16

Barsimmon Oridio mußte Wren Mitteilung machen. Er richtete sich nach der Entscheidung des Hohen Konzils, sich der herannahenden Föderationsstreitmacht zu stellen, anstatt sie in Arborlon zu erwarten, aber er mußte ihr melden, daß es mindestens eine Woche dauern würde, die gesamte Armee zu versammeln und auszurüsten. Daher beschloß sie, mit so vielen Männern, wie er in zwei Tagen bereitstellen konnte, auszuziehen, um als Vorhut in die Auseinandersetzung zu ziehen. Wie es vorauszusehen gewesen war, wehrte sich der alte Krieger dagegen und zweifelte den Sinn dieses Vorhabens an, eine kleine Streitmacht gegen so viele zu führen. Er stellte die Frage, was geschehen würde, wenn sie in eine Falle geraten würden und kämpften müßten. Sie hörte ihm geduldig zu und erklärte dann, daß der Zweck dieser Vorhut nicht sei, sich dem Feind zu stellen, sondern der, ihn auszukundschaften und vielleicht zu behindern, indem sie ihn die Anwesenheit einer anderen Armee auf dem Feld entdecken ließ. Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen, versicherte sie ihm. Bar sollte den Befehlshaber der Vorhut auswählen, und sie würde an dessen Entscheidungen gebunden sein. Bar war erregt und wütend, aber schließlich lenkte er ein und gab sich mit ihrem Versprechen zufrieden, daß sie warten würde, bevor sie irgendeine Art von Offensive ergriffe, bis er mit dem Hauptteil der Armee nachkommen würde.

Die Nachricht von dem Herannahen der Föderationsarmee und von der Gefahr, die sie darstellte, machte die Runde unter den Elfen, die sich in der Umgebung niedergelassen hatten. Wer wollte, konnte nach Arborlon kommen, das als Festung für das Elfenvolk dienen würde. Wer bleiben wollte, wo er war, sollte darauf vorbereitet sein, zu fliehen, falls die Föderation durchbrach. Flugreiter wurden zu den entferntesten Punkten und zum Wing Hove ausgesandt, und außerdem wurden Läufer eingesetzt. Familien aus den Ansiedlungen in der Nähe der Stadt begannen bald darauf, in die Stadt zu strömen. Wren brachte sie in Lagern unter, die über die Klippe verteilt lagen und von den Schutzwällen, die gerade errichtet wurden, ein Stück entfernt waren. Dieses Mal war die Stadt nicht hinter Mauern geborgen. Der Elfitch war zu Elventine Elessedils Zeiten bei dem Angriff der Dämonen zerstört worden, und den Keel hatten sie auf Morrowindl zurücklassen müssen. Sie würden Bollwerke errichten, aber diese würden weder groß, noch hoch, noch unüberwindbar sein. Die Klippen des Carolan und die Wasser des Rill Song boten einen gewissen natürlichen Schutz vor einem Angriff von Westen, und im Norden und im Süden befanden sich hohe Berge. Aber die Föderation würde sehr wahrscheinlich von Osten, durch das Tal von Rhenn, angreifen. Welche Schutzwälle auch immer zu errichten waren, sie würden dort errichtet werden müssen.

Wren sprach mit ihren Verwaltern und den Befehlshabern ihrer Armee lange darüber, in welcher Form diese Schutzwälle errichtet werden sollten. Im Osten der Stadt gab es bis zu den Ebenen überall riesige Wälder, und viele von ihnen waren unpassierbar für eine Streitmacht von der Größe derjenigen, die sich näherte. Alle waren sich einig, daß die Föderationsarmee versuchen würde, ihre geballte Kraft einzusetzen, um die Elfen zu vernichten, und zwischen den Bäumen auszuschwärmen würde seinen Befehlshabern sicher nicht als erwägenswerte Alternative erscheinen. Daher würde die Armee sicher durch den Rhenn kommen und dem Hauptweg von Westen bis an die Stadt folgen, um dort auszuschwärmen. Aber selbst diese Annäherung würde den Angreifern nicht leicht werden. Es war viele Jahre her, seit der Weg regelmäßig benutzt worden war, wenn er überhaupt benutzt worden war, seit die Elfen aus dem Westland verschwunden waren. Große Teile des Weges hatte der Wald zurückgefordert. Er gab in jenen Tagen eigentlich mehr einen Pfad als einen Weg. Er war eng und gewunden, und es gab Stellen, an denen sich eine kleine Streitmacht eine Zeitlang gegen eine weitaus größere Armee würde behaupten können. Befestigungsanlagen sollten an so vielen dieser Stellen errichtet werden, wie die Zeit es zuließ, wobei Fallgruben und andere Arten von Fallen eingesetzt werden sollten, um jegliches Vorankommen zu behindern. Gleichzeitig sollte die Elfenarmee versuchen, die Föderationsstreitmächte auf dem Grasland im Osten zu behindern, wobei sie sich auf ihre Kavallerie, ihre Bogenschützen und die Flugreiter verlassen mußte, wenn sie der Übermacht der Südlandinfanterie entgegentreten wollte. Wenn das fehlschlug, mußten sie am Rhenn einen letzten Versuch unternehmen. Ein Bautrupp wurde ausgesandt, der die Arbeit an einer Verteidigungsanlage gegen die Annäherung von Osten her beginnen sollte, während ein zweiter sich daranmachte, am Carolan Befestigungen zu errichten. Ein Angriff von Westen war zwar unwahrscheinlich, aber es gab auch keinen Grund, irgend etwas dem Zufall zu überlassen.

Inzwischen schritt die gewaltige Aufgabe, die Elfenarmee auszurüsten und mit Proviant zu versorgen, unter der Leitung von Barsimmon Oridio voran. Wren ging dem alten Soldaten aus dem Weg. Sie war zufrieden, daß er eifrig mit etwas beschäftigt war, anstatt sie auszufragen. Ohne daß jemand anderes es hören konnte, informierte sie Triss, daß sie ein großes Kontingent der Bürgerwehr auf ihrer Reise dabeihaben wollte, und Tiger Ty, daß sie zudem ein Dutzend Flugreiter an ihrer Seite brauchte. Diese beiden Streitmächte sollten unter ihrem persönlichen Kommando stehen. Es war gut, eine Taktik für den Kampf auf dem Schlachtfeld von Männern wie Bar ersinnen zu lassen, aber eine größere Konfrontation war das letzte, was sie wollte. Sie hatte die Angelegenheit sehr sorgfältig durchdacht. Ständige Belästigungen und Verfolgung, so daß sich der Marsch der Angreifer verzögerte, so hatte sie es dem Konzil gesagt – und das war etwas, was die Elfen zu erreichen hoffen konnten. Garth hatte sie alles gelehrt, was es über diese Art des Kämpfens zu wissen gab. Sie hatte dem Konzil nichts davon gesagt, aber die Woche, die nötig war, um die Elfenarmee zu versammeln, konnte sich als zu große Verzögerung erweisen. Die Vorhut war in Wahrheit einfach ein Schild, der es ihr ermöglichen würde, schneller zu handeln. Die Föderationsarmee mußte jetzt aufgehalten werden. Sofort. Unkonventionelle Taktiken waren dafür nötig, und die Bürgerwehr und die Flugreiter waren für diese Aufgabe hervorragend geeignet.

Am Morgen des dritten Tages brach sie mit einer Streitmacht auf, die aus wenig mehr als tausend Mann bestand – aus achthundert Infanteristen, die sich überwiegend aus Bogenschützen zusammensetzten, und dreihundert Kavalleristen, aus einhundert Angehörigen der Bürgerwehr unter dem Kommando von Triss und einem Dutzend Flugreiter, wie sie es von Tiger Ty gefordert hatte. Die Flugreiter wurden von einem erfahrenen Veteran namens Erring Rift angeführt, aber Tiger Ty war auch dabei, denn er hatte darauf bestanden, daß niemand außer ihm die Königin gen Himmel führen sollte, wenn sie den Wunsch äußern sollte, weitere Erkundungen zu unternehmen. Barsimmon Oridio hatte einen hageren Veteran namens Desidio dazu ernannt, die Expedition anzuführen. Wren kannte ihn als zuverlässig, zäh und klug. Es war eine gute Wahl. Desidio war erfahren genug, um tun zu können, was getan werden mußte, aber er würde auch nicht mehr tun. Das war für Wren in Ordnung. Die Bürgerwehr unterstand ihr, und die Flugreiter waren unabhängig und konnten folgen, wem immer sie wollten. So waren ihre Kräfte sehr ausgewogen.

Die Tatsache, daß sie überhaupt mitziehen wollte, war ein Streitpunkt unter den Verwaltern gewesen, aber sie hatte vom ersten Abend an klargemacht, daß eine Elfenkönigin immer die Führung übernehmen muß, wenn sie erwarten will, daß irgend jemand ihr folgt. Sie hatte von Anfang an die Absicht gehabt, mit dem Heer hinauszuziehen, daran hatte sie die Verwalter erinnert, und es gab keinen Grund, damit zu warten. Sie hatte ein Leben damit verbracht, zu lernen, wie man überlebt, und sie besaß die Macht der Elfensteine, die sie beschützen würde. Sie hatte weniger Grund denn je, sich Sorgen zu machen. Und sie hatte nicht die Absicht, Ausreden zu ersinnen.

Schließlich setzte sie sich durch, denn es war niemand darauf vorbereitet, in dieser Angelegenheit gegen sie anzutreten. Einige, so dachte sie wenig liebevoll, als sie den düsteren Ausdruck auf den Gesichtern von Jalen Ruhl und Perek Arundel sah, hofften vielleicht sogar, daß ihre außergewöhnliche Beharrlichkeit ihr endlich zum Schaden gereichen würde.

Sie überließ Eton Shart die Verantwortung für das Konzil und die Stadt. Die Verwalter würden ihm nicht in die Quere kommen, und die Elfen kannten und respektierten ihn. Er würde sich auf jede notwendige Art entscheiden können, und sie vertraute darauf, daß er wissen würde, was zu tun wäre. Ihr erster Verwalter war vielleicht noch nicht völlig davon überzeugt, daß sie die Königin war, die ihr Volk brauchte, aber er hatte ihr Unterstützung zugesagt, und sie glaubte nicht, daß er dieses Versprechen brechen würde. Bei den anderen war sie sich weniger sicher, obwohl Fruaren Laurel ihr jetzt gewogen zu sein schien. Eton Shart jedenfalls würden sie alle die Treue halten.

Barsimmon Oridio kam, um sie zu verabschieden, erklärte, er werde in wenigen Tagen folgen, und erinnerte sie an ihr Versprechen, auf ihn zu warten. Sie lächelte und zwinkerte ihm zu, was ihn so zermürbte, daß er davonstolzierte. Sie war sich bewußt, daß Triss mit steinernem Gesicht an ihrer Seite saß, und Desidio sie von der anderen Seite her heimlich betrachtete. Tiger Ty war bereits aufgebrochen. Er war bei Tagesanbruch mit Spirit davongeflogen, um den augenblicklichen Aufenthaltsort der Föderation zu erkunden. Die restlichen Flugreiter würden bei Sonnenuntergang aufbrechen, um sich in ihrem Lager in der Nähe des Rhenn mit ihnen zu treffen. Die Elfenjäger zogen unter dem Winken und Hurrarufen der Stadtbewohner hinaus. Jung und Alt, alle waren herabgekommen, um sie zu verabschieden. Banner und Bänder wurden geschwenkt und gute Wünsche gerufen. Wren sah sich zweifelnd um. Es fühlte sich alles sehr seltsam an. Ihr Aufbruch wurde von fröhlicher Festtagsstimmung begleitet, und er verriet nichts von Verletzungen und Tod, die unweigerlich folgen würden.

Sie schritten an diesem ersten Tag schnell voran, liefen auf dem engen Pfad weit auseinandergezogen, um sich nicht gegenseitig zu behindern. In regelmäßigen Abständen verteilten sich Fährtensucher im Wald, um vor drohenden Gefahren zu warnen. Sie bewegten sich in ihrem eigenen Land und schenkten daher den Vorsichtsmaßnahmen, die sie anderweitig vielleicht beachtet hätten, weniger Aufmerksamkeit. Wren ritt mit Triss und der Bürgerwehr und wurde vorn und hinten abgeschirmt von Jägern, die sie sorgfältig gegen alles schützten, was vielleicht drohen könnte. Darüber mußte sie lächeln und sie dachte daran, wie anders die Dinge doch gewesen waren, als sie noch eine einfache Fahrende gewesen war. Hin und wieder mußte sie das Verlangen unterdrücken, von ihrem Pferd zu springen und in die kühle, grüne Stille der Bäume hineinzulaufen, zu dem Leben zurückzukehren, aus dem sie gekommen war, zu seinem Frieden zurückzufinden.

Faun hatte sie zu Hause zurückgelassen, eingeschlossen in Wrens Zimmer im zweiten Schloß des Elessedilheimes. Der Streleheim war kein Ort für ein Waldwesen, hatte sie erklärt. Aber der Baumschreier machte sich seine eigenen Gedanken und war nicht immer von dem überzeugt, was Wren für das beste für ihn hielt. Daher war Faun plötzlich da, als die Vorhut am Mittag haltmachte, um sich auszuruhen und die Pferde zu tränken. Er schoß als schwarzer Fleck aus dem dunklen Blätterwerk hervor, um sich auf seine verblüffte Herrin zu stürzen. Innerhalb von Sekunden hatte sich das kleine Wesen in den Falten von Wrens Reitkleidung verborgen und es sich dort bequem gemacht. Wren zuckte nur die Achseln und akzeptierte, was sie offensichtlich nicht würde ändern können.

Die späte Sommerhitze war stickig und feucht, und am Ende des Tages waren Männer und Pferde gleichermaßen verschwitzt. Sie lagerten mehrere Meilen vom Rhenn entfernt auf einer geschützten Lichtung zwischen Eichen und Hickorybäumen, nahe an einem Fluß und einem Teich, so daß sie sich waschen und trinken, aber auch in die Schatten und die Verborgenheit des Waldes zurückweichen konnten. Desidio sandte eine Patrouille von Reitern auf den Paß vor ihnen, um sicherzustellen, daß alles in Ordnung war, und setzte sich dann mit Wren und Triss zusammen, um darüber zu beraten, wie sie weiter vorangehen wollten. Tiger Ty würde bei seiner Rückkehr Neuigkeiten über den Standort der Föderationsarmee bringen, aber wenn man annahm, daß die Armee noch immer auf dem Vormarsch durch den Tirfing war, würden die Elfen südwärts über die freien Ebenen ziehen und sich dabei darauf verlassen können, daß die Kundschafter verhindern konnten, daß sie in einen Hinterhalt liefen. Sie würden aber auch unter den Bäumen bleiben können, wo sie nicht so leicht zu sehen wären. Wren hörte geduldig zu, sah dann Triss an und erklärte, sie zöge es vor, im Freien weiterzuziehen, damit sie mehr Zeit gewännen. Wenn sie erst einmal in Sichtweite der Föderation gelangt wären, würden sie den Wald als Versteck benutzen, während sie darüber entschieden, was dann als nächstes zu tun sei. Desidio sah sie bei den Worten »entscheiden, was als nächstes zu tun ist«, scharf an, nickte dann aber zustimmend und ging davon.

Sie hatten gerade ihre Mahlzeit beendet, als Tiger Ty staubig und erhitzt und müde durch die Bäume herabschwebte. Er ließ Spirit in einiger Entfernung landen, damit der riesige Rock die Pferde nicht aufstörte, und marschierte dann selbstbewußt zum Lager. Wren und Triss gingen ihm entgegen, um ihn zu begrüßen, und Desidio schloß sich ihnen an. Der Flugreiter gab einen kurzen Bericht über das Wichtigste. Die Föderationsarmee hatte den Mermidon erreicht und bereits begonnen, ihn zu überqueren. Irgendwann morgen würden sie gen Norden weiterziehen können. Sie kamen sehr zügig voran.

Wren nahm die Neuigkeiten mit einem Stirnrunzeln entgegen. Sie hatte gehofft, die Föderierten auf der anderen Seite des Flusses erreichen und dort aufhalten zu können. Aber die Ereignisse schritten schneller voran, als ihr lieb war.

Sie dankte Tiger Ty für den Bericht und schickte ihn fort, um etwas zu essen.

»Ihr denkt, daß die Elfenarmee zu spät eintreffen wird«, sagte Desidio leise, und sein hageres Gesicht war grübelnd verzogen.

Sie nickte. »Sie wird diesen Punkt hier erst in einer Woche erreichen.« Ihre grünen Augen richteten sich auf ihn. »Ich glaube nicht, daß wir die Föderation so nahe an Arborlon herankommen lassen dürfen, bevor wir sie aufzuhalten versuchen.«

Sie sahen einander an. »Ihr habt den Befehlshaber gehört«, sagte Desidio. »Wir müssen auf die Hauptarmee warten.« Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung.

Sie zuckte die Achseln. »Ich habe es gehört. Aber Hauptmann Oridio ist nicht hier. Aber Ihr seid es.«

Die dunklen Brauen hoben sich fragend. »Ihr habt etwas im Sinn, Mylady?«

Sie hielt seinem Blick stand. »Vielleicht. Wäret Ihr bereit zuzuhören, wenn es soweit ist?«

Desidio erhob sich. »Ihr seid die Königin. Ich muß stets zuhören.«

Als er gegangen war, lächelte sie Triss zweifelnd an. »Er weiß, was ich vorhabe, meint Ihr nicht auch?«

Triss bewegte seinen geschienten Arm ein wenig und legte ihn dann wieder bequem an. Am nächsten Tag würde die Schiene abgenommen werden. Triss wartete ungeduldig darauf, daß dies endlich geschah. Er dachte über ihre Frage nach und schüttelte dann den Kopf. »Ich glaube nicht, daß irgend jemand weiß, was Ihr im Sinn habt, Mylady«, sagte er weich. »Darum haben sie Angst vor Euch.«

Sie nahm diese Beobachtung kommentarlos zur Kenntnis. Triss konnte ihr alles sagen. Was sie auf ihrer Flucht von Morrowindl zusammen erlebt hatten, erlaubte es. Ihr Blick schweifte in die Bäume ab. Die Dämmerung breitete in dunklen Teichen Schatten aus, die das Licht auffraßen. Seit Garth gestorben war, stellte sie manchmal fest, daß sie sich fragte, ob sie versuchen würden, auch sie zu verschlingen.

Nur Momente später lenkte das Geräusch von Pferdehufen ihre Aufmerksamkeit wieder dem Lager zu. Die zum Rhenn entsandten Kundschafter waren zurückgekehrt, und sie hatten jemanden mit sich gebracht. Sie kamen donnernd zum Halten, rissen an den Zügeln ihrer schnaubenden, schaumbedeckten Tiere. Die Pferde waren hart geritten worden. Triss stand schnell auf, und Wren ging mit ihm. Die Reiter und der Mann, den sie mitgebracht hatten, waren abgestiegen und bahnten sich ihren Weg durch eine Gruppe von Elfenjägern zu der Stelle, an der Desidio als hagerer Schatten vor dem Feuerschein wartete. Worte wurden ausgetauscht, und dann wandten sich Desidio und der unbekannte Mann um und kamen auf sie zu.

Sie konnte mehr erkennen, als sich die beiden näherten, und sah, daß es keineswegs ein Mann war, der da mit Desidio herankam. Es war ein Junge.

»Mylady«, sagte ihr Hauptmann, als er eintraf. »Ein Bote von den Geächteten.«

Der Junge trat ins Licht. Er war blond und blauäugig und unter der Bräune durch Sonne und Wind sehr hellhäutig. Er war klein und wirkte flink und kompakt, ohne sehr muskulös zu sein. Er lächelte und verbeugte sich eher unbeholfen.

»Ich bin Tib Arne«, verkündete er. »Padishar Creel und die Geächteten haben mich entsandt, um dem Elfenvolk Grüße zu entrichten und ihre Unterstützung in dem Kampf gegen die Föderation anzubieten.« Seine Worte klangen sehr einstudiert.

»Ich bin Wren Elessedil«, erwiderte sie und reichte ihm die Hand. Er nahm sie, hielt sie einen Moment lang unsicher fest und ließ sie dann wieder los. »Wie hast du uns gefunden, Tib?«

Er lachte. »Ihr habt mich gefunden. Ich kam von Westen aus dem Callahorn, um die Elfen zu suchen, aber Ihr habt es mir leicht gemacht. Eure Kundschafter warteten bereits am Eingang des Tales, als ich es betrat.« Er sah sich um. »Es scheint, als wäre ich gerade rechtzeitig angekommen.«

»Welche Art von Hilfe bieten die Geächteten uns an?« fragte sie und ignorierte seine Bemerkung. Er war zu gewitzt.

»Mich, für den Anfang. Ich soll Euer bereiter und williger Diener sein, Euer Verbindungsglied zu den anderen, bis sie ankommen. Die Geächteten versammeln sich in den Drachenzähnen zum Marsch nach Westen. Sie werden innerhalb einer Woche hier sein. Fünftausend oder mehr mit ihren Verbündeten, meine Königin.«

Wren sah, wie Triss die Augenbrauen hob. »Fünftausend Mann stark?« wiederholte sie.

Tib zuckte die Achseln. »So hat man es mir gesagt. Ich bin nur ein Bote.«

»Und ein ziemlich junger noch dazu«, bemerkte sie.

Sein Lächeln kam schnell und selbstsicher. »Oh, nicht so jung, wie ich aussehe. Und ich reise nicht allein. Ich habe Gloon zum Schutz bei mir.«

Wren lächelte zurück. »Gloon?«

Er nickte, steckte dann die Finger in die Mundwinkel und stieß einen schrillen Pfiff aus, der alles andere ringsum zum Schweigen brachte. Sein rechter Arm kam hoch, und jetzt sah Wren, daß er einen dicken Lederhandschuh trug, der ihm bis zum Ellenbogen reichte.

Plötzlich stieß ein Schatten aus der Dunkelheit herab, der noch dunkler war als sie, ein pfeifendes Geräusch und ein Zorn, der durch die Luft schnitt wie ein schwarzer Pfeil. Er landete mit einem hörbaren, dumpfen Schlag auf dem Handschuh des Jungen, die Flügel ausgebreitet und den Kopf schiefgelegt, die Federn gesträubt, daß sie wie Dornen hervorstanden. Wider Willen wich Wren zurück. Es war ein Vogel, aber einer, wie sie noch nie einen gesehen hatte. Er war größer, riesiger als ein Falke oder sogar eine Eule, seine Federn waren schiefergrau mit roter Stirn, und sein Kamm war drohend aufgerichtet. Sein Schnabel war gelb und scharf gebogen, und seine Klauen waren gewaltig groß an seinem Körper, der gedrungen und klotzig wirkte, ganz Sehnen und Muskeln unter den Federn. Der Vogel zog den Kopf zwischen die Schultern wie ein Kämpfer und starrte Wren aus harten, bösartigen Augen an.

»Was ist das?« fragte sie den Jungen und überlegte plötzlich, wo sich Faun verbarg – sie hoffte, daß er sich gut versteckt hielt.

»Gloon? Er ist ein Kampfhaubenwürger, eine Jagdvogelzüchtung, die aus dem Trollgebiet kommt. Ich habe ihn als Baby gefunden und aufgezogen. Und ich habe ihn zur Jagd abgerichtet.« Tib schien stolz auf ihn zu sein. »Er sorgt dafür, daß mir nichts geschieht.«

Wren glaubte ihm. Sie mochte den Anblick des Vogels überhaupt nicht. Sie zwang ihren Blick von ihm fort und richtete ihn auf den Jungen. »Du mußt etwas essen und dich die Nacht über hier ausruhen, Tib«, bot sie ihm an. »Aber solltest du morgen früh nicht zurückgehen und die Geächteten wissen lassen, wo wir sind? Es ist wichtig für uns, daß sie so schnell wie möglich herkommen.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie kommen bereits, und nichts, was ich tun kann, würde ihren Marsch beschleunigen. Wenn sie näherkommen, werden sie eine Botschaft senden – einen weiteren Vogel. Dann werde ich Gloon fortschicken.« Er lächelte. »Sie werden uns finden, keine Sorge. Aber ich soll bei Euch bleiben, meine Königin. Ich soll Euch hier dienen.«

»Du kannst vielleicht am besten dienlich sein, indem du zurückgehst«, bemerkte Desidio unerbittlich.

Tib blinzelte und wirkte verwirrt. »Aber... aber ich will nicht zurückgehen!« brach es impulsiv aus ihm heraus. Plötzlich schien er so jung zu sein, wie er aussah. »Ich möchte hierbleiben. Es wird etwas geschehen, nicht wahr? Ich möchte daran teilhaben.« Er schaute schnell zu Wren. »Ihr seid Elfen, meine Königin, und niemand hat jemals zuvor Elfen gesehen! Ich... ich war nicht die erste Wahl für diese Reise. Ich mußte lange argumentieren, um diese Aufgabe übertragen zu bekommen. Schickt mich nicht sofort weg. Ich kann auf irgendeine Weise helfen, ich weiß, daß ich es kann. Bitte, meine Königin? Ich bin einen langen Weg hierhergekommen, um Euch zu finden. Laßt mich eine Weile bleiben.«

»Und Gloon vermutlich auch?« Sie lächelte.

Er lächelte augenblicklich zurück. »Oh, Gloon wird im Verborgenen bleiben, bis er gerufen wird.« Er warf seine Hand hoch und der Kampfhaubenwürger schoß aufwärts und verschwand. Tib sah ihm nach und sagte: »Er sorgt überwiegend für sich selbst.«

Wren sah Desidio an, der zweifelnd den Kopf schüttelte. Tib schien es nicht zu sehen, denn sein Blick war noch immer zum Himmel gerichtet.

»Tib, warum gehst du nicht etwas essen und dann zu Bett«, rief Wren. »Über alles andere werden wir morgen früh reden.«

Der Junge sah sie an, blinzelte, unterdrückte ein Gähnen, nickte und trottete pflichtgemäß hinter Desidio her davon. Tiger Ty kam an ihnen vorbei, als er mit einem Teller mit Essen vom Herdfeuer herannahte, und warf einen scharfen Blick auf den Jungen zurück, als er Wren erreicht hatte.

»War das ein Kampfhaubenwürger, den ich da gesehen habe?« grollte er. »Ekelhafte Vögel sind das. Kaum zu glauben, daß dieser Junge einen abrichten konnte. Die meisten von ihnen würden jedem den Kopf abreißen, sobald sie ihn erspäht haben.«

»So gefährlich?« fragte Wren interessiert.

»Mörder«, antwortete der Flugreiter. »Jagen alles, sogar eine Moorkatze. Ich weiß nicht, wie ihnen jemand entkommen kann, wenn sie ihn erst aufgestöbert haben. Es kursiert das Gerücht, daß sie in früheren Zeiten dazu benutzt wurden, Menschen zu jagen – ausgesandt wie gedungene Mörder. Klug und grausam.« Er schüttelte den Kopf. »Ekelhaft, wie ich bereits sagte.«

Sie sah Triss an. »Vielleicht sollten wir ihn dann nicht um uns haben wollen.«

Tiger Ty wandte sich zum Gehen. »Ich würde es nicht wollen.« Er streckte sich. »Zeit zu schlafen. Die anderen sind vor einer Stunde gekommen, falls Ihr es nicht gesehen habt. Wir werden die Lage morgen früh erneut auskundschaften. Gute Nacht.«

Er schlenderte in die Dunkelheit davon, gebeugt, krummbeinig, von einer Seite zur anderen schaukelnd wie ein altes Möbelstück, das im Vorübergehen angestoßen wurde. Wren und Triss schauten ihm schweigend nach. Als er fort war, sahen sie einander an.

»Ich werde Tib zurückschicken«, sagte sie.

Triss nickte. Danach sprachen sie beide nicht mehr.

Wren schlief am Rande des Feuerscheins. Sie war in ihre leichte Wolldecke eingerollt und träumte von Dingen, die so schnell vergessen wurden, wie sie vorbei waren. Zweimal wachte sie von den Geräuschen der Nacht auf, von leisem Zwitschern und Summen, leichten Bewegungen im Gestrüpp und dem Rascheln von unsichtbaren Wesen in den Zweigen der Bäume weit über ihr. Es war warm, und die Luft war still, und das sorgte nicht gerade für einen erholsamen Schlaf. Die Bürgerwehr schlief um sie herum, und Triss war weniger als ein Dutzend Fuß entfernt. Am Rande ihres Sichtfelds sah sie andere patrouillieren, vage Schatten vor der Dunkelheit. In ihrer Armbeuge rührte sich Faun unruhig. Die Nacht schlich sich davon, und sie schwamm träge durch den Schlaf und das Erwachen.

Sie richtete sich gerade auf einen weiteren Versuch ein, tiefen Schlaf zu finden, denn der tiefste Teil der Nacht war erreicht, als direkt vor ihr ein stacheliges Gesicht auftauchte. Sie sah erschrocken hoch.

»Hssst! Ruhig, Wren Elessedil!« sagte eine vertraute Stimme.

Eilig richtete sie sich auf einen Ellenbogen auf. »Stresa!«

Faun quietschte, als er ihn wiedererkannte, und der Stachelkater zischte ihm zu, er solle ruhig bleiben. Er kam nahe heran, setzte sich zurück und sah sie mit seinen seltsamen, blauen Augen an. »Es schien keine phhttt gute Idee, dich allein hinausziehen zu lassen.«

Sie lächelte wider Willen. »Du hast mich fast zu Tode erschreckt! Wie bist du denn an den Wachen vorbeigekommen?«

Die Zunge des Stachelkaters fuhr heraus, und sie hätte schwören können, daß er lächelte. »Nun aber wirklich, Elfenmädchen. Sie sind nur Menschen. Sssstt! Wenn du mir eine Herausforderung stellen willst, phfftt, dann bring mich wieder nach Morrowindl.« Seine Augen blinzelten schimmernd. »Wenn ich noch mal darüber nachdenke, dann tu es lieber nicht. Es gefällt mir hier in deiner Welt.«

Wren barg Faun an ihrem Körper, als der Baumschreier sich fortzuwinden versuchte. »Ich bin froh, daß du hier bist«, sagte sie zu Stresa. »Ich mache mir manchmal Sorgen um dich.«

»Sorgen um mich! Phaagg! Warum denn? Nach Morrowindl kann mich nichts mehr erschrecken. Dies ist eine gute Welt, in der du lebst, Wren von den Elfen.«

»Aber dort, wo wir hingehen, ist es nicht so gut. Weißt du davon?«

»Hssstt. Ich habe davon gehört. Noch mehr von den dunklen Wesen, dieselben wie die auf Morrowindl. Aber wie böse sind diese, Elfenmädchen? Sind es Wesen wie der rrowwwll Wisteron?«

Die Nase des Stachelkaters war feucht und glitzerte im Sternenlicht. »Nein«, antwortete sie. »Zumindest noch nicht. Dieses sind Menschen, aber sie sind so viele mehr als wir, und sie sind entschlossen, uns zu vernichten.«

Stresa dachte einen Moment darüber nach. »Dennoch, besser als die Monster.«

»Ja, besser.« Sie atmete seufzend die heiße Nachtluft ein. »Aber einige von diesen Menschen sind auch Monster.«

»Also ändert sich nichts, nicht wahr?« Der Stachelkater schüttelte seine Stacheln und erhob sich. »Ich werde dir nahe sein, hssttt, aber du wirst mich nicht sehen. Wenn du mich brauchst, werde ich jedoch, phhfftt, da sein.«

»Du könntest bleiben«, schlug sie vor.

Stresa spie aus. »Im Wald bin ich glücklicher. Und auch sicherer. Rowwlll. Du wärst auch sicherer, aber du wirst nicht gehen. Deine Augen, das werde ich sein müssen. Hssstt! Was ich sehe, wirst du als erste erfahren.« Die Zunge fuhr heraus. »Paß auf dich auf, Wren Elessedil. Vergiß die Lektionen von Morrowindl nicht.«

Sie nickte. »Das werde ich nicht.«

Stresa wandte sich zum Gehen. »Schick mir den Baumschreier, ssttt, wenn du mich brauchst«, flüsterte er zurück, und dann war er fort.

Sie sah ihm in der Dunkelheit eine Weile lang nach, und hielt Faun in ihren Armen klein und warm geborgen. Schließlich legte sie sich erneut zurück, lächelte und schloß die Augen. Sie fühlte sich besser, seit sie wußte, daß der Stachelkater für sie da war.

Innerhalb von Sekunden war sie erneut eingeschlafen. Erst am Morgen wachte sie wieder auf.

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