15

Abel 56/7 hatte schon vielerlei Strafen erlitten wie jeder der Soldaten, auch das Musikzimmer. Aber es schien verschiedene Grade der Strafen zu geben, und das, was man ihm diesmal auferlegte, war sicher der höchste Grad der Tortur.

Geräusche – das ist das Sausen der Räder, das Rascheln des Laubes, das Trappen laufender Füße. Das sind Stimmen und Musik. Sie können laut sein, unangenehm laut, schmerzhaft laut. So war es eine halbe Stunde lang. Die Stimme des Majors – unerträglich laut. Es wand sich mit glühenden Bohrern in die Ohren hinein, bis nur mehr ein gleichmäßiges Vibrieren da war – und der Schmerz. Dann erklang Gesang, in normaler Lautstärke, und allmählich gewöhnten sich Abels Ohren wieder an das Hören. Sie hörten normal, doch das, was sie mitgemacht hatten, steckte noch als Überempfindlichkeit in ihnen, und jeder plötzliche Einsatz, jedes Heben der Stimmen, wirkte wie eine Detonation. Und dann kam die Stille. Es kann still sein, sehr still und auch vollkommen still. Abel hatte die Stille noch nicht erlebt. Er hatte nie gewußt, daß Stille unerträglich sein kann. Jetzt begann er es einzusehen, und er begriff auch, warum sie ihn in das Musikzimmer gesteckt hatten, das vielen anderen Strafen gegenüber harmlos wirkte.

Die Wände des Raumes waren vollkommen schallisoliert. Nicht der leiseste Laut kam von außen. Die Wände waren mit dicken Gummipolstern überzogen, der Raum war leer bis auf die Lautsprecher, die wie offene Mäuler von der drei Meter hohen Decke herunterklafften, und die Neonlampe in ihrer Mitte. Die Tür war von den Gummipolstern nicht zu unterscheiden; sie besaß innen kein Schloß.

Zuerst klangen in Abel noch die Stimmen der Kameraden nach, die Lieder, die sie gesungen hatten, die bekannten Lieder vom Soldatentum. Dann verstummten sie, es wurde still. Doch als es schon still war, wurde es noch stiller und immer stiller, und dann hörte er wieder Stimmen: rufende Stimmen, lachende Stimmen, kreischende Stimmen, Stimmen, die spotteten und befahlen... Sie kamen von nirgends und überall, von oben und unten, und von innen her, aus ihm heraus... Er hatte geglaubt, sich mit Gleichgültigkeit wappnen zu können, aber es gelang ihm nicht. Er preßte die Hände gegen die Ohren, aber die Schreie verstummten nicht ... da begann er selbst zu schreien, und er schrie und schrie und schrie. Dann knackte es im Lautsprecher. Eine Stimme sagte: »Gehorsam ist die höchste Pflicht des Soldaten.« Sie sagte es noch einmal, schriller: »Gehorsam ist die höchste Pflicht des Soldaten.« Sie sagte es noch einmal, noch schriller: »Gehorsam ist die höchste Pflicht des Soldaten.« Sie sagte es wieder und immer wieder, und jedesmal wurde sie um eine Nuance furchtbarer, sie quietschte, wie wenn ein Messer auf einen Teller kratzt, sie kratzte, wie wenn man Fingernägel mit einer Feile bearbeitet, sie ging durch Mark und Bein...

Längst war sie unverständlich geworden, aber es war noch immer derselbe Rhythmus, dieselbe Lautfolge, wenn auch ins Unkenntliche verzerrt, und jedesmal, wenn sein ganzer Körper mitbebte, dröhnten in Abels Kopf die Worte: »Gehorsam ist die höchste Pflicht des Soldaten.« Als die Tür aufging und das Tageslicht hereinflutete, wußte Abel nicht, wie er die letzten Stunden – oder waren es Minuten? – verbracht hatte. Alles drehte sich um ihn, und jedes Geräusch kam wie durch Watte an seine gepeinigten Trommelfelle.

Zwei Sergeanten führten ihn zum Exerzierplatz. Er sah keine Kameraden. Sicher hatten sie Innendienst. Sie sollten ihn wohl nicht sehen.

Zwei Sergeanten, um mit einem Mann zu üben.

»Auf, marsch, marsch! Hinlegen! Auf, marsch, marsch! Hinlegen! Auf, marsch, marsch!...«

Wenn sie vor Heiserkeit nicht mehr schreien konnten, wechselten sie einander ab.

»Auf, marsch, marsch! Hinlegen! Achtung! Kehrt, marsch, marsch! Achtung! Fliegerdeckung. Auf, marsch, marsch...«

Einer war stets neben ihm und riß ihn am Kragen hoch, trat ihm mit dem Knie ins Gesäß oder stieß ihn mit den Fäusten vorwärts, wenn er nicht schnell genug parierte.

»Achtung! Hundert Liegestütz! Schneller!«

Der Sergeant hatte den Stiefel auf Abels Nacken gesetzt und drückte seinen Kopf hinunter.

»Schneller!«

»Auf, marsch, marsch!«

»Achtung!«

»Kehrt, marsch, marsch!«

»Achtung!«

Nach einer Stunde, als Abel nur noch taumelte, kam der Major und sah eine kurze Zeit hindurch zu.

»Der Mann kann ja noch stehen!« rief er. »Abel 56/7, herkommen! Rühren! Die beiden Sergeanten, kehrt, marsch, marsch! Fliegerdeckung! Zu langsam! Auf, marsch, marsch! Achtung! Fliegerdeckung! Kerle, steckt die Nasen in den Dreck. Achtung! Zu langsam! Und ihr wollt andern was beibringen! Zwei Wochen Sonderdienst. Wegtreten.«

Die beiden Sergeanten entfernten sich im Laufschritt.

»Meine Leute hassen mich«, sagte der Major. »Sie lieben mich, und sie hassen mich. So ist es richtig.« Er sah über den Kasernenhof, der jetzt leer dalag, hinweg, zum gelbgrauen dunstigen Himmel empor. »Liebe ist zu schwach. Erst der Haß erzeugt die richtige Kraft. Über allem aber steht der Gehorsam.« Jetzt erst sah er Abel an. »Kommen Sie«, sagte er.

Sie gingen nebeneinander her, der Major groß und breit und gerade, in seiner schlichten sauberen Uniform, und Abel, der gegen ihn wie ein Untermensch wirkte, zusammengesunken, unsicher, zerschlissen, dreckverschmiert. Mit sparsamen Gesten deutete der Major den Weg an. Durch eine Tür neben der Wachstube traten sie in den Vorraum, die kleine Halle mit den Stahlrohrsesseln, die Abel schon kannte. Ein Sergeant sprach gerade ins Mikrofon der Schreibmaschine und sprang auf, als er den Major hereinkommen sah.

»Machen Sie weiter«, winkte der Major ab, als der Sergeant seine Meldung erstatten wollte.

»Jawohl, Herr Major, weitermachen!« Er blieb ehrerbietig stehen, bis sein höchster Vorgesetzter und Abel vorüber waren. Abel streifte er mit einem Blick voll Ekel.

Der Major schob Abel in sein Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Er deutete auf eine schmale Pforte an der rechten Seitenwand, die kaum sichtbar war; denn sie war mit derselben grauen Tapete verkleidet wie die übrige Wand.

»Reinigen Sie sich«, sagte er. »Duschen Sie!«

Er kramte in einer Schublade und brachte dann ein Frottierhandtuch, ein Stück Seife und eine Bürste.

Die kleine Kammer war als Duschraum eingerichtet. An der linken Wand waren zwei metallische Wasserhähne eingelassen, einer mit einem blauen, der andere mit einem roten Ring aus Emaille verziert, darunter war ein Waschbecken, darüber eine Glasplatte, auf der ein Becher mit einer Zahnbürste, drei verschiedenfarbige Tuben und ein zusammengelegter blauer Waschlappen nebeneinander angeordnet waren. In Kopfhöhe hing ein Spiegel, über diesem war eine runde gläserne Wandlampe befestigt. Im Hintergrund des Raumes stand eine galgenförmige Dusche. Der Boden war dort eingetieft und ausgekachelt. Ein Abflußloch in der Mitte war von einem Sieb bedeckt.

Abel trat an den Spiegel und sah hinein. Das war er. Ein Gescheiterter. Das Gesicht noch bleicher als sonst, soweit die Haut unter den Lehmspritzern durchsah, der zahnlose Mund eine Wunde darin. Die Nase vom Lehm verschmiert wie bei einem Clown. Abel lachte lautlos in sich hinein.

Der Major erschien an der Tür und warf ihm einen Bademantel zu.

»Reinigen Sie Ihre Kleider unter der Dusche. Hängen Sie sie hier zum Trocknen auf.« Er deutete auf einen gerippten Heizkörper rechts hinter der Tür. »Ziehen Sie das an!«

Er zog sich wieder zurück. Abel hörte ihn im Zimmer hin- und herwandern.

Traumverloren zog sich Abel aus, legte die Kleider in das Becken unter der Dusche und ließ Wasser darüberrinnen. Dann trat er selbst unter den Strahl. Es war warmes, fast heißes Wasser, das unglaublich wohltat, aber auch sehr müde machte. Abel glaubte sich plötzlich nicht mehr auf den Beinen halten zu können, die Augen fielen ihm zu. Er schwankte und wäre gefallen, wenn er sich nicht am Wasserhahn abgefangen hätte. Er mußte daran gedreht haben, denn der Regen wurde nun rasch kälter. Abel regulierte eine milde Wärme ein und wandte sich seinen Kleidern zu. Das Wasser, das von ihnen abfloß, war eine dicke gelbe Brühe. Abel versuchte den steifen Stoff auszuwinden, und als das nicht gelang, trat er mit den bloßen Füßen darauf herum. Lehmbrocken, die im Wasser nicht von selbst zerfielen, zerdrückte er mit den Fersen. Dann hob er ein Kleidungsstück nach dem anderen auf und hielt es unter den scharfen Strahl, direkt unter die Brausekappe. Schließlich wusch er auch noch den Dreck von seinen Schuhen. Die Kleider breitete er dann über den Heizkörper, die Schuhe stellte er darunter. Nun trat er noch einmal unter die Dusche und rieb sich mit der Bürste ab, bis seine Haut rosarot wurde und brannte. Er schloß die Wasserzufuhr und trocknete sich ab. Nach dem Geplätscher war es beängstigend still. Die Schritte des in seinem Zimmer auf- und abwandernden Majors klangen laut und unheimlich. »Sind Sie fertig?« rief er.

Er öffnete die Tür. Abel zog den Bademantel an, der ihn weich umhüllte.

»Hier sind Pantoffeln«, sagte der Major. Er trat vor die Heizung und sah die Kleidungsstücke genau an.

»Die Schuhe könnten sauberer sein«, bemerkte er. »Na, kommen Sie!«

Der Major ging vor, Abel folgte ihm stumm. Der Weg führte durch einige Räume, die offenbar als Materiallager dienten. In Plastikhäute verpackt lagen Metall- und Glasteile von Schränken und Regalen, Dutzende großer Kartons waren zu Quaderbergen aufgeschichtet. Sie waren mit großen schwarzen Buchstaben und Ziffern beschriftet, deren Sinn Abel unklar war.

Der Major wartete, bis Abel auf seine Höhe gekommen war, und wies dann auf die abgestellten Dinge. »Um das Leben hier aufrechtzuerhalten«, erklärte er, »brauche ich viele Maschinen – Energie- und Steuerungsmaschinen. Alles, was an Ersatzteilen je benötigt werden könnte, liegt hier. Und dieser Panzerraum enthält Energievorräte für Jahrzehntausende.«

Er trat vor eine Wand, an die komplizierte Systeme von Hebeln und Gelenken montiert waren. Zwei von ihnen begannen mit je einem System von fünf Tasten und verschwanden oben in der Wand. Zwischen ihnen lief ein kaminähnlicher Schacht empor und führte dann mit einem Knick ebenfalls in die Wand. Ein Schemel stand davor.

Der Major setzte sich und hielt die Augen an die Mündung des Schachtes.

»Schauen Sie selbst!« befahl er dann und machte Abel Platz. Abel tat es. Der Schacht war eine Art Teleskop, mit dessen Hilfe man um Ecken herum in einen anderen Raum sehen konnte. Rechts steckten viele Hunderte von mattglänzenden Stäben, jeder etwa einen Meter fünfzig lang und im Durchmesser von der Größe eines Handtellers. Jeder Stab saß in einer Vertiefung, jeder war in angemessener Entfernung vom anderen angebracht. Es sah aus, als wüchse ein Wald aus Metall aus dem Betonboden hervor.

Links befand sich ein Glasbecken mit einer wasserklaren Flüssigkeit – wären Fische darin gewesen, so hätte man es für ein Aquarium halten können, aber es gab keine Fische darin.

Über dem Stangenwald lief ein kleiner Kran auf Rädern, die Stelle eines Kranhakens nahm eine große Zange ein. Eine ähnliche Kranvorrichtung war über dem Becken aufgebaut, nur hing daran eine riesige Pipette.

Die Mitte beherrschte ein metallenes Ungetüm, dessen Vorderfront mit Anzeigevorrichtungen gespickt war.

»Uranstäbe«, erläuterte der Major, »sozusagen als Zündhölzer für das schwere Wasser im Becken links. Aus Sicherheitsgründen sind beide vom Reaktor räumlich getrennt. Es ist ein ESCE-Reaktor, der die Energie direkt in Form von Elektrizität gewinnt. Natürlich ein einfaches Modell, dafür aber sehr sicher in der Funktion. Von Zeit zu Zeit – das heißt alle zwei Jahre – muß man Brennmaterial, schweres Wasser, nachfüllen. Sollte es einmal notwendig sein, ihn stillzulegen, dann läßt er sich durch die Unterzünder aus Uran wieder anheizen. Reparaturen kann man mit Hilfe der künstlichen Hände vornehmen. Sehen Sie!«

Er bediente eines der beidseitigen Hebelsysteme, und von der Decke löste sich ein Gebilde von der Form einer riesigen Spinne mit fünf Beinen. Der Major bewegte die Finger, und die Beine krümmten sich, schlossen sich zusammen und breiteten sich wieder aus.

»Es gibt mehrere solcher Handpaare – alle von verschiedener Größe, die man nach Belieben einstellen kann.« Der Major wartete kurze Zeit, dann forderte er ungeduldig:

»Kommen Sie weiter. Das ist nicht das Wichtigste.« Er trat durch eine Tür. Wieder waren sie im großen rundherumlaufenden Korridor. Sie gingen bis an die gegenüberliegende Seite. Endlich öffnete der Major eine Tür und schob Abel hinein. Warme, feuchte Luft schlug ihnen entgegen. Sie befanden sich in einem mild beleuchteten Saal, der wie ein chemisches Übungslabor mit vielen Arbeitsplätzen aussah. Zu jedem Tisch gehörte ein Behälter vom Äußeren eines riesigen Eisschranks.

Der Major trat an einen der Plätze und drückte einen Knopf. Auf der Mattscheibe erschien ein Bild von der Art einer Mikroaufnahme: Vor dunklem Hintergrund lag ein durchsichtiges Wesen, das manchmal zuckte und dadurch seine Stellung ein wenig veränderte, ein lurchartiges Gebilde mit kleinen Stümpfen von Armen und Beinen und einem kurzen Schwanz.

»Sehen Sie gut?« fragte der Major. »Oder soll ich auf Hellfeld stellen?« Er warf einen fingernagelgroßen Hebel herum, und die Helligkeitsstufen veränderten sich, als wäre alles, was vorher hell gewesen war, jetzt dunkel und umgekehrt.

»Es ist ein Mensch«, sagte der Major, »oder richtiger gesagt, es wird ein Mensch.« Er holte tief Atem, dann fuhr er fort:

»Was wäre meine Arbeit, wenn ich nicht wüßte, daß sie mich überlebt? Was hätte Ordnung und Manneszucht für einen Sinn, wenn sie mit der bestehenden Generation aussterben?«

Die Stimme des Majors klang feierlich.

»Wir haben vier Frauen zur Verfügung, und das heißt, wir sind nicht zum Aussterben verurteilt. Natürlich können wir nicht warten, bis die befruchtete Eizelle ausgereift ist – dafür haben wir keine Zeit –, aber das ist kein Problem. Hier können wir die Erkenntnisse der Medizin und der Biophysik nützlich verwenden. Ich hoffe, das Zuchtgut so lange im Brutkasten reifen lassen zu können, bis es einer systematischen militärischen Erziehung zugänglich ist, also viel länger als unter den üblichen Umständen. Dadurch glaube ich, zu besseren Ergebnissen zu kommen als meine Vorgänger.

Noch einen Vorteil habe ich ihnen gegenüber: Ich kann bestimmen, welche Männer zur Vermehrung zugelassen werden. Das ist ein wichtiger Punkt meines Systems: Ich muß dafür sorgen, daß in der nächsten Generation Fälle wie Sie nicht mehr auftreten. Es ist unbedingt notwendig – die Art und Weise der Steuerung, wie ich sie vorgesehen habe, beruht auf unbedingtem Gehorsam. Die Möglichkeit zu einer solchen Auslese bietet mir die medizinische Diagnoseanlage. Jeder Mann, der überhaupt in Frage kommt, wird auf sämtliche Eigenschaften, nicht nur die dominanten, auch die rezessiven, getestet. Ich lasse nur erstklassiges Erbgut zur Vermehrung zu. Klar, daß ich dabei auf jene körperlichen und charakterlichen Anlagen achte, die die besten Voraussetzungen für das Soldatentum mitbringen.«

Er sah Abel an und fügte dann bedauernd hinzu:

»Ich fürchte, Sie werden nicht bei den Auserwählten sein.« Er klopfte ihm auf die Schulter. »Kopf hoch! Es geht ja nicht um den einzelnen – es geht ums Ganze. Es geht darum, daß das Soldatentum für immer bestehenbleibt.«

Der Major drückte auf den Knopf, und das Bild auf dem Leuchtschirm fiel in sich zusammen.

»Gehen wir!« sagte der Major.

Sie hatten das Zimmer des Majors wieder aufgesucht. Körperlich war Abel todmüde und konnte sich kaum aufrecht halten, aber seine Gedanken waren auf eine eigenartige fiebrige Art wach; vor das, was seine Augen wirklich sahen, schoben sich immer wieder einzelne Bilder und Eindrücke, Momentaufnahmen von Szenen, die er in den letzten Tagen und in den letzten Stunden erlebt hatte – die Uranstäbe und die künstlichen Hände, die Brutofen, das werdende Menschenkind, das einst Soldat werden sollte.

Abel stand vor dem Tisch und stemmte seine Fäuste darauf, um nicht zu fallen.

Der Major beobachtete ihn. Dann sagte er:

»Setzen Sie sich!«

Abel ließ sich auf einem Hocker nieder. Um sich anlehnen zu können, rückte er ihn an die Wand.

»Zigarette?« fragte der Major. »Nehmen Sie einen Schluck?«

Er holte eine Flasche aus dem Schrank und goß ein wenig farblose Flüssigkeit in einen Becher, den er Abel zuschob. Abel setzte das Glas an die Lippen – die Flüssigkeit roch scharf, aber nicht unangenehm, und als er einen vorsichtigen Schluck nahm, rann sie wie Feuer, aber herrlich belebend durch die Gurgel. Die Umgebung um ihn rückte ein wenig fort, und er fühlte sich angenehm müde. Er stützte den Kopf in die Hand, weil er so schwer war. Der Major ist doch ein feiner Kerl, dachte er gegen seinen Willen, wer hat das doch schon einmal gesagt?

»Wir wollen uns ein wenig unterhalten«, sagte der Major. »Sie haben mir viel zu erzählen. Wie kamen Sie eigentlich auf die Idee, mich erschießen zu wollen?«

Abel hätte gern geantwortet, aber seine Stimmbänder gehorchten nicht.

»Trinken Sie noch einen Schluck«, forderte ihn der Major auf und drückte ihm das Glas in die Hand. »Trinken Sie aus!«

Abel schüttete den Inhalt des Glases in sich hinein. Es schüttelte ihn, er spürte, wie die Flüssigkeit als Fremdkörper in seinem Magen stehenblieb. Es brannte ein wenig, doch es munterte ihn auf.

»Sie haben Ihre Pillen nicht ordnungsgemäß genommen – so ist das«, sagte der Major. »Aber weshalb? Das interessiert mich ungemein. Hat mein System einen Fehler?« Er sprach wie zu sich selbst. »Mein System hat doch keinen Fehler!« Er trat vor Abel und sagte: »Sie müssen mir helfen: Wie kamen Sie dazu, die schwarze Pille nicht zu nehmen?«

Abel hätte es ihm gern gesagt, aber er konnte es nicht. Er wußte die Antwort nicht. Was hatte ihn veranlaßt, die Pille nicht zu nehmen? Es mußte etwas so entfernt Liegendes gewesen sein, daß er es einfach nicht fassen konnte.

»Sie entwickeln allerhand Widerstandskraft«, sagte der Major. »Leider am falschen Platz. Aber fangen wir es anders an: Wie sind Sie hierhergekommen?«

»Durch das Maschinenhaus«, sagte Abel. »Die Tür war offen.«

»Die Tür war offen«, wiederholte der Major. »Gewiß. Warum sollte sie auch geschlossen sein? Sie hatten nichts im Maschinenhaus zu suchen. Wie konnten Sie sich über die Vorschriften hinwegsetzen?« Er ließ sich auf dem Bett nieder, zog ein Etui aus der Tischlade und entnahm ihm eine Zigarette.

»Rauchen Sie auch eine?« fragte er und bot Abel die offene Schachtel.

»Nein, danke.«

Der Major steckte eine Zigarette in den Mund. Ein Feuerzeug flammte auf. Er zog leicht die Luft ein und stieß dann einen Rauchring aus.

»Sie konnten die Vorschriften ignorieren, weil Sie die schwarze Pille nicht genommen haben. Das bringt uns nicht weiter. Also was anderes. Wir haben Ihren Kumpan Austin gefunden. Wissen Sie, wo?« Er wartete keine Antwort ab. »Natürlich wissen Sie, wo. Sie waren es ja, der die Schleuse zugemacht hat. Ist Ihnen klar, daß Sie unwahrscheinliches Glück gehabt haben, Abel?«

Abel nickte. Ja, er hatte unwahrscheinliches Glück gehabt.

»Wir haben Austin im Schleusenraum gelassen. Als abschreckendes Beispiel – falls es noch einmal zu etwas Ähnlichem kommt wie zu diesem peinlichen Vorfall gestern... Mensch, Abel«, rief er, »die Vorschriften haben doch ihren Sinn! Es sind doch keine Willkürmaßnahmen, die sich irgendein Narr aus den Fingern gesogen hat! Jedes Gesetz habe ich mir tausendmal überlegt und durchdacht, bevor ich es erlassen habe. Es gibt kein Kommando, das nicht die knappste und präziseste Form hätte. Es gibt keinen Schritt, der nicht, so wie er regelgerecht zu erfolgen hat, am geradesten Weg zum Ziel führte. Nichts ist überflüssig, alles dient seinem Zweck...«

Er zog heftig an seiner Zigarette.

»Also, wie war das mit Austin? Sprechen Sie!«

»Austin wollte hinaus. Weg von hier!«

»Hinaus. Unglaublich«, murmelte der Major. »Hinaus! Es gibt keinen Satz im Reglement, der dem Soldaten die Möglichkeit ließe hinauszukommen. Und wissen Sie, was das bedeutet? Es bedeutet, daß es falsch ist, nach draußen zu wollen. Es heißt...«

Es klopfte an der Tür.

»Was gibt’s?« fragte der Major.

Eine Frauenstimme fragte:

»Wünschen Sie jetzt Ihren Tee?«

»Zwei Tassen«, antwortete der Major.

Einen Moment Schweigen. Dann erklang es unsicher:

»Ich habe nicht verstanden ... sagten Sie zwei Tassen?«

»Bist du taub?« schrie der Major. »Zwei Tassen! Und zwar schleunigst!

Austin wollte also hinaus«, fuhr er fort. »Na schön. Ich werde daraus lernen. Es verrät mir, daß irgendwo in euch Burschen noch ein Funke Renitenz glimmt. Die sich nicht anpassen können. Die ewigen Revolutionäre. Außenseiter der Gesellschaft. Im Tierreich werden sie von den anderen ausgestoßen – wenn nicht zerrissen. Den Funken werde ich auch noch austreten, verlaßt euch drauf! Na schön. Wie kam Austin dazu, sich so zu vergessen? Ich meine:

Wie brachte er es fertig, etwas gegen die Vorschriften zu tun? Haben Sie ihn dazu gezwungen? Hat auch er keine schwarze Pille genommen?«

»Nein«, sagte Abel leise. »Ich habe die seine zerstört.«

»Zufällig oder absichtlich?«

»Absichtlich«, sagte Abel.

»Die Lawine ging also von Ihnen aus, Abel. Aber wie konnten Sie... Nun, eben, weil auch Sie Ihre Pille nicht genommen hatten. Wir bewegen uns im Kreis.« Er schwieg und dachte nach.

Es klopfte an der Tür. »Der Tee, Herr Major!«

»Ja! Komm rein!«

Eine Frau betrat das Zimmer. Sie trug ein Tablett. Es war die blonde Frau, die Abel schon kannte. Sie sahen einander nicht an. Als sie die Tassen auf den Tisch setzte, eine zum Major und eine zu Abel rückte, legte der Major seine linke Hand um ihre Hüften und zog sie näher an sich.

»Abel 56/7! Können Sie nicht aufstehen, wenn eine Dame hereinkommt?« Er brüllte, seine Gesicht färbte sich rot. »Lümmelt da wie ein... Achtung! Stillgestanden! Hände in Vorhalte. Fünfzig Kniebeugen!«

Abel war aufgesprungen, wie aus einem Traum gerissen. In Bademantel und Pantoffeln stand er da, die Füße parallel gerichtet, die Hände angelegt.

»Knie beugen! Stehen Sie auf Ihren Löffeln?«

Abel beugte die Knie, streckte die Knie, beugte die Knie...

Der Major schlug der Frau klatschend aufs Gesäß.

»Verschwinde«, sagte er.

Er stand auf und drehte sich zur Landkarte an der Wand. Seine Augen folgten den roten und blauen Linien, die sie als hieroglyphenhaftes Muster überzogen.

Später klingelte er. Dem Sergeanten, der daraufhin erschien, befahl er, indem er mit dem Daumen auf Abel wies:

»Ab mit ihm – ins Kino!«

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