf die weiche, leere Dunkelheit zu konzentrieren.
»Kurue hat recht. Es tut mir leid. Es ist meine Schuld, dass Scimina dich bestraft hat.«
»Sie tat es, um dich zu bestrafen.«
Ich zuckte zusammen. »Noch schlimmer.«
Er lachte leise, und ich fühlte, wie ein Hauch an mir vorbeistreifte, weich wie eine warme Sommernacht. »Nicht für mich.«
Da war was dran. »Gibt es etwas, das ich tun kann, um dir zu helfen?«
Ich fühlte die Brise erneut, und diesmal kitzelte sie die kleinen Härchen auf meiner Haut. Ich stellte mir plötzlich vor, wie er hinter mir stand, mich festhielt und in die Biegung meines Nackens ausatmete.
Von der anderen Seite des Zimmers erklang ein leises, verlangendes Geräusch, und plötzlich war ich von Lust umgeben — mächtig, brutal und nicht ein bisschen zärtlich. O Götter. Schnell fixierte ich meine Gedanken wieder auf Finsternis, Nichts, Finsternis, meine Mutter. Ja.
Es schien lange zu dauern, aber schließlich ging dieses schreckliche Verlangen vorbei.
»Es wäre besser«, sagte er mit beunruhigender Sanftheit, »wenn du nicht versuchen würdest, zu helfen.«
»Es tut mir leid ...«
»Du bist eine Sterbliche.« Das schien alles zu erklären. Ich senkte beschämt meinen Blick. »Du hast eine Frage über deine Mutter.«
Ja. Ich atmete tief ein. »Dekarta hat ihre Mutter getötet«, sagte ich. »War das der Grund, warum sie zugestimmt hat, euch zu helfen?«
»Ich bin ein Sklave. Kein Arameri würde sich mir anvertrauen. Wie ich dir schon sagte, alles, was sie tat, war, als Erste Fragen zu stellen.«
»Und als Gegenleistung habt ihr sie um Hilfe gebeten?«
»Nein. Sie trug immer noch das Blutsiegel. Man konnte ihr nicht vertrauen.«
Unwillkürlich hob ich eine Hand an meine Stirn. Ich vergaß ständig, dass das Zeichen sich dort befand. Ich hatte vergessen, dass es auch in der Politik Elysiums eine Rolle spielte. »Also wie ...«
»Sie ist mit Viraine ins Bett gegangen. Zukünftigen Erben wird eigentlich von der Nachfolgezeremonie erzählt, aber Dekarta hatte befohlen, dass man ihr die Einzelheiten verschweigt. Viraine wusste es nicht besser, also erzählte er Kinneth, wie die Zeremonie normalerweise abläuft. Ich nehme an, das reichte ihr, um sich die Wahrheit zusammenzureimen.«
Ja, das hatte es. Sie hatte Dekarta bereits in Verdacht gehabt, und Dekarta hatte scheinbar vor ihren Verdächtigungen Angst gehabt. »Was hat sie getan, als sie es wusste?«
»Sie kam zu uns und fragte, wie sie sich von ihrem Zeichen befreien könne. Wenn sie etwas gegen Dekarta unternehmen konnte, so sagte sie, dann würde sie den Stein für uns benutzen, um uns freizusetzen.«
Ich schnappte erstaunt über ihren Wagemut und ihren Zorn nach Luft. Ich war nach Elysium gekommen und war bereit gewesen, zu sterben, um meine Mutter zu rächen, und nur Glück und die Enefadeh hatten das möglich gemacht. Meine Mutter hatte ihre eigene Rache erschaffen. Sie hatte ihr Volk verraten, ihr Erbe und sogar ihren Gott — und das alles nur, um einen einzigen Mann zu schlagen.
Scimina hatte recht. Im Vergleich zu meiner Mutter war ich nichts.
»Ihr habt mir gesagt, dass nur ich den Stein benutzen kann, um euch zu befreien«, sagte ich. »Weil ich Enefas Seele besitze.«
»Ja. So wurde es Kinneth erklärt. Aber da sich eine Gelegenheit ergab ... Wir schlugen ihr vor, sich enterben zu lassen, um sich von dem Siegel zu befreien. Und wir haben sie auf deinen Vater angesetzt.«
Irgendwas in meiner Brust schnürte mir die Luft ab. Ich schloss meine Augen. So viel zum Thema der märchenhaften Romanze meiner Eltern.
»War sie ... sofort einverstanden, für euch ein Kind auszutragen?«, fragte ich. Meine Stimme klang selbst in meinen Ohren sehr leise, aber es war still im Raum. »Haben sie und mein Vater mich für euch ... gezüchtet?«
»Nein.«
Ich konnte ihm keinen Glauben schenken.
»Sie hasste Dekarta«, fuhr Nahadoth fort, »aber sie war immer noch sein Lieblingskind. Wir haben ihr nichts von Enefas Seele oder unseren Plänen erzählt, weil wir ihr nicht trauten.«
Mehr als verständlich.
»Also gut«, sagte ich und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. »Sie traf meinen Vater, der einer von Enefas Anhängern war. Sie heiratete ihn, weil sie wusste, dass es ihr helfen würde, ihr Ziel zu erreichen. Außerdem wusste sie, dass man sie wegen der Heirat aus der Familie werfen würde. Das befreite sie von dem Siegel.«
»Ja. Und es diente als Test ihrer Absichten, denn es bewies uns, dass sie es ernst meinte. Sie erreichte außerdem zum Teil ihr Ziel: Als sie ging, war Dekarta am Boden zerstört. Er trauerte, als ob sie gestorben wäre. Sein Leid schien sie zu erfreuen.«
Das verstand ich. Das verstand ich so gut.
»Aber dann ... dann hat Dekarta den Wandelnden Tod benutzt und wollte damit meinen Vater töten.« Ich sprach langsam. Es war schwer, dieses komplizierte Gebilde zusammenzufügen. »Er muss meinen Vater dafür verantwortlich gemacht haben, dass sie fortging. Vielleicht hat er sich auch eingeredet, dass sie nach dem Tod meines Vaters zurückkommen würde.«
»Dekarta hat den Tod nicht auf Darr losgelassen.«
Ich versteifte mich. »Was?«
»Wenn Dekarta Magie ausführen will, dann benutzt er uns. Keiner von uns hat die Plage über dein Land gebracht.«
»Aber wenn ihr nicht ...«
Nein. O nein.
Es gab außer den Enefadeh noch eine Quelle der Magie in Ely- sium. Noch jemand, der die Macht der Götter befehligen konnte, wenn auch in abgeschwächtem Maße. Der Tod hatte in dem Jahr nur ein Dutzend Menschen in Darr getötet, was — gemessen an normalen Umständen — nur einen kleinen Ausbruch bedeutete.
»Viraine«, flüsterte ich. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. »Viraine.«
Er hatte den Märtyrer so überzeugend gespielt; den Unschuldigen, der von meiner intriganten Mutter ausgenutzt worden war. In der Zwischenzeit hatte er versucht, meinen Vater umzubringen, und gewusst, dass sie Dekarta dafür verantwortlich machen würde und nicht ihn. Er hatte in den Fluren wie ein Geier gewartet, als sie kam und Dekarta um das Leben ihres Mannes anflehte. Vielleicht hatte er sich hinterher zu erkennen gegeben und ihr gegenüber Dekartas Ablehnung bedauert. Um den Grundstein dafür zu legen, sie zurückzugewinnen? Ja, das passte zu ihm.
Und dennoch war mein Vater nicht gestorben. Meine Mutter war nicht nach Elysium zurückgekehrt. Hatte Viraine ihr all diese Jahre nachgetrauert und meinen Vater und mich gehasst, weil wir seine Pläne durchkreuzt hatten? War Viraine derjenige gewesen, der das Kästchen mit den Briefen durchwühlt hatte? Vielleicht hatte er diejenigen, die ihn erwähnten, in der Hoffnung verbrannt, seine Jugendsünde vergessen zu machen. Vielleicht hatte er sie behalten und sich vorgestellt, dass die Briefe noch eine Spur der Liebe enthielten, die er nie verdient hatte.
Ich würde ihn zur Strecke bringen. Ich würde sehen, wie sein weißes Haar als roter Vorhang in sein Gesicht fiel.
In meiner Nähe erklang ein Geräusch, als ob Kieselsteine auf dem harten Elysiumbaustoffboden vorbeisprängen. Oder die Spitzen von Klauen ...
»Welch Zorn«, hauchte der Lord der Finsternis, und seine Stimme war voller tiefer Schluchten und Eis. Und plötzlich war er sehr, sehr nah. Genau hinter mir. Wenn er mich berührte, würde ich schreien. »Oh, ja. Befiehl mir, süße Yeine. Ich bin deine Waffe. Sag nur ein Wort, und ich werde den Schmerz, den er mir heute Abend zufügte, gnädig erscheinen lassen.«
Mein Ärger war verschwunden, weggefroren. Langsam atmete ich tief ein, dann noch einmal, um mich zu beruhigen. Kein Hass. Keine Angst vor dem, was aus dem Lord der Finsternis dank meiner Unachtsamkeit geworden war. Ich fixierte meine Gedanken auf die Finsternis und das Schweigen und antwortete nicht. Ich wagte es nicht.
Nach einer sehr langen Weile hörte ich ein leises, enttäuschtes Seufzen. Weiter entfernt diesmal; er war zur anderen Seite des Zimmers zurückgekehrt. Langsam erlaubte ich meinen Muskeln, sich zu entspannen.
Es war gefährlich, diese Fragenkette jetzt weiterzuverfolgen. Es gab so viele Geheimnisse aufzudecken und so viele emotionale Fallgruben. Ich schob die Gedanken an Viraine mit großer Anstrengung beiseite.
»Meine Mutter wollte meinen Vater retten«, sagte ich. Ja. Das zu verstehen war etwas Gutes. Sie musste sich nach und nach in ihn verliebt haben, egal, wie seltsam die Beziehung begonnen hatte. Ich wusste, dass er sie liebte. Ich hatte es in seinen Augen gesehen.
»Ja«, sagte Nahadoth. Seine Stimme war wieder so ruhig wie vor meinem Ausrutscher. »Ihre Verzweiflung machte sie verletzlich. Natürlich haben wir daraus Vorteil gezogen.«
Beinahe wäre ich ärgerlich geworden, fing mich aber gerade rechtzeitig.
»Natürlich. Also habt ihr sie überredet, Enefas Seele in ihrem Kind aufzunehmen. Und ...« Ich atmete tief durch, hielt inne und versammelte meine Kraft. »Mein Vater wusste es?«
»Ist mir nicht bekannt.«
Wenn die Enefadeh nicht wussten, was mein Vater von der Sache gehalten hatte, dann wusste es niemand hier. Ich wagte nicht, nach Darr zurückzukehren, um Beba zu fragen.
Also zog ich es vor, daran zu glauben, dass mein Vater es wusste und mich trotzdem geliebt hatte. Dass Mutter nach ihren anfänglichen Zweifeln sich entschieden hatte, mich zu lieben. Dass sie die grässlichen Geheimnisse ihrer Familie in der vergeblichen Hoffnung vor mir verborgen hatte, dass ich ein einfaches, friedliches Leben in Darr vor mir hatte ... wenigstens so lange, bis die Götter zurückkehrten, um zu verlangen, was ihnen gehörte.
Ich musste ruhig bleiben, aber ich konnte nicht alles zurückhalten. Ich schloss meine Augen und fing an zu lachen. So viele Hoffnungen ruhten auf mir.
»Darf ich keine für mich haben?«, flüsterte ich.
»Was würdest du wollen?«, fragte Nahadoth.
»Was?«
»Wenn du frei sein könntest.« Etwas lag in seiner Stimme, das ich nicht verstand. Schwermut? Ja, und noch mehr. Güte? Zuneigung? Nein, das war unmöglich. »Was würdest du für dich selbst wollen?«
Bei dieser Frage schmerzte mein Herz. Ich hasste ihn, weil er das gefragt hatte. Es war seine Schuld, dass meine Wünsche nie in Erfüllung gehen konnten — seine Schuld und die meiner Eltern, Dekartas und sogar Enefas.
»Ich habe genug davon, nur das zu sein, was andere aus mir gemacht haben«, sagte ich. »Ich will ich selbst sein.«
»Sei nicht kindisch.«
Ich sah erschreckt und ärgerlich hoch, obwohl es natürlich nichts zu sehen gab. »Was?«
»Du bist das, was deine Schöpfer und deine Erfahrungen aus dir gemacht haben, wie jedes andere Wesen in diesem Universum auch. Akzeptiere das und fertig; dein Gejammer ermüdet mich.«
Hätte er das in seiner üblichen kalten Stimme gesagt, wäre ich beleidigt hinausgegangen. Aber er klang wirklich müde, und ich erinnerte mich an den Preis, den er für meine Selbstsucht gezahlt hatte.
In meiner Nähe bewegte sich die Luft erneut, sanft, beinahe wie eine Berührung. Als er sprach, war er näher bei mir. »Die Zukunft kannst du allerdings selbst gestalten, sogar jetzt noch. Sag mir, was du willst.«
Darüber hatte ich — über meine Rache hinausgehend — nie wirklich nachgedacht. Ich wollte ... all die Dinge, die eine junge Frau möchte. Freunde. Familie. Dass diejenigen, die man liebte, glücklich waren.
Und außerdem ...
Ich erschauerte, obwohl es nicht kalt im Zimmer war. Die Fremdartigkeit dieses neuen Gedankens machte mich misstrauisch. War das ein Zeichen von Enefas Einfluss?
Akzeptiere das und fertig.
»Ich ...« Ich schloss meinen Mund, schluckte und versuchte es erneut. »Ich möchte ... etwas anderes für die Welt.« Ah, aber die Welt würde tatsächlich eine andere sein, wenn Nahadoth und Itempas damit fertig waren. Ein Haufen Geröll, unter dem die Menschlichkeit als Ruine begraben lag. »Etwas Besseres.«
»Was?«
»Ich weiß es nicht.« Ich ballte meine Fäuste. Ich hatte Schwierigkeiten, das auszudrücken, was ich sagen wollte, und war über meine eigene Frustration erstaunt. »Jeder hat im Augenblick ... Angst.« Das war schon näher dran. Ich ließ nicht locker. »Wir sind der Gnade der Götter unterworfen und gestalten unser Leben nach euren Launen. Selbst wenn eure Streitigkeiten nichts mit uns zu tun haben, sterben wir. Wie wäre es, wenn ... wenn ihr einfach ... fortgehen würdet?«
»Noch mehr würden sterben«, sagte der Lord der Finsternis. »Die, die uns verehren, würden durch unsere Abwesenheit verängstigt. Einige würden beschließen, dass andere die Schuld daran tragen, und diejenigen, die diese neue Ordnung mit offenen Armen aufnehmen, würden alle ablehnen, die die alten Gebräuche beibehalten. Die Kriege würden Jahrhunderte andauern.«
Tief in meinem Inneren spürte ich die Wahrheit, die in seinen Worten lag, und mir wurde schlecht vor Entsetzen. Dann berührte mich etwas leicht — kühle Hände. Er massierte meine Schultern, als ob er mich trösten wollte.
»Aber irgendwann wären die Kämpfe vorbei«, sagte er. »Wenn ein Feuer ausgebrannt ist, wachsen neue Dinge nach.«
Ich spürte keine Lust oder Wut von ihm, wahrscheinlich weil er im Moment beides nicht für mich empfand. Er war nicht wie Itempas — unfähig, Veränderungen zu akzeptieren. Er verbog nicht alles, was um ihn herum war, oder zerbrach es, um es nach seinem Willen zu formen. Nahadoth verbog sich selbst nach dem Willen anderer. Der Gedanke machte mich einen Moment lang traurig.
»Bist du jemals du selbst?«, fragte ich. »Wirklich du selbst, nicht nur so, wie andere dich sehen?«
Die Hände verharrten, dann wurden sie weggezogen. »Enefa hat mich das einmal gefragt.«
»Tut mir leid ...«
»Nein.« In seiner Stimme lag Trauer. Sie verging niemals für ihn. Wie furchtbar musste es sein, ein Gott der Veränderung zu sein und dann unendliche Trauer zu ertragen.
»Wenn ich frei bin«, sagte er, »werde ich mir aussuchen, wer mich formt.«
»Aber ...« Ich stutzte. »Das ist keine Freiheit.«
»Zu Anbeginn der Wirklichkeit war ich ich selbst. Es gab nichts und niemanden, der mich beeinflusste — nur den Mahlstrom, der mich geboren hatte, und dem war es egal. Ich riss mein Fleisch entzwei, und die Grundsubstanz unseres Reiches ergoss sich daraus: Materie, Energie und mein eigenes, kaltes schwarzes Blut. Ich verschlang meinen Geist und schwelgte in der Neuartigkeit des Schmerzes.«
Tränen schössen in meine Augen. Ich schluckte schwer und versuchte, sie zurückzuhalten, aber plötzlich waren die Hände wieder da und hoben mein Kinn. Finger streichelten meine Augen, schlössen sie und wischten die Tränen fort.
»Wenn ich frei bin, werde ich wählen«, flüsterte er noch einmal ganz nah. »Du musst dasselbe tun.«
»Aber ich werde nie ...«
Er küsste mich, um mich zum Schweigen zu bringen. In dem Kuss lag Sehnsucht, greifbar und bittersüß. War das meine eigene Sehnsucht oder seine? Dann verstand ich endlich: Es machte keinen Unterschied.
Aber o Götter, o Göttin, er war so gut. Er schmeckte wie kühler Morgentau. Er machte mich durstig. Kurz bevor ich mehr wollte, zog er sich zurück. Ich kämpfte gegen die Enttäuschung an, aus Angst, was sie uns beiden antun könnte.
»Geh und ruh dich aus, Yeine«, sagte er. »Lass die Intrigen deiner Mutter sich selbst erfüllen. Du hast deine eigenen Prüfungen zu bestehen.«
Dann fand ich mich in meiner Wohnung. Ich saß auf dem Boden in einem Viereck aus Mondlicht. Die Wände waren dunkel, aber ich konnte gut sehen, da der Mond, obwohl nur ein Bruchstück von ihm tief am Himmel stand, sehr hell war. Mitternacht war längst vorbei, es war ungefähr ein oder zwei Stunden vor Sonnenaufgang. Das wurde allmählich zur Gewohnheit.
Si’eh saß in dem großen Sessel neben meinem Bett. Als er mich sah, rollte er sich auseinander und legte sich neben mich auf den Boden. Seine Pupillen waren im Mondlicht groß und rund, wie die einer ängstlichen Katze.
Ich sagte nichts. Kurz darauf streckte er die Hand aus und zog mich hinunter, bis mein Kopf in seinem Schoß lag. Ich schloss die Augen und schöpfte Trost aus dem Gefühl seiner Hand auf meinen Haaren. Nach einer Weile begann er, mir ein Schlaflied zu singen, das ich in einem Traum gehört hatte. Ich war entspannt und schlief wohlig ein.