Auf der Erde konnte der Mensch nicht weitergehen in der Überwindung der ihm durch Atmosphäre, Metalle und Optik gesetzten Schranken. Mit diesem gigantischen Spiegel, Hauptstück eines Teleskops, für dessen Bau sich Dutzende der größten Geister zusammengetan hatten, um in jahrelanger Arbeit ein Instrument von nie dagewesener Genauigkeit, Feinheit und Reichweite hervorzubringen, ausgestattet mit allen Apparaturen, die sich ein Astronom nur vorstellen und wünschen kann, war das Studium des Universums an einen Höhepunkt gelangt.
Der Februar nahte, und als Marguerite von ihrer samstäglichen Rationszuteilung nach Hause fuhr, wurde ihr deutlich, wie sehr Blind Lake sich verändert hatte.
Gar nicht mal an der Oberfläche. Wann immer es schneite, kamen nach wie vor die Schneepflüge aus ihren Standorten hinter dem Einkaufszentrum hervor und machten die Straßen befahrbar. Noch immer brannten abends Lichter in den Fenstern. Alle hatten es warm und niemand musste hungern. Doch es hatte sich eine gewisse Schäbigkeit über die Stadt gelegt, etwas gleichsam Ungewaschenes. Es kamen keine Firmen mehr von außerhalb, um Schlaglöcher auszubessern oder die Schindel zu ersetzen, die bei den nachweihnachtlichen Stürmen von so vielen Dächern gerissen worden waren. Der Müll wurde weiter regelmäßig abgeholt und gesammelt, konnte aber nicht mehr abgefahren werden — die Stadtreinigungsleute hatten eine vorläufige Deponie bei den westlichen Ausläufern des Sees eingerichtet, nahe des Begrenzungszauns und möglichst weit entfernt von der Stadt und den geschützten Feuchtgebieten; dennoch wurde der Geruch vom Wind herangetragen, wie ein Vorbote des Verfalls, und an besonders windigen Tagen hatte Marguerite auch schon Papierfetzen und Lebensmittelverpackungen wie Steppenhexen am Einkaufszentrum entlangwehen sehen. Die Frage war so geläufig, dass niemand sich mehr die Mühe machte, sie explizit zu stellen: Wann wird es zu Ende gehen?
Denn es konnte jederzeit zu Ende gehen.
Tess war erschöpft und benommen vom Ort des Flugzeugabsturzes zurückgekehrt. Marguerite hatte sie in Decken eingewickelt, ihr heiße Suppe zu essen gegeben und sie anschließend ins Bett gesteckt. Tess hatte dann die Nacht durchgeschlafen — im Gegensatz zu Marguerite — und schien am nächsten Morgen wieder ganz die Alte zu sein. Schien war das Schlüsselwort. Zwischen Weihnachten und Neujahr hatte Tess Mirror Girl mit keinem Wort erwähnt, und es hatte keine einschlägigen Vorfälle gegeben; aber Marguerite waren die Sorgenfalten auf Tessas Gesicht nicht entgangen, und sie hatte im Schweigen ihrer Tochter etwas Gewichtigeres gespürt als ihre übliche Schüchternheit.
Nur äußerst widerstrebend hatte sie Tess zu ihrem einwöchigen Besuch bei Ray geschickt, aber es gab dazu keine Alternative. Hätte sie sich gesträubt, würde Ray mit einiger Sicherheit einen seiner Aushilfspolizisten vom Sicherheitsdienst geschickt haben, um Tess mit Gewalt abzuholen. Mit größtem Unbehagen hatte Marguerite daher ihrer Tochter geholfen, ihre wichtigsten Besitztümer in den Rucksack zu packen, und sie dann nach draußen begleitet, als Ray mit seinem kleinen scarabäusfarbenen Auto am Straßenrand hielt.
Ray war nur ein Schattenriss im dunklen Innenraum des Wagens geblieben, nicht willens, ihr sein Gesicht zu zeigen. Er sah irgendwie verschwommen aus, dachte Marguerite, wie eine verblassende Erinnerung. Sie sah, wie Tess ihn mit einer Fröhlichkeit begrüßte, die ihr als entweder aufgesetzt oder herzzerreißend naiv erschien.
Das einzig Positive an der Sache war, dass sie in der nun folgenden Woche mehr Zeit für Chris haben würde. Während sie in die Auffahrt bog, waren ihre Gedanken bei ihm.
Chris. Er hatte einen mächtigen Eindruck auf sie gemacht mit seinen verwundeten Augen und seiner offensichtlichen Courage. Gar nicht zu reden von der Art, wie er sie berührte: wie jemand, der in eine warme Quelle tritt und erst einmal die Temperatur prüft, bevor er ganz ins Wasser eintaucht. Guter Chris. Unheimlicher Chris.
Unheimlich, weil die Anwesenheit eines Mannes im Haus — und das intime Verhältnis zu ihm — unliebsame Erinnerungen an Ray wachrief, wenn auch allein über den Kontrast vermittelt. Der Geruch von Aftershave im Bad, eine auf den Schlafzimmerfußboden geworfene Männerhose, männliche Wärme, die in den Ritzen des Bettes hing … mit Ray waren ihr all diese Dinge irgendwann nur noch hassenswert erschienen, so unangenehm wie ein blauer Fleck. Aber mit Chris war es das genaue Gegenteil. Gestern hatte sie sich nicht nur bereit erklärt, seine Sachen mit zu waschen, sie hatte sich zudem dabei ertappt, wie sie verstohlen seinen Geruch aus einem Unterhemd einatmete, bevor sie es in die Maschine gab. Lächerlich, wie ein Schulmädchen, dachte Marguerite. Wie gefährlich verschossen sie in diesen Mann war.
Anzunehmen aber, dass es jedenfalls therapeutische Wirkung hatte — als würde man das Gilt aus einer Schlangenbisswunde ziehen.
Es wurde viel über »Abriegelungsromanzen« gesprochen. War dies eine Abriegelungsromanze? Marguerites Erfahrungen waren begrenzt. Ray war nicht nur ihr erster Ehemann, sondern auch ihre erste ernsthafte Liebschaft gewesen. Marguerite hatte, wie Tess, in der Schule zu den Außenseitern gehört: intelligent, aber linkisch, nicht besonders hübsch und immer zu schüchtern, um den Mund aufzumachen, wenn sie unter Leuten war. Jungen mit diesen Eigenschaften wurden als »Geeks« bezeichnet, aber die schienen wenigstens Trost in der Gemeinschaft mit anderen ihresgleichen zu finden. Marguerite hatte nie echte Freunde, egal welchen Geschlechts, gehabt, jedenfalls nicht vor dem Fachstudium. Dort immerhin hatte sie Kollegen gefunden, Leute, die ihr Talent respektierten, die sie für ihre Ideen schätzten und von denen einige tatsächlich zu Freunden geworden waren.
Vielleicht war das der Grund, warum Ray einen solchen nachhaltigen Eindruck auf sie gemacht hatte, als er Interesse an ihr zu zeigen begann. Ray war zehn Jahre älter als sie und schon mit avancierter Astrophysik beschäftigt, als sie noch darum kämpfte, eine Arbeitsmöglichkeit in Crossbank zu finden. Seine Meinungen tat er stets unverblümt kund, verstand es aber, Marguerite zu schmeicheln, und offensichtlich hatte er sie von Anfang an daraufhin taxiert, ob sie für eine Ehe infrage kam. Was Marguerite nun aber schmerzlich lernen musste, war, dass für manche Männer die Ehe ein Freibrief ist, die Maske fallen zu lassen und ihr wahres, schreckliches Gesicht zu zeigen. Und das war nicht nur eine Metapher: Es schien Marguerite, als hätte sein Gesicht sich tatsächlich verändert, als hätte er den sanften, nachgiebigen Ray aus ihrer Verlobungszeit so vollständig abgeworfen wie eine Schlange ihre alte Haut. Ihre Menschenkenntnis war ganz offensichtlich miserabel gewesen.
Was folgte daraus für Chris? Dass er eine Abriegelungsromanze war? Ein potenzieller zweiter Vater für Tess? Oder irgendwas dazwischen?
Und wie konnte sie auch nur ansatzweise eine Vorstellung von der Zukunft entwickeln, solange die Möglichkeit einer solchen Zukunft tatsächlich jederzeit entfallen konnte?
Chris hatte in seinem Kellerzimmer gearbeitet, aber er kam die Treppe hoch, als er sie in der Küche hantieren hörte, und sagte: »Hast du noch zu tun?«
Nun, das war eine interessante Frage. Es war Samstag, sie musste nicht arbeiten, aber wo begann die Arbeit und wo hörte sie auf? Über Monate hatte sie ihre Aufmerksamkeit zwischen Tess und dem Subjekt aufgeteilt, und jetzt war auch noch Chris da. Für heute hatte sie geplant, ihre Aufzeichnungen zu vervollständigen und die Direktübertragung im Auge zu behalten. Die Odyssee des Subjekts setzte sich fort, obwohl die Sandsturmkrise vorbei war und die Ruinenstadt bereits weit hinter ihm lag. Es hatte die Straße verlassen und stapfte jetzt durch leere Wüstenlandschaft. Sein körperlicher Zustand hatte sich in Besorgnis erregender Weise verändert, aber es passierte nichts wirklich Entscheidendes, jedenfalls nicht im Moment. »Was hast du denn vor?«
»Der Zustand des Piloten, den ich aus dem Wrack gezogen habe, hat sich stabilisiert. Ich dachte, ich besuche ihn mal.«
»Ist er wach?« Marguerite hatte gehört, dass der Mann im Koma läge.
»Noch nicht.«
»Was für einen Sinn hat es dann, ihn zu besuchen?«
»Manchmal geht es einfach darum, Verbindung aufzunehmen.«
Zurück ins Auto, dann zurück auf die Straße mit Chris am Steuer, zurück durch den hellen, kalten Februarnachmittag und den vom Wind durch die Gegend getriebenen Abfall. »Wieso solltest du ihm etwas schuldig sein? Du hast ihm das Leben gerettet.«
»Auf Gedeih oder Verderb.«
»Wie kann es auf Verderb sein?«
»Er hat schwere Verbrennungen. Wenn er aufwacht, wird er höllische Schmerzen leiden. Nicht nur das — sicherlich würden Ray und seine Kumpel ihn gern verhören wollen.«
Wohl wahr. Niemand wusste, warum das kleine Flugzeug Blind Lake überflogen oder was der Pilot sich davon versprochen hatte, in eine ausgewiesene Flugverbotszone einzudringen. Aber der Vorfall hatte den Angstpegel in der Stadt merklich angehoben. In den vergangenen Wochen hatte es drei weitere Versuche gegeben, den Begrenzungszaun von innen her zu überwinden, jeweils durch Einzeltäter: einen Tagesarbeiter, einen Studenten und einen jungen Analysten. Alle drei waren von Pocketdrohnen getötet worden, wobei es der Analyst, der eine präparierte Thermojacke trug, um seine Infrarotsignatur zu verbergen, immerhin noch gut und gern fünfzig oder sechzig Meter weit geschafft hatte.
Keine der Leichen war geborgen worden. Sie würden immer noch da sein, dachte Marguerite, wenn im Frühling der Schnee schmolz. Wie Überbleibsel aus einem Krieg, verbrannt, gefroren und wieder aufgetaut: biologische Rückstände. Futter für die Geier. Gab es Geier in Minnesota?
Alle hatten Angst, alle wollten endlich wissen, warum Blind Lake unter Quarantäne gestellt worden war und wann diese Quarantäne beendet würde (oder, unaussprechlicher Gedanke, ob sie je beendet würde). Also würde man den Piloten in der Tat ins Verhör nehmen, in ein strenges Verhör vielleicht, und ja, er würde sicherlich Schmerzen leiden, trotz der neuralen Analgetika, mit denen die Ambulanz ausgerüstet war. Das aber entwertete nicht die mutige Tat, die Chris begangen hatte. Es war nicht das erste Mal, dass sie bei ihm diese Zweifel hinsichtlich der Konsequenzen einer guten Tat spürte. Vielleicht war sein Buch über Galliano eine gute Tat gewesen, wenigstens aus seiner Sicht. Ein wieder gutgemachtes Unrecht. Und er war dafür bestraft worden. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Es schien allerdings noch mehr dahinter zu stecken.
Marguerite mochte nicht begreifen, wie ein so offensichtlich anständiger Mensch wie Chris Carmody sich seiner so unsicher sein konnte, während ein anerkanntes Arschloch wie Ray im Glanz seiner eigenen verbissenen Selbstgerechtigkeit durch die Gegend stolzierte. Eine Zeile aus einem Gedicht, das sie an der Highschool gelesen hatte, fiel ihr ein: Die Besten sind des Zweifels voll, die Ärgsten / Sind von der Kraft der Leidenschaft erfüllt …
Chris fuhr auf den fast leeren Parkplatz der Ambulanz. Die Sonnenwende lag hinter ihnen, die Tage wurden wieder länger, aber es war immer noch Februar und die wässrige Sonne näherte sich bereits dem Horizont. Auf dem Weg zum Eingang nahm er ihre Hand.
Der Empfang war nicht besetzt, doch als Chris auf die Klingel drückte, erschien kurz darauf eine Krankenschwester. Ich kenne diese Frau, dachte Marguerite. Diese lebhafte, pummelige Frau in der weißen Schwesterntracht war Amanda Bleilers Mutter, ein von der morgendlichen Kinderablieferung an der Schule her vertrautes Gesicht. Wie hieß sie mit Vornamen? Roberta? Rosetta?
»Marguerite.« Die Frau hatte sie erkannt. »Und Sie müssen Chris Carmody sein.« Chris hatte ihr Kommen telefonisch angekündigt.
»Rosalie«, fiel ihr der Name gerade noch rechtzeitig wieder ein. »Wie geht's Amanda?«
»Ganz gut, unter den Umständen.« Die Umstände der Abriegelung waren gemeint. Der Umstand, dass draußen vor dem Begrenzungszaun Leichen unter dem Schnee begraben waren. Rosalie wandte sich Chris zu. »Wenn Sie bei Mr. Sandoval reinschauen wollen, ist das okay, ich habe das mit Dr. Goldhar geklärt, aber erwarten Sie halt nicht zu viel, okay? Und es kann nur ein kurzer Besuch sein. Höchstens ein paar Minuten, ja?«
Unter Rosalies Führung stiegen sie eine Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sich zwischen einer Reihe von Büro- und Konferenzräumen drei kleine Zimmer befanden, die mit einer einfachen lebenserhaltenden Apparatur ausgestattet waren.
Vor noch nicht allzu vielen Jahren wäre der Pilot an seinen Verletzungen zweifellos gestorben. Rosalie erläuterte, dass er Verbrennungen dritten Grades an großen Teilen seines Körpers erlitten und genug Rauch und heiße Luft eingeatmet hatte, um seine Lunge ernsthaft zu schädigen. In der Ambulanz hatte man ihm einen kardio-pulmonalen Bypass gelegt und seine Lungenbläschen in Gel eingepackt, um die Heilung zu beschleunigen. Was die Haut betraf …
Nun ja, dachte Marguerite, er sah schrecklich aus, wie er da auf einem weißen Bett in einem weißen Zimmer lag, künstliche, elfenbeinweiße Haut wie feuchte Kleenextücher über sein Gesicht gespannt. Aber das war mehr oder weniger der neueste Stand der Behandlung von Brandverletzungen. In weniger als einem Monat, sagte Rosalie, würde er fast wieder normal aussehen, fast so wie vor dem Absturz.
Die schwerwiegendste Verletzung war ein Schlag gegen den Kopf gewesen, der zwar nicht ganz zum Schädelbruch geführt, aber Hirnblutungen verursacht hatte, die schlecht zu behandeln oder zu beheben waren. »Wir haben alles getan, was wir konnten«, sagte Rosalie. »Dr. Goldhar ist ein wirklich außergewöhnlicher Arzt, wenn man bedenkt, dass wir hier kein voll ausgestattetes Krankenhaus zum Arbeiten haben. Aber die Prognose ist ungewiss. Vielleicht wacht er auf, vielleicht nicht.«
Mr. Sandoval, dachte Marguerite, die versuchte, einen Eindruck von dem Mann unter all den medizinischen Gerätschaften zu gewinnen. Wahrscheinlich kein ganz junger Mann mehr; ein stattlicher Bauch wölbte sich unter der Zudecke. Grau melierte Haare, soweit sie ihm nicht vom Schädel weggebrannt waren.
»Sie haben ihn Mr. Sandoval genannt«, sagte Chris.
»So heißt er. Adam Sandoval.«
»Er war bewusstlos, seit er hier eingeliefert wurde. Woher wissen Sie seinen Namen?«
»Na ja …« Sie schien etwas beunruhigt. »Dr. Goldhar sagte, wir sollten zurückhaltend umgehen mit dieser Information, aber Sie haben ihm das Leben gerettet, nicht wahr? Das war wirklich mutig.«
Die Story war, sehr zu Chris' Leidwesen, bei Blind-Lake-TV gesendet worden. Ein Interview hatte er abgelehnt, dennoch war die Sache seinem Ruf extrem förderlich gewesen — eigentlich doch wohl keine schlechte Sache, hätte Marguerite gedacht. Aber vielleicht fühlte Chris, der Journalist, sich unwohl im Zentrum eines Medienereignisses, so klein es auch sein mochte.
»Welche Information?«, fragte Chris.
»Er hatte eine Brieftasche und Teile eines Rucksacks bei sich. Das meiste ist verbrannt, aber wir konnten genug retten, um seinen Ausweis zu lesen.«
Chris sagte — und Marguerite glaubte eine mühsam beherrschte Anspannung in seiner Stimme hören zu können: »Wäre es möglich, sich die Sachen mal anzusehen?«
»Tja, ich glaube nicht … ich meine, ich sollte wahrscheinlich zuerst mit Dr. Goldhar reden. Werden das nicht letzten Endes alles polizeiliche Beweisstücke sein oder so?«
»Ich werde nichts durcheinanderbringen. Nur einen kurzen Blick.«
»Ich verbürge mich für Chris«, fügte Marguerite hinzu. »Er ist ein anständiger Kerl.«
»Na ja — nur ganz kurz, vielleicht. Ich meine, Sie sind ja keine Terroristen oder so.« Sie sah Chris ernst an. »Bringen Sie mich nur nicht in Teufels Küche, mehr verlang ich gar nicht.«
Chris blieb noch eine Weile bei dem Piloten sitzen. Er flüsterte etwas, das Marguerite nicht verstehen konnte: eine Frage, eine Entschuldigung, ein Gebet?
Dann verließen sie Adam Sandoval, dessen Brustkorb sich in einem seltsam friedlichen Rhythmus, nämlich nach den Vorgaben seines Atemgeräts, hob und senkte, und Rosalie führte sie zu einem kleinen Zimmer am Ende des Korridors. Sie schloss die Tür mit einem Schlüssel auf, der an einem Ring an ihrem Gürtel befestigt war. In dem Raum wurde diverses medizinisches Zubehör gelagert — Kästen mit Nahtmaterial in verschiedenen Stärken, Beutel mit Salzlösung, Binden und Gaze, Antiseptika in braunen Flaschen — und, auf einem ausklappbaren Tisch, eine Plastiktasche, die Sandovals Besitz enthielt. Rosalie öffnete sie vorsichtig und ließ Chris ein Paar Einweg-OP-Handschuhe anlegen, bevor er den Inhalt berühren durfte. »Wegen der Fingerabdrücke oder ich weiß auch nicht.« Offenbar kamen ihr jetzt doch ernsthafte Bedenken.
Chris zog Sandovals verkohlte Brieftasche und die daraus geborgenen Gegenstände hervor: eine Kreditkarte, geschmolzen und unbrauchbar; eine Identifizierungs-Disk mit seinen digitalen Referenzen, auch sie verkohlt, aber mit der noch lesbaren Namensaufschrift Adam W. Sandoval; sein Pilotenschein; das Foto einer Frau mittleren Alters mit einem offenen, sympathischen Lächeln, zu drei Vierteln noch intakt; eine Quittung von der Pottery Barn in Flint Creek, Colorado, und ein bei einem Gartenmöbelmarkt einzulösender Zehndollar-Gutschein, seit sechs Monaten abgelaufen. Falls Mr. Sandoval ein Terrorist war, dachte Marguerite, dann garantiert einer von der häuslichen Sorte.
»Seien Sie bitte vorsichtig«, sagte Rosalie mit brennenden Wangen.
Die Ausbeute aus dem verbrannten Rucksack war sogar noch kümmerlicher. Chris sah sie rasch durch: das Fragment eines Smartbooks, ein geschwärzter Plastikstift und eine Handvoll von losen, nur teilweise erhaltenen Seiten aus einer Zeitschrift.
Chris sagte: »Hat irgendjemand sonst dieses Material gesehen?«
»Nur Dr. Goldhar. Ich dachte, wir sollten vielleicht Ray Scutter oder sonst jemanden aus der Verwaltung verständigen. Aber Dr. Goldhar wollte das nicht. Er meinte, es lohne sich nicht, Ray deswegen in Aufregung zu versetzen.«
»Dr. Goldhar ist ein weiser Mann«, sagte Chris.
Rosalie warf erneut einen prüfenden Blick in den Flur, ihr schlechtes Gewissen schien sich von Minute zu Minute zu verstärken. Chris hatte ihr den Rücken zugewandt. Und so sah sie nicht — wohl aber Marguerite —, dass Chris eine der Zeitschriftenseiten an sich nahm und unter seine Jacke schob.
Sie war sich nicht sicher, ob Chris wusste, dass sie seinen kleinen Diebstahl bemerkt hatte, und sie sprach auch nicht darüber auf der Rückfahrt. Was er da getan hatte, war vermutlich irgendein Vergehen, eine kriminelle Handlung. Machte sie das zur Komplizin?
Er sagte nicht viel im Auto. Aber sie war davon überzeugt, dass er eine journalistische Absicht verfolgte, keine kriminelle. Schließlich war es nur ein angesengtes Stück Papier, was er an sich genommen hatte.
Mehrfach war sie drauf und dran, ihn darauf anzusprechen, doch jedesmal überlegte sie es sich doch wieder anders. Die Sonne war untergegangen, und als sie zu Hause ankamen, war es beinahe Abendessenszeit. Chris hatte versprochen, heute zu kochen. Er war ein begeisterter, wenn auch nicht übermäßig talentierter Koch; seine asiatischen Pfannengerichte waren ein eher zweifelhaftes Vergnügen, und er beklagte, dass die Quarantänerationen weder Zitronengras noch Koriander enthielten, aber …
»Da steht ein Auto in der Auffahrt«, sagte Chris.
Sie erkannte es sofort. Es war in der winterlichen Dämmerung nicht gut zu sehen, ein schwarzer, sich vom dunklen Asphalt und dem Schatten der Weide kaum abzeichnender Umriss, aber sie wusste, dass es Rays Auto war.
»Bleib im Auto«, sagte sie zu Chris. »Lass mich mit ihm reden.«
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«
»Ich habe fünf Jahre mit ihm zusammengelebt. Ich weiß, wie das geht.«
»Marguerite, er hat eine Grenze überschritten. Falls du ihm keinen Schlüssel gegeben hast, ist er in dein Haus eingebrochen.«
»Er muss Tessas Schlüssel benutzt haben. Vielleicht ist sie auch da.«
»Der Punkt ist doch aber: Wenn jemand die Regeln so krass verletzt, dann wird es ernst. Du könntest zu Schaden kommen.«
»Du kennst ihn nicht. Gib mir einfach ein paar Minuten Zeit, okay? Wenn ich dich brauche, schreie ich.«
Nicht lustig, musste sie sich selber sagen. Chris fand es offensichtlich auch nicht lustig. Sie legte ihm eine Hand aufs Knie. »Fünf Minuten, in Ordnung?«
»Du sagst, ich soll im Auto bleiben?«
»Bleib im Auto sitzen oder geh einmal um den Block, was du willst, aber es wird leichter sein, ihn loszuwerden, wenn du nicht da bist und ihn in Rage bringst.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, stieg aus dem Auto und ging entschlossen zur Eingangstür ihres Hauses, eher wütend als ängstlich. Ray, dieser Arsch. Chris begriff nicht, wie Ray funktionierte. Ray war nicht hier, um sie zu verprügeln. Ray benutzte andere Mittel, um Menschen zu demütigen.
Im Haus — die Wohnzimmerlichter waren alle an — rief sie Tessas Namen. Falls Ray Tessa mitgebracht hatte, mochte es eine Rechtfertigung für diese Veranstaltung geben.
Aber Tess antwortete nicht. Ebenso wenig wie Ray. Aufgebracht sah sie in der Küche nach, im Esszimmer. Alles leer. Dann musste er also oben sein. Die Lampen brannten in jedem Zimmer des Hauses.
Sie fand ihn in ihrem Arbeitszimmer. Ray saß auf ihrem Drehsessel, die Füße auf die Schreibtischplatte gelegt, und sah dem Subjekt zu, wie es, von der Mittagssonne beschienen, einen wasserlosen Graben überquerte. Er blickte beiläufig auf, als sie sich räusperte. »Ah«, sagte er. »Da bist du ja.«
Im diffusen Licht des Wandbildschirms sah Ray wie ein kinnloser Napoleon aus, auf alberne Weise gebieterisch. »Ray«, sagte sie fest, »ist Tess im Haus?«
»Ganz bestimmt nicht. Und eben darüber müssen wir reden. Tessa hat mir ein bisschen was erzählt von dem, was hier abgeht.«
»Fang gar nicht erst an. Ich will es nicht hören, absolut nicht. Geh einfach wieder, Ray. Das hier ist nicht dein Haus und du hast kein Recht, hier zu sein.«
»Bevor wir anfangen, über Rechte zu reden, ist dir klar, dass deine Tochter fast eine Stunde lang allein im Schnee zubringen musste, während dein Liebhaber den Helden gespielt hat letzte Woche? Sie kann von Glück reden, dass sie keine Frostbeulen bekommen hat.«
»Wir können ein andermal darüber sprechen. Geh jetzt, Raymond.«
»Komm schon, Marguerite, spar dir den Quatsch von wegen ›mein Haus, meine Rechte‹. Wir wissen beide, dass du Tess systematisch vernachlässigst hast. Wir wissen beide, dass sie als Folge davon ernsthafte psychologische Probleme hat.«
»Ich lass mich nicht auf Diskussionen mit dir ein.«
»Ich bin verdammt noch mal nicht hier, um darüber zu diskutieren. Ich sag dir einfach, was passiert. Ich kann nicht guten Gewissens zulassen, dass meine Tochter weiterhin bei dir wohnt, wenn du nicht gewillt bist, dich vernünftig um sie zu kümmern.«
»Ray, wir haben eine Vereinbarung …«
»Wir haben eine vorläufige Vereinbarung, die unter völlig anderen Umständen zustande gekommen ist. Wenn ich könnte, würde ich gerichtlich dagegen vorgehen, das kannst du mir glauben. Aber wegen der Abriegelung ist das nicht möglich. Also muss ich tun, was ich für das Richtige halte.«
»Du kannst sie nicht einfach behalten«, sagte Marguerite. Was aber, wenn er es darauf ankommen ließ? Wenn er sich weigerte, Tess nach Hause kommen zu lassen. Es gab kein Familiengericht in Blind Lake, keine echte Polizei, die sie zu Hilfe würde rufen können.
»Du kannst mir nichts vorschreiben. Tess ist in meiner Obhut, und ich muss die Maßnahmen treffen, die nach meinem Dafürhalten für sie am besten sind.«
Es war seine arrogante, ölige Gewissheit, die sie auf die Palme brachte. Ray beherrschte die Kunst, so zu sprechen, als sei er der einzige Erwachsene auf dem Planeten und alle anderen seien schwach, dumm oder anmaßend. Unter dieser dünnen äußeren Hülle steckte aber natürlich ein narzisstisches Kind, das unter allen Umständen seinen Willen durchsetzen wollte. Keiner dieser Aspekte seiner Persönlichkeit war sonderlich anziehend.
»Hör mal«, sagte sie, »das ist doch lächerlich. Was immer Tess fehlen mag, es wird nicht dadurch besser, dass du hier ankommst und mich beleidigst.«
»Mich interessiert deine Meinung zu diesem Thema nicht die Bohne.«
Ohne zu überlegen, machte Marguerite zwei Schritte und verpasste ihm eine Ohrfeige. So etwas hatte sie noch nie getan. Ihr Handteller tat sofort weh, und so flüchtig dieser körperliche Kontakt auch gewesen war, hatte sie doch den dringenden Wunsch (die Rauheit seiner unrasierten Gesichtshaut, seine schlaffen Kinnbacken), sich die schmerzende Hand zu waschen. Schlechter Zug, dachte sie, sehr schlechter Zug. Aber sie konnte nicht umhin, Rays Verblüffung mit einem gewissen Stolz zu vermerken.
Als kleines Mädchen hatte Marguerite oft mit einem Jungen aus der Nachbarschaft gespielt, dessen Familie einen sanften und ausgesprochen langmütigen Springerspaniel besaß. Der Junge (der zufälligerweise ebenfalls Raymond hieß) hatte einmal eine Stunde lang versucht, auf dem Hund zu reiten wie auf einem Pferd, und über das Gejaule des armen Tiers nur gelacht, bis der Hund schließlich genug hatte und ihm ein Stück vom rechten Daumen abbiss. Der Junge hatte genauso dreingeschaut wie Ray jetzt: fassungslos und den Tränen nahe. Für einen Moment fragte sie sich, ob Ray tatsächlich anfangen würde zu weinen.
Aber sein Gesicht nahm schon wieder den vertrauten Ausdruck an. Er stand auf.
Ach du Scheiße, dachte Marguerite. Scheiße, Scheiße, Scheiße!
Sie zog sich in den Flur zurück. Ray legte seine Hände auf ihre Schultern und drückte sie gegen die Wand. Jetzt war es an ihr, überrascht zu sein.
»Du kapierst es einfach nicht, wie? Wie es in dem Lied heißt, Marguerite, du bist nicht mehr in Kansas.«
Es war ein Film, kein Lied. Und zwar einer von Marguerites Lieblingsfilmen. Ray wusste das natürlich nicht.
Er nahm ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ich sollte dir nicht erst erklären müssen, wie weit wir alle inzwischen entfernt sind von dieser kleinen Spießerwelt der Scheidungsanwälte und Sozialarbeiter, in der du noch immer zu leben glaubst. Was glaubst du, warum Blind Lake unter Quarantäne steht? Quarantänen werden wegen Krankheiten verhängt, Marguerite. So einfach ist das. Eine ansteckende, tödliche Krankheit. Wir leben unter stillschweigender Duldung, aber wie lange wird diese Duldung noch dauern?«
Es könnte jederzeit zu Ende gehen.
Ray schob sein Gesicht dicht an ihres heran. Sein Atem roch nach Azeton. Sie versuchte sich wegzudrehen, aber er ließ es nicht zu.
»Heute in einem Monat können wir alle tot sein. Wir könnten schon morgen tot sein. Warum soll ich, unter dieser Voraussetzung, zusehen, wie du Tess wegen dieser Missgeburt auf dem Bildschirm vernachlässigst oder, schlimmer noch, wegen deinem neuen Freund?«
»Was redest du?« Sie sprach gegen den Druck seiner Finger auf ihrem Kinn an. Es klang so, als wüsste er etwas, als hätte er Kenntnis von einem Geheimnis. Seit eh und je hatte es Ray gefallen, etwas zu wissen, das Marguerite nicht wusste. Der Spaß daran war fast so groß wie die Abneigung dagegen, Unrecht zu haben.
Er gab ihr einen letzten Stoß — sozusagen der Form halber —, sodass ihre Schulter wieder gegen die verputzte Wand schrammte, dann trat er zurück. »Du bist so scheißnaiv«, sagte er.
Was Ray nicht bemerkte, war die hünenhafte Gestalt Chris Carmodys, der von der Treppe aus durch den Flur geschlichen kam. Marguerite sah ihn, wandte aber schnell den Blick ab, damit Ray keinen Verdacht schöpfte. Lass es geschehen. Für einen Mann seiner Größe bewegte sich Chris erstaunlich geräuschlos.
Chris schob sich zwischen sie und Ray und drückte den überaus erschrockenen Ray rückwärts an die gegenüberliegende Wand, und zwar alles andere als sanft. Marguerite bekam es mit der Angst zu tun — es lag echte Männergewalt in der Luft, man konnte es geradezu riechen, ein Gestank wie in einer Umkleidekabine —, aber es erfüllte sie mit Genugtuung, Rays gehässigen Gesichtsausdruck sich in ein ungläubiges »Oh« verwandeln zu sehen. Seit vielen Jahren hatte sie sich gewünscht, das einmal erleben zu dürfen. Es war berauschend.
»Haben Sie«, stammelte Ray, als er eine Einschätzung der Lage vorgenommen hatte, »haben Sie mich etwa gerade angefasst?«
»Ich weiß nicht«, sagte Chris. »Haben Sie etwa gerade einen Hausfriedensbruch begangen?«
Jetzt werden sie sich prügeln, dachte Marguerite, oder einer von ihnen wird einen Rückzieher machen. Ray gab sich alle Mühe; er plusterte sich auf wie ein Bantamhahn. »Kümmern Sie sich gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten!« Aber er redete nur, er kämpfte nicht. »Ich muss Sie nicht um Erlaubnis bitten, wenn ich mit meiner Frau reden will. Wissen Sie, wer ich bin?«
»Kommen Sie, Ray«, sagte Chris ruhig. »Sie gehen jetzt brav nach Hause, ja?«
Da war etwas, das sie bei Chris bisher noch nie erlebt hatte: Zorn, echter Zorn, nicht Rays essigsaures Grimassieren. Er sah aus wie jemand, der sich darauf einstellt, eine unangenehme Aufgabe mit den Fäusten erledigen zu müssen. Sie fasste ihn am Arm. »Chris …«
Ray nutzte die Gelegenheit — wie sie es mehr oder weniger vermutet hatte. Er trat zurück, hob die Hände und setzte zu einem typischen Rückzug à la Ray an. »Oh, bitte. Ich will hier keine Machospielchen aufführen. Was ich sagen wollte, habe ich gesagt.«
Er drehte sich um und machte sich davon — ein bisschen wacklig in den Knien, wie ihr schien.
Als er weg war und sie sich von Tessas Zimmerfenster aus davon überzeugt hatte, dass er wirklich in sein hässliches kleines schwarzes Auto gestiegen und weggefahren war, befiel Marguerite ein Gefühl nicht so sehr des Zorns oder der Furcht als vielmehr der Verlegenheit. Als sei Chris Zeuge eines beschämenden Teils ihres Lebens geworden. »Eigentlich wollte ich nicht, dass du das mit ansiehst.«
»Ich hatte keine Lust mehr zu warten.«
»Ich meine, danke, aber …«
»Du musst mir nicht danken und du musst dich nicht entschuldigen.«
Sie nickte. Sie hatte noch immer einen rasenden Puls. »Komm mit runter in die Küche«, sagte sie. Es stand nämlich wieder eine dieser langen schlaflosen, adrenalingeladenen Nächte bevor. Es war dies vielleicht eine Gewohnheit, die sie von ihrem Vater übernommen hatte, aber wo soll man eine solche Nacht schon verbringen, wenn nicht in der Küche?
Ray hatte einige beunruhigende Dinge gesagt. Da gab es eine Menge, worüber sie nachzudenken hatte, und sie wollte sich nicht noch in Verlegenheit bringen, indem sie Chris etwas vorheulte. Also führte sie ihn die Küche und ließ ihn Platz nehmen, während sie den Kessel aufsetzte. Chris selbst war still, wirkte sogar ein wenig trübsinnig. Er sagte: »War es immer so? Mit dir und Ray?«
»Nicht so schlimm. Nicht immer. Und vor allem nicht zu Anfang.« Wie sollte sie erklären, dass das, was sie fälschlich für Liebe gehalten hatte, so schnell in Abscheu umgeschlagen war? Ihre Hand schmerzte noch immer von der Ohrfeige. »Ray ist ein recht guter Schauspieler. Er kann charmant sein, wenn er will.«
»Ich kann mir vorstellen, dass die Anspannung ihm zu schaffen macht.«
Sie lächelte. »Offensichtlich. Hast du viel von dem gehört, was er oben gesagt hat?«
Chris schüttelte den Kopf.
»Er sagt, er will Tess nicht zurückbringen.«
»Glaubst du, dass er es ernst meint?«
»Normalerweise würde ich sagen, nein, aber normalerweise würde er auch gar nicht mit so einer Drohung kommen. Normalerweise wäre er gar nicht hergekommen. In der alten wirklichen Welt konnte man sich ganz gut darauf verlassen, dass Ray die rechtlichen Grenzen respektierte. Und sei es nur, um sich nicht angreifbar zu machen. Vorhin aber hat er geredet wie jemand, der nichts mehr zu verlieren hat. Er hat von der Quarantäne gesprochen. Er meinte, in einer Woche könnten wir alle tot sein.«
»Meinst du, er weiß irgendwas?«
»Entweder weiß er etwas oder er will mich glauben machen, er wüsste etwas. Ich kann nur sagen, dass er sich nicht an unseren Sorgerechtsvereinbarungen vergehen würde, wenn er glaubte, dass ich gerichtlich dagegen vorgehen kann. Nie im Leben.«
Chris war für eine Weile still, ließ sich das durch den Kopf gehen. Der Kessel pfiff. Marguerite konzentrierte sich auf die Teezubereitung, dieses beruhigende Ritual, zwei Teebeutel, einen Schuss Milch für ihren Becher, für Chris keinen.
»Ich habe es wohl einfach immer vermieden, darüber nachzudenken«, sagte sie. »Ich möchte glauben, dass man irgendwann demnächst die Tore wieder öffnet, die Datenleitungen wieder freigibt und dass eine Person in Uniform sich bei uns entschuldigt, sich für unsere Geduld bedankt und uns bittet, keine Klage zu erheben. Aber ich schätze, es könnte auch ganz anders ausgehen.« Nämlich tödlich. Und natürlich jederzeit. »Warum sollten sie uns das antun, Chris? Es gibt doch nichts Gefährliches hier. Nichts hat sich geändert seit dem Tag vor der Abriegelung. Wovor haben sie Angst?«
Er lächelte freudlos. »Vor dem Witz.«
»Welchem Witz?«
»Ach, es gibt da so eine alte Komikernummer — ich hab vergessen, wo ich das gesehen habe. Es spielt im Zweiten Weltkrieg und die Briten haben die absolute Wunderwaffe entdeckt. Einen Witz, der so komisch ist, dass man vor Lachen stirbt, wenn man ihn hört. Der Witz wird Wort für Wort in phonetisches Deutsch übersetzt; Soldaten in den Frontgräbern brüllen ihn durch Megaphone, worauf die Nazitruppen tot umfallen.«
»Ja … und?«
»Das ist das ursprüngliche Informationsvirus, eine Idee oder ein Bild, das imstande ist, die Leute in den Wahnsinn zu treiben. Vielleicht ist es das, wovor die Welt Angst hat.«
»Das ist eine dumme Vorstellung, und sie wurde bei den Kongressanhörungen vor zehn Jahren ausdrücklich zurückgewiesen.«
»Aber angenommen, so etwas ist in Crossbank passiert, oder jedenfalls irgendetwas, das diesen Eindruck erweckte.«
»Crossbank beobachtet nicht denselben Planeten. Selbst wenn sie etwas potenziell Bedrohliches gefunden hätten, inwiefern sollte das uns betreffen?«
»Würde es nicht, es sei denn, das Problem wäre in den O/BEKs entstanden. Das ist alles, was wir mit Crossbank wirklich gemeinsam haben, die Hardware.«
»Okay, aber das ist trotzdem immer noch reine Spekulation. Es gibt bisher keinen Beleg dafür, dass irgendwas Schwerwiegendes in Crossbank passiert ist.«
Die halbe Zeitschriftenseite, die Chris aus der Ambulanz hatte mitgehen lassen, war Marguerite völlig aus dem Sinn gekommen. Er zog sie aus seiner Jackentasche und legte sie auf den Küchentisch.
»Jetzt gibt es ihn«, sagte er.
Tess sah fern, während ihr Vater unterwegs war. Blind-Lake-TV sendete nach wie vor seinen gesammelten Vorrat an Unterhaltungssendungen, die vor der Abriegelung downgeloadet worden waren, in der Hauptsache alte Filme und Fernsehserien. An diesem Abend gab es ein anglo-indisches Musical mit viel Tanz und bunten Kostümen. Aber es fiel ihr schwer, sich darauf zu konzentrieren.
Sie wusste, dass ihr Vater sich seltsam benahm. Er hatte ihr alle möglichen Fragen über den Flugzeugabsturz und Chris gestellt. Überraschend war nur gewesen, dass er kein einziges Mal Mirror Girl erwähnt hatte. Auch Tess hatte sie nicht erwähnt; Tess hütete sich, dieses Thema in seiner Gegenwart anzuschneiden, denn damals in Crossbank, als ihre Eltern noch zusammen gewesen waren, hatten sie sich mehr als einmal wegen Mirror Girl gestritten. Ihr Vater gab ihrer Mutter die Schuld für das Auftauchen von Mirror Girl. Tess verstand nicht, wie das gehen sollte — ihre Mutter und Mirror Girl hatten nicht das Geringste gemeinsam. Aber sie hatte gelernt, nichts dazu zu sagen. Es brachte überhaupt nichts, sich in diesen Streit einzumischen, und führte meistens nur dazu, dass ihre Mutter oder sie selbst anfingen zu weinen.
Ihr Vater hörte überhaupt nicht gern von Mirror Girl. In letzter Zeit wollte er auch nichts mehr von ihrer Mutter oder Chris hören. Oft saß er den ganzen Abend in der Küche und führte Selbstgespräche. An solchen Abenden ließ Tess sich selbst das Badewasser ein. Dann legte sie sich ins Bett und las, bis sie schlafen konnte.
An diesem Abend war sie allein im Haus. Tess hatte sich Popcorn gemacht in der Küche, hinterher alles sorgfältig saubergewischt und dann versucht, sich den Film anzusehen. Bombay Destination hieß er. Die Tanzszenen waren gut. Aber sie spürte den Druck von Mirror Girls Neugier hinter ihren Augen. »Die tanzen doch nur«, sagte sie verächtlich. Aber es war beunruhigend, sich selbst laut reden zu hören, wenn niemand sonst zu Hause war. Ihre Stimme hallte von den Wänden wider. Das Haus ihres Vaters schien zu groß in seiner Abwesenheit, zu unnatürlich aufgeräumt, wie ein Musterhaus, das nur zum Vorführen gedacht ist, nicht zum darin Wohnen. Tess ging rastlos von einem Zimmer zum nächsten, schaltete überall die Lampen an. Mit dem Licht fühlte sie sich wohler, auch wenn sie genau wusste, dass ihr Vater rummeckern würde wegen der Energieverschwendung.
Das tat er dann allerdings doch nicht. Als er nach Hause kam, redete er kaum mit ihr, sagte nur, sie solle sich bettfertig machen, und ging dann in die Küche, um zu telefonieren. Nach ihrem Bad konnte sie von oben immer noch seine Stimme hören, er redete ununterbrochen — mit dem Telefon, mit der Luft. Tess zog ihr Nachthemd an und ging mit ihrem Buch zu Bett, aber die gedruckten Wörter entzogen sich hartnäckig ihrer Aufmerksamkeit. Schließlich machte sie einfach das Licht aus, lag da und schaute aus dem Fenster.
Ihr Zimmerfenster im Haus ihres Vaters ging nach Süden hinaus über das Haupttor und die Prärie, aber im Liegen sah sie nichts als den Himmel. (Sie hatte ihre Tür zugemacht, damit kein Licht auf die Fensterscheibe fallen und sie zum Spiegel machen konnte.) Der Himmel war ganz klar, der Mond war nicht zu sehen, aber die Sterne.
Ihre Mutter sprach oft von den Sternen. Tess hatte den Eindruck, dass ihre Mutter sich in die Sterne verliebt hatte. Tess begriff, dass die Sterne, die sie nachts sah, nichts anderes waren als sehr weit entfernte andere Sonnen und dass diese Sonnen oft auch Planeten hatten, die um sie kreisten. Manchmal hatten die Sterne seltsame, sinnträchtige Namen (wie Rigel oder Sirius), meistens aber nur Zahlen und Buchstaben, zum Beispiel UMa47, wie etwas, das man aus einem Katalog bestellt. Man konnte nicht jedem Stern einen speziellen Namen geben, weil es mehr Sterne gab, als man mit bloßem Auge sehen konnte, hatte sie gesagt, milliardenmal mehr. Nicht jeder Stern hatte Planeten und nur wenige hatten einen Planeten, der auch nur annähernd wie die Erde war. Trotzdem gab es vielleicht noch eine ganze Menge Planeten wie die Erde.
Für derlei Gedanken interessierte Mirror Girl sich brennend, aber Tess ignorierte ihre wortlose Anwesenheit. Mirror Girl war jetzt so oft bei ihr, dass sie das zu werden drohte, was Dr. Leinster immer von ihr behauptet hatte: ein Teil von Tessa selbst.
Vielleicht war »Mirror Girl« der falsche Name für sie. Mirror Girl war zwar tatsächlich zuerst in Spiegeln erschienen, aber Tess glaubte, dass das nur deshalb so war, weil Mirror Girl einfach gern Tessas Spiegelbild dort sah, weil es ihr gefiel, zu gucken und den Gucker zurückgucken zu sehen. Spiegelungen, Symmetrie: Das war Mirror Girls Domäne. Dinge, die gespiegelt waren oder gefaltet oder einfach nur sehr kompliziert. Mirror Girl empfand eine Nähe zu solchen Dingen, eine Art Verwandtschaft.
Jetzt blickte Mirror Girl durch Tessas Augen und sah Sterne in der kalten dunklen Nacht außerhalb des Hauses. Tess dachte: Sollten wir wirklich Sternenlicht dazu sagen? War es nicht eigentlich Sonnenlicht? Das Sonnenlicht von anderen Leuten?
Während sie von fern der raunenden Stimme ihres Vaters lauschte, schlief sie ein.
Am nächsten Morgen war ihr Vater eher gedämpfter Stimmung. Nicht, dass er vor dem Morgenkaffee je sehr gesprächig gewesen wäre. Er machte ihr Frühstück, heißen Haferbrei. Es war kein brauner Zucker zum Drüberstreuen da, nur normaler weißer Zucker. Tess wartete ab, ob er selber auch etwas essen würde. Das tat er nicht, wenn er auch zweimal alle Küchenschränke durchstöberte, als sei er auf der Suche nach etwas, das ihm abhanden gekommen war.
Er setzte sie sehr früh an der Schule ab. Die Türen waren noch nicht geöffnet, und die Morgenluft war eiskalt. Tess entdeckte Edie Jerundt, die sich beim Tetherball-Pfosten herumtrieb. Edie Jerundt begrüßte sie gleichgültig und sagte: »Ich hab zwei Pullover unter meiner Winterjacke an.«
Tess nickte höflich, obwohl es ihr schnurzegal war, wie viele Pullover Edie Jerundt zufällig anhatte. Edie sah aus, als würde sie frieren, trotz all ihrer Pullover. Sie hatte eine rote Nase und glänzende Augen vom schneidenden Wind.
Ein paar ältere Jungen kamen vorbei und machten Bemerkungen über »Edie Grunt und Tess the Mess«. Tess ignorierte sie, aber Edie war ungeschickt genug, sie wie ein Fisch mit offenem Mund anzuglotzen, worauf die Jungen beim Weitergehen in Gelächter ausbrachen. Mirror Girl verfolgte dieses Verhalten mit äußerster Neugier — sie konnte keine Personen unterscheiden und begriff nicht, warum jemand sich über Tess oder Edie lustig machen sollte —, aber Tess konnte es ihr nicht erklären. Die Grausamkeit von Jungen war eine Tatsache, die man hinzunehmen und zu überspielen, nicht aber zu analysieren hatte. Tess war sich sicher, dass sie sich an deren Stelle nicht so verhalten hätte, obwohl sie manchmal durchaus in Versuchung geriet, sich anzuschließen, wenn die anderen Mädchen sich über Edie lustig machten, und sei es nur, um gar nicht erst selber in die Schusslinie zu geraten. (Sie gab sich dieser Versuchung nur selten hin und schämte sich anschließend sehr.)
»Hast du den Film gestern Abend gesehen?«, fragte Edie. Eine von den Sachen, die die Abriegelung so seltsam machten, war die, dass es nur noch einen Videokanal gab und alle Leute sich dieselben Sendungen angucken mussten.
»Zum Teil«, gestand Tess.
»Ich fand ihn richtig gut. Irgendwann möchte ich mir die Lieder mal downloaden.« Edie hielt die Hände zur Seite und wackelte mit dem Körper auf eine Art, die wohl einen indischen Tanz darstellen sollte. Tess hörte, wie die Jungen sich aus der Entfernung lustig machten.
»Ich wünschte, ich hätte Fußreifen«, vertraute Edie ihr an.
Tess glaubte, dass Edie Jerundt mit Fußreifen aussehen würde wie ein Frosch im Hochzeitskleid, aber das war ein gemeiner Gedanke und so behielt sie ihn für sich.
Mirror Girl belästigte sie schon wieder. Mirror Girl wollte, dass sie zu den weit entfernten Kühltürmen von Eyeball Alley hinsah.
Aber was war denn daran so interessant?
»Tess?«, sagte Edie. »Hörst du mir überhaupt zu?«
»'tschuldige«, sagte Tess automatisch.
»Gott, du bist vielleicht eine komische Type«, sagte Edie.
Den ganzen Morgen über wurde Tessas Aufmerksamkeit immer wieder von den Kühltürmen angezogen. Sie konnte sie vom Klassenzimmerfenster aus sehen, hinter den verschneiten leeren Feldern. Krähen wirbelten durch den Himmel. Sie lebten sogar im Winter hier. In letzter Zeit hatten sie sich stark vermehrt, so kam es Tess jedenfalls vor, vielleicht, weil sie sich auf der Müllkippe westlich der Stadt mästen konnten. Aber sie saßen nicht auf den hohen, spitz zulaufenden Kühltürmen. Die Kühltürme waren dazu da, überschüssige Wärme aus dem darunter befindlichen Auge abzuleiten. Teile des Auges mussten sehr kalt gehalten werden, fast so kalt, wie es überhaupt möglich war, »nahe des absoluten Nullpunkts«, wie Mr. Fleischer es mal genannt hatte. Tess wendete diese Formulierung in Gedanken hin und her. Absoluter Nullpunkt. Das ließ sie an eine bitterkalte, windstille Nacht denken. Eine Nacht, die so eisig war, dass die Stiefel im Schnee quietschten. Beim absoluten Nullpunkt konnte man die Sterne besser sehen.
Mirror Girl fand diese Gedanken hochinteressant.
Mr. Fleischer rief sie einige Male auf. Tess war in der Lage, seine Fragen zur Naturwissenschaft zu beantworten (es war Isaac Newton gewesen, der die Bewegungsgesetze entdeckt hatte), doch später dann, in der Englischstunde, bekam sie die gestellte Frage gar nicht mit, hörte nur, wie Mr. Fleischer ihren Namen nannte — »Wer weiß es? Tessa?«
Sie waren dabei, David Copperfield durchzunehmen. Tess hatte das Buch in der vergangenen Woche zu Ende gelesen. Sie versuchte sich vorzustellen, was Mr. Fleischer gefragt haben könnte, aber sie hatte gerade eine totale Mattscheibe. Sie starrte auf ihre Tischplatte und hoffte, er würde jemand anders drannehmen. Die Sekunden verrannen in quälender Verlegenheit und sie spürte das ganze Gewicht von Mr. Fleischers Enttäuschung. Sie wickelte sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger.
Ärgerlicherweise wedelte Edie Jerundts Hand die ganze Zeit in der Luft herum.
»Edie?«, sagte Mr. Fleischer schließlich.
»Die industrielle Revolution«, sagte Edie triumphierend.
»Richtig, man spricht von der Industriellen Revolution …«
Tess wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Fenster zu.
Am Ende des Vormittags teilte sie Mr. Fleischer mit, dass sie zum Mittagessen nach Hause gehe. Er wirkte überrascht. »Das ist aber ein ganz schön weiter Weg, nicht wahr, Tess?«
Ja, aber sie hatte gehofft, dass Mr. Fleischer das nicht wüsste. »Mein Vater holt mich ab.« Eine glatte, kaltschnäuzige Lüge. Sie wunderte sich, wie leicht sie ihr von den Lippen kam.
»Besonderer Anlass?«
Tess zuckte die Achseln.
Als sie draußen war, in ihre Winterjacke eingemummelt (aber anders als Edie nur mit einem Pullover), wurde ihr klar, dass sie nicht nach Hause gehen und auch nicht zum Nachmittagsunterricht wieder in der Schule sein würde. Mirror Girl hatte sie hierhergebracht und Mirror Girl hatte für den Nachmittag eigene Pläne.
Seit dem Ende der Sandsturmkrise funktionierte das Auge einwandfrei und ohne die kleinsten Aussetzer.
Es war fast ein bisschen entnervend, dachte Charlie Grogan. Als er am Morgen seine Runde durch den Kontrollraum gemacht hatte, waren alle sehr entspannt gewesen — so entspannt man seit Beginn der Abriegelung halt sein konnte. Die Leute hatten sage und schreibe sogar gelächelt. Strom und Spannung lagen voll im grünen Bereich, die Temperatur war stabil, alle Daten blitzsauber, und selbst die Landschaft, durch die das Subjekt weiterhin wanderte, schien sonnig und mehr oder weniger freundlich. Charlie, der sich ein bisschen überflüssig vorkam, beobachtete eine Zeit lang den Monitor in seinem Büro. Subjekt sah ziemlich mitgenommen aus. Seine Deckhaut war stumpf und von Furchen durchzogen, sein gelber Hahnenkamm hing schlaff wie eine zerfetzte Fahne herab, aber es ging mit festem Schritt und deutlicher Entschlossenheit durch die weglose Wildnis. Das Land war flach und kahl, nur am Horizont waren Unregelmäßigkeiten zu erkennen, Berggipfel, Schimmern von Schnee in großer Höhe.
Das Subjekt kam nur langsam voran. Ein bisschen wie eine Schnecke auf einem leeren Gehsteig. Gelangweilt und tatsächlich ohne jede Wartungspflichten ließ Charlie das Mittagessen ausfallen und schlenderte hinunter zu der mit einer Glaswand umgebenen Galerie oberhalb der O/BEK-Zylinder.
Die Galerie erfüllte vorwiegend repräsentative Zwecke; hier konnte man Besucher herführen, Kongressabgeordnete oder europäische Staatsoberhäupter, in den Zeiten vor der Isolierung, von hier aus konnte man aus sicherer Höhe auf die Zylinder hinabblicken. Da es derzeit keine Touristen gab, war die Galerie in der Regel leer; Charlie kam oft hierher, um allein zu sein.
Er lehnte an der drei Zentimeter dicken inneren Glaswand und blickte drei Stockwerke nach unten auf die O/BEK-Zylinder. Diese demütigenden Geräte, die sich in den interstellaren Raum hineindachten. Man durfte es ja nicht sagen, aber sie dachten tatsächlich, das war nicht zu bestreiten, selbst wenn man (wie die Theoretiker) Wert auf die Feststellung legte, dass sie »einen endlichen, wenn auch riesig großen Quantenphasenraum von exponentiell wachsender Komplexität erforschten«. Ach, ja klar, mehr war es nicht. Die O/BEKs zogen Bilder aus den Sternen und träumten sie auf ein Pixelraster, indem sie einen »Quantenphasenraum erforschten« — Wortgeklingel, dachte Charlie. Zeigt mir die Verbindungen. Was bekamen sie tatsächlich zu fassen, und wie? Niemand konnte es sagen.
Was ist ein Engel? Ein Wesen, das auf einem Stecknadelkopf tanzt. Und was tanzt auf einem Stecknadelkopf? Ein Engel natürlich.
Diese O/BEKs waren aber nur der zentrale Teil der großen Maschinerie, die ihnen diente. Alles in allem nahm das Auge eine erkleckliche Menge von Kubikmetern ein. Wie er da so ziemlich in der Mitte des Ganzen stand, stellte Charlie sich vor, er könne die kalte Wucht seiner Gedanken hören. Er schloss die Augen. Träume mir eine Erklärung.
Aber das Einzige, was er hinter seinen Augenlidern sehen konnte, war eine Erinnerung an das Subjekt, verloren im Hinterland seines knochentrockenen Planeten. Komisch, was für eine Klarheit dieser Tagtraum besaß, die ihn mindestens so lebendig erscheinen ließ wie die Direktübertragung auf seinem Büromonitor. Als wandere er, Charlie, in den Fußstapfen des Subjekts. Das Sonnenlicht war warm und ein oder zwei Schattierungen blauer als das irdische Sonnenlicht, aber der Himmel selbst war weiß, mit Staub aufgeladen. Ein sanfter Wind ließ kleine Wirbel aufsteigen, die ein paar Meter über das alkalifleckige Flachland tanzten, bevor sie ihre Existenz aushauchten.
Seltsam. Charlie lehnte sich gegen die Glaswand und stellte sich vor, er würde nach dem Subjekt greifen. Sicherlich hatten selbst die O/BEKs niemals ein Bild übermittelt, das so destilliert, so übernatürlich rein war wie dieses. Er konnte, wenn er wollte, alle Erhebungen auf der Kieshaut des Subjekts zählen. Er konnte die metronomischen Schritte seiner staubigen, elefantenartigen Füße hören und die Spur sehen, die das Subjekt hinterließ, zwei punktierte, in das körnige Material des Wüstenbodens eingeschriebene parallele Linien. Er konnte die Luft riechen: Sie roch nach heißem Stein, nach glimmerhaltigem, der Mittagssonne ausgesetztem Granit.
Er stellte sich vor, dem Subjekt die Hand auf die Schulter zu legen, oder jedenfalls auf jenes schräg abfallende Knorpelstück hinter seinem Kopf, das als Schulter durchgehen mochte. Wie würde sich das anfühlen? Nicht ledrig, sondern hart, dachte Charlie, jeder Gänsehautknubbel wie ein überwachsener Knöchel, einige davon stachelig, mit steifen weißen Haaren. Subjekts gut durchbluteter Hahnenkamm diente wahrscheinlich dazu, seine Körpertemperatur an die Hitze anzupassen, und falls ich ihn berührte, dachte Charlie, würde er sich feucht und biegsam anfühlen wie Kaktusfleisch …
Subjekt blieb abrupt stehen und drehte sich um, als sei es über etwas erschrocken. Unversehens starrte Charlie in die leeren weißen Billardkugelaugen und dachte: O Scheiße!
Er riss seine Augen weit auf und taumelte zurück, weg von der Glaswand. Ah, er war in der O/BEK-Galerie. In Sicherheit. Blinzelnd verscheuchte er, was schlechterdings nur ein Traum gewesen sein konnte.
»Ist Ihnen nicht gut?«
Ein zweites Mal erschrocken fuhr Charlie herum und sah ein Mädchen hinter sich stehen. Sie trug eine Winterjacke, die schief geknöpft war, eine Seite des Kragens ragte über ihr Kinn hinaus. Sie hatte sich eine Strähne ihres lockigen Haars um den Finger gewickelt.
Sie kam ihm bekannt vor. Er sagte: »Bist du nicht Marguerite Hausers Tochter?«
Das Mädchen runzelte die Stirn und nickte dann.
Charlies erster Impuls war, den Sicherheitsdienst zu alarmieren, aber das Mädchen — ihr Name war Tess, erinnerte er sich — wirkte verschüchtert, und er wollte ihr keine Angst machen. Also fragte er: »Ist deine Mutter oder dein Vater hier?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nicht? Wer hat dich reingelassen?«
»Niemand.«
»Hast du eine Passierkarte?«
»Nein.«
»Haben dich die Wachen nicht aufgehalten?«
»Ich bin reingekommen, als gerade keiner geguckt hat.«
»Na, das ist ja ein guter Trick.« In Wirklichkeit sollte so etwas unmöglich sein. Aber da stand sie vor ihm, mit großen Kulleraugen und offenkundig unsicher. »Suchst du jemanden?«
»Eigentlich nicht.«
»Na, was führt dich dann hierher, Tess?«
»Ich wollte das mal sehen.« Sie deutete auf die O/BEK-Zylinder.
Für einen langen Augenblick fürchtete er, sie würde ihn fragen, wie sie funktionierten.
»Weißt du«, sagte Charlie, »du dürftest hier eigentlich gar nicht so ganz alleine rumlaufen. Wie wär's, wenn wir jetzt erst einmal in mein Büro gehen und ich dann deine Mutter anrufe?«
»Meine Mutter?«
»Ja, deine Mutter.«
Das Mädchen schien sich das durch den Kopf gehen zu lassen.
»Okay«, sagte sie.
Während Charlie Marguerites Pocket-Server anwählte, saß Tess in seinem Büro und sah sich einige Hochglanzbroschüren an, die er für sie aufgetrieben hatte. Marguerite war offenbar überrascht, von ihm zu hören, und ihre erste Frage galt dem Subjekt — war irgendwas Interessantes passiert?
Kommt drauf an, wie man die Sache betrachtet, dachte Charlie. Er konnte diesen Traum auf der Galerie einfach nicht abschütteln. Auge in Auge mit dem Subjekt. Es hatte unfassbar real gewirkt.
Aber davon erzählte er ihr nichts. »Ich möchte Sie nicht beunruhigen, Marguerite, aber Ihre Tochter ist hier.«
»Tess? Hier? Wo hier?«
»Im Auge.«
»Sie sollte normalerweise in der Schule sein. Was macht sie denn da draußen?«
»Sie macht im Grunde weiter gar nichts, aber sie hat es geschafft, sich an den Wachen vorbeizustehlen und bis zur O/BEK-Galerie zu spazieren.«
»Sie nehmen mich auf den Arm.«
»Wollte, es wäre so.«
»Wie ist das möglich?«
»Gute Frage.«
»Und — ist sie in großen Schwierigkeiten, Charlie?«
»Sie ist hier in meinem Büro, und ich sehe keine Notwendigkeit, daraus eine Staatsaffäre zu machen. Aber Sie sollten vielleicht herkommen und sie abholen.«
»Geben Sie mir zehn Minuten Zeit«, sagte Marguerite.
Tess wirkte verschlossen, als Charlie sie nach draußen zum Parkplatz brachte. Sie wollte offenbar nicht reden, und mit Sicherheit wollte sie nicht darüber reden, wie sie in den Gebäudekomplex hineingekommen war. Nach kurzer Zeit kam ihre Mutter auf den Besucherparkplatz gefahren, und Tess nahm dankbar auf dem Rücksitz ihres Autos Platz.
»Müssen wir über die Sache reden?«, fragte Marguerite.
»Später vielleicht«, sagte Charlie.
Auf dem Rückweg zu seinem Büro nahm er einen als dringlich ausgewiesenen Anruf von Tabby Menkowitz aus der Sicherheitsabteilung entgegen. »Hallo, Charlie«, sagte sie. »Wie geht's Boomer?«
»Ist ein alter Hund, aber gesund. Was liegt an, Tab?«
»Tja, ich hab hier eine Alarmmeldung von meiner Nichterkennungs-Software. Und wie ich auf die Kameras gucke, da seh ich Sie, wie Sie ein Kind aus dem Gebäude begleiten.«
»Sie ist die Tochter einer Gruppenleiterin. War mal neugierig auf die Alley und hat die Schule geschwänzt.«
»Ja, aber wie jetzt, haben Sie sie in einem Rucksack reingeschmuggelt? Denn wir haben sie zwar registriert, als sie gegangen ist, aber nicht, als sie gekommen ist.«
»Tja, darüber habe ich mich auch schon gewundert. Sie meint, sie hätte sich reingeschlichen, als gerade keiner geguckt hat.«
»Unsere Überwachungskameras erfassen alles, Charlie. Und sie gucken immer, die ganze Zeit.«
»Dann ist es wohl ein Rätsel. Wir müssen deshalb nicht gleich in Panik geraten, oder?«
»Es ist nicht das Gleiche, als wenn jemand aus der Stadt ausbricht, aber ich würde wirklich gerne wissen, wo sie den Durchschlupf gefunden hat. Das wäre eine überaus wichtige Information.«
»Tabby, wir sind in einem Ausnahmezustand — das kann doch sicherlich noch warten, bis die großen Probleme gelöst sind.«
»Das hier ist ein großes Problem. Wollen Sie mir sagen, ich soll einfach darüber hinweggehen?«
»Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass es sich um ein elfjähriges Kind handelt. Überprüfen Sie die Sache, unbedingt, aber wir wollen sie doch nicht in eine offizielle Untersuchung hineinzerren.«
»Sie haben sie einfach unten in der Galerie gefunden?«
»Sie war plötzlich da, hatte sich rangeschlichen.«
»Mannomann, Charlie. Das ist ein ganz schönes Ding.«
»Ja, ich weiß.«
Tabby war für eine Weile still. Charlie schwieg ebenfalls, überließ es ihr, den nächsten Schritt zu tun. Sie sagte: »Kennen Sie dieses Mädchen?«
»Ich kenne seine Mutter. Wollen Sie noch 'ne Info? Ihr Vater ist Ray Scutter.«
»Gibt es sonst noch etwas, das Sie wissen? Ich frage, weil Sie derjenige sind, der sie aus dem Gebäude gebracht hat, ohne mich zu verständigen.«
»Ja, tut mir leid, aber ich war irgendwie zu überrascht. Im Grunde weiß ich sonst nicht mehr als Sie.«
»Aha.«
»Ehrlich.«
»Hm. Sie begreifen, dass ich diese Sache untersuchen muss.«
»Ja. Natürlich.«
»Aber ich schätze, der Papierkram kann dann noch ein bisschen warten.«
»Danke, Tabby.«
»Absolut nichts zu danken. Ehrlich.«
»Ich werde Boomer von Ihnen grüßen.«
»Geben Sie ihm eine Atemfrisch-Kapsel von mir, damit sich beim nächsten Grillabend nicht wieder alle Leute vor ihm ekeln müssen.« Sie legte auf, ohne sich zu verabschieden.
Wieder allein gestattete Charlie sich endlich, über das nachzudenken, was an diesem Nachmittag geschehen war. Gründlich und ohne Scheuklappen. Nur — na ja, was zum Teufel war denn eigentlich geschehen? Er hatte ein bisschen vor sich hingeträumt in der O/BEK-Galerie und dann war das Mädchen hereinspaziert. Musste er jetzt in der Lage sein, diesem Vorgang irgendeine Bedeutung zu entlocken? Vielleicht würde er nach der Arbeit mal bei Marguerite anrufen.
Unterdessen drängte sich ihm eine andere Frage auf. Er war sich nicht sicher, ob er Wert auf eine Antwort legte, aber wenn er die Frage nicht stellte, würde sie ihn plagen wie ein hartnäckiger Kopfschmerz.
Also holte er tief Luft und rief seinen Freund Murtaza aus der Abteilung Bilderfassung an. Der Anruf wurde sofort durchgestellt. »Geht anscheinend ziemlich ruhig zu bei euch.«
»Jawoll«, sagte Murtaza. »Läuft wie geschmiert.«
»Hast du Zeit, mir einen kleinen Gefallen zu tun?«
»Vielleicht. Um drei mach ich Pause.«
»So lange dauert's nicht. Du müsstest nur mal das aufgezeichnete Bild ungefähr der letzten Stunde für mich durchsehen, vor allem so in der Zeit …« Er versuchte eine geschätzte Annäherung. »Sagen wir, zwischen viertel vor eins und eins.«
»Woraufhin durchsehen?«
»Ungewöhnliches Verhalten.«
»Da hast du Pech gehabt. Er läuft einfach immer durch die Landschaft. Es ist, als würde man zugucken, wie Farbe trocknet.«
»Kleine Sachen. Eine Geste oder so.«
»Kannst du es spezifischer formulieren?«
»Tut mir leid, nein.«
»Okay, na gut, kann ja nicht so schwer sein.« Charlie wartete, während Murtaza den Zeitabschnitt definierte und dann eine Suchanwendung aufrief, die die gespeicherten Bilder des frühen Nachmittags im Schnelldurchlauf durchforstete. Das Ganze dauerte weniger als eine Minute. »Nichts«, sagte Murtaza. »Hab's dir ja gesagt.«
Das war eine Erleichterung. »Bist du sicher?«
»Heute, mein Freund, ist das Subjekt so berechenbar wie ein Uhrwerk. Er hat nicht einmal eine Pinkelpause gemacht.«
»Danke.« Charlie kam sich ein bisschen idiotisch vor.
»Absolut nichts. Nur ein winziger Ausreißer um zehn vor eins. Da hat er sozusagen kurz innegehalten, sich umgedreht und zurückgeblickt. Einfach nur so. Das war alles.«
»Oh.«
»Was, war es das, was du gesucht hast?«
»War nur so ein flüchtiges Gefühl. Entschuldige, dass ich dich damit behelligt habe.«
»Kein Problem. Am Wochenende könnten wir vielleicht mal ein Bier trinken gehen, okay?«
»Klar.«
»Schlaf dich mal aus, Charlie. Du hörst dich an, als hättest du Sorgen.«
Ja, dachte er. Hab ich.
Chris hatte mehr als die halbe Nacht damit verbracht, Marguerite zu trösten. Das Fragment der Zeitschriftenseite bestätigte keine irgend gearteten Vermutungen, ließ aber auf große Gefahr schließen, und Marguerite kam in ihrer Besorgnis immer wieder auf das Thema Tess zurück: Tess, von Ray bedroht; ihre kleine Tess, von der ganzen Welt bedroht.
Irgendwann wusste er nicht mehr, was er ihr noch sagen sollte.
Kurz vorm Morgengrauen war sie dann eingeschlafen. Chris wanderte ziellos durchs Haus. Er kannte dieses Gefühl nur zu gut, diese Doppelladung aus Furcht und Schlaflosigkeit, wie eine Überdosis Amphetamin. Schließlich ließ er sich in der Küche nieder, bei geöffneter Jalousie, sodass er den kobaltblauen Himmel sehen konnte und die vorstadttypischen Reihenhäuser, die in der aufblühenden Morgendämmerung schimmerten wie leicht ramponierte Bonbonschachteln.
Gern hätte er jetzt etwas zum Entspannen gehabt, eins von den Schmerzmitteln, die einst so leicht zur Hand gewesen waren, irgendeine besänftigende oder euphorisierende Chemikalie oder auch nur einen genüsslichen kleinen Joint. Hatte er Angst? Wovor hatte er Angst?
Nicht vor Ray, nicht vor den O/BEKs, vielleicht nicht einmal vor dem eigenen Tod. Er hatte Angst vor dem, was Marguerite ihm geschenkt hatte: ihr Vertrauen.
Es gibt Männer, dachte Chris, denen man nichts Zerbrechliches anvertrauen sollte. Die lassen es nur fallen.
Sobald die Sonne angemessen hoch stand, rief er Elaine Coster an. Er erzählte ihr von der Ambulanz, dem bewusstlosen Piloten und der angesengten Seite.
Sie schlug ein Treffen im Sawyer's vor, für zehn Uhr. Chris sagte: »Ich sage Sebastian Bescheid.«
»Wollen Sie wirklich diesen Scharlatan mit dabeihaben?«
»Bisher war er immer hilfreich.«
»Na, wie Sie meinen«, erwiderte Elaine.
Er weckte Marguerite, bevor er das Haus verließ. Er teilte ihr mit, wo er hinwollte, und setzte ihr eine Kanne Kaffee auf. Sie saß im Nachthemd in der Küche, machte einen niedergeschlagenen Eindruck. »Ich muss immerzu an Tess denken. Glaubst du, dass Ray sie wirklich bei sich behalten will?«
»Ich weiß nicht, wozu Ray imstande ist. Die dringlichste Frage ist, ob er eine Gefahr für sie darstellt.«
»Ob er ihr was tun könnte, meinst du? Nein. Das glaube ich nicht. Jedenfalls nicht direkt. Nicht körperlich. Ray ist ein komplizierter Mensch und ein Arschloch von Natur aus, aber er ist kein Monster. Er liebt Tess — auf seine Art.«
»Sie soll Freitag wieder zu dir kommen. Vielleicht sollte man bis dahin warten; sehen, was er macht, nachdem er Gelegenheit hatte, sich abzuregen. Falls er dann immer noch darauf besteht, sie zu behalten, werden wir entsprechende Schritte unternehmen.«
»Falls irgendwas Schlimmes passiert mit Blind Lake, möchte ich sie bei mir haben.«
»So weit ist es ja noch nicht. Aber, Marguerite, selbst wenn Tess nicht in Gefahr ist, muss das nicht heißen, dass du sicher bist. Dass Ray ins Haus eingedrungen ist, macht ihn zu einem Stalker. Es macht ihn unberechenbar. Wie gut sind deine Schlösser?«
Sie zuckte die Achseln. »Nicht besonders. Ich könnte mir wohl einen neuen Schlüssel machen … aber dann kommt Tess ohne mich nicht ins Haus.«
»Mach einen neuen Schlüssel und lass Tessas Karte updaten, selbst wenn du dich dafür an die Schule wenden musst. Und werde nicht unvorsichtig. Schließ immer die Tür ab, wenn du alleine bist, und mach nicht auf, ohne vorher zu gucken, wer da ist. Achte darauf, dass du deinen Pocket-Server immer griffbereit hast. Im Notfall ruf mich an oder Elaine oder meinetwegen sogar diesen Sicherheitsmenschen, wie heißt er noch? — Schulgin. Versuch nicht, die Sache allein in die Hand zu nehmen.«
»Du hörst dich so an, als hättest du das alles schon mal durchgemacht.«
Er verließ das Haus, ohne darauf zu antworten.
Im Sawyer's nahm Chris einen für sich stehenden Tisch in Beschlag, in gehöriger Entfernung zu den Fenstern. Das Restaurant war nicht sehr voll. Der Koch und einige der Kellnerinnen waren, so Chris' Vermutung, mehr oder weniger nur aus Gewohnheit da. Das Speisenangebot war auf Sandwiches geschrumpft: Schinken, Käse oder Schinken-Käse.
Elaine traf zeitgleich mit Sebastian Vogel und Sue Sampel ein. Alle drei sahen Chris gespannt an, als sie Platz nahmen. Sobald die Kellnerin ihre Bestellung aufgenommen hatte, legte Chris die versengte, mit einer Plastikhülle geschützte Zeitschriftenseite auf den Tisch.
»Wow«, sagte Sue. »Haben Sie das tatsächlich gestohlen?«
»Dieses Wort verwenden wir nicht«, sagte Elaine. »Chris verfugt über eine hochrangige Quelle, die nicht genannt werden möchte.«
»Seht es euch an«, sagte Chris. »Lasst euch Zeit. Zieht Schlüsse, macht euch selbst einen Reim.«
Nur etwa ein Viertel der bedruckten Seite war lesbar. Der Rest war bis zur Unkenntlichkeit verkohlt und selbst der lesbare Teil ganz rechts war braun verfärbt.
Noch entzifferbar war das Bruchstück einer Schlagzeile:
OSSBANK LAUT VERTEIDIGUNGSMINISTER NOCH IMMER UNBEKANNT
Und darunter die linksseits abgeschnittenen Fragmente einer Textspalte:
Elaine sagte: »Was ist auf der Rückseite?«
»Eine Autoreklame. Und ein Datum.«
Sie drehte die Seite um. »Herrje, das Ding ist ja fast zwei Monate alt.«
»Ja.«
»Der Pilot hat es bei sich gehabt?«
»Ja.«
»Und er ist noch immer ohne Bewusstsein?«
»Ich hab heute Morgen in der Ambulanz angerufen. Es gibt keine Veränderung.«
»Wer weiß noch hierüber Bescheid?«
»Marguerite. Und jetzt ihr drei.«
»Okay … dann wollen wir es auch dabei belassen, Leute.«
Die Kellnerin brachte den Kaffee. Chris deckte die Seite mit einer Dessertkarte ab.
»Sie hatten ja ein bisschen Zeit zum Nachdenken«, sagte Elaine. »Werden Sie daraus schlau?«
»Offensichtlich gibt es eine Krise in Crossbank. Welcher Art, darauf sind kaum Hinweise zu erkennen. Groß genug jedenfalls, um die Infanterie auf den Plan zu rufen und möglicherweise die Highways — was stand da noch? — östlich des Mississippi zu sperren. Wir haben das Wort ›Plagen‹ in Anführungszeichen und offenbar ein Dementi vom Gesundheitsamt CDC …«
»Das kann alles Mögliche heißen«, sagte Elaine. »Und auch das genaue Gegenteil.«
»Es wird über ›Todesfälle berichtet‹ oder vielleicht auch ›keine weiteren Todesfälle‹. Wir haben rätselhaftes Zeug über Korallen, Seesterne, einen Pilger. Eine Erklärung, die offenbar Ed Baum zuzuschreiben ist, dem wissenschaftlichen Berater des Präsidenten. Das Ereignis war groß genug, um Schlagzeilen zu machen und Bundesbehörden zur Stellungnahme zu bewegen, aber nicht groß genug, um die Werbung aus der Zeitschrift zu verbannen.«
»Dieser Anzeigenplatz kann schon vor sechs Monaten gekauft worden sein. Das beweist nichts.«
»Sebastian?«, sagte Chris. »Sue? Irgendwelche Einfälle?«
Beide blickten ernst und feierlich. Sebastian sagte: »Was mich fasziniert, ist der Gebrauch des Wortes »spirituell«.«
Elaine verdrehte die Augen. »Das dachte ich mir.«
»Ja, weiter«, ermunterte ihn Chris.
Sebastian runzelte die Stirn, sein gespitzter Mund verschwand fast hinter seinem mächtigen Bart. Seit Beginn der Isolation war seine Erscheinung immer gnomenhafter geworden, fand Chris. Irgendwie hatte er es geschafft, zuzunehmen. Seine Wangen waren beerenrot. »Spirituelle Erlösung. Welcher Art muss eine Katastrophe sein, um auch nur die Illusion einer Erlösung heraufzubeschwören? Oder Pilger anzulocken?«
»Unsinn«, sagte Elaine. »Um Pilger anzulocken, reicht es schon zu verkünden, man habe das Porträt der Jungfrau Maria in einem verschmutzten Bettlaken gesehen. Die Leute sind leichtgläubig, Sebastian. Sie müssen es sein, sonst hätten Sie keinen Bestseller geschrieben.«
»Oh, ich glaube nicht, dass wir es hier mit der Wiederkunft Christi zu tun haben. Wenngleich einige Menschen es vielleicht dafür halten. Das deutet dann allerdings auf etwas Seltsames hin, meinen Sie nicht? Etwas schwer Greifbares.«
»Seltsam und schwer greifbar. Wow, tolle Einsicht.«
Chris steckte die Zeitschriftenseite zurück in seine Jackentasche. Er ließ die anderen einige Minuten weiter diskutieren. Elaine war sichtlich frustriert darüber, nur eine halbe Erklärung vorliegen zu haben. Sebastian wirkte eher fasziniert als ängstlich, und Sue hielt sich in bedrückter Schweigsamkeit an seinem linken Arm fest.
»Dann haben die Kritiker also vielleicht recht«, sagte Elaine. »Irgendwas ist mit den O/BEKs in Crossbank passiert. Also muss man darüber nachdenken, das Auge abzuschalten.«
»Vielleicht«, sagte Chris. Er war dieses Szenario vergangene Nacht mit Marguerite durchgegangen. »Aber wenn die Leute draußen wollten, dass wir abgeschaltet werden, hätten sie uns schon vor Monaten den Saft abdrehen können. Vielleicht haben sie genau das in Crossbank gemacht, und es hat die Sache nur verschlimmert.«
»Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Scheiß auf vielleicht. Was wir brauchen, sind mehr Informationen.« Sie richtete einen bedeutungsvollen Blick auf Sue.
Sue beschäftigte sich mit ihrem Sandwich, als habe sie nichts bemerkt.
»Braves Mädchen«, sagte Sebastian zu ihr. »Man soll sich niemals aufdrängen.«
In bemerkenswert würdiger Haltung, wie Chris fand, schluckte Sue Sampel den letzten Schinken-Käse-Bissen hinunter und spülte mit einem Schluck Kaffee nach. Dann räusperte sie sich. »Sie wollen wissen, was Ray durch das Eindringen in die Server der Leitungsebene entdeckt hat. Tut mir leid, aber ich konnte es nicht herausfinden. Rays Paranoia hat in letzter Zeit noch mal zugelegt. Alle Mitarbeiter müssen jetzt zeitprogrammierte Schlüssel tragen. Ohne speziellen Sicherheitsvermerk können wir weder früher kommen noch länger bleiben. Die meisten Büroräume sind videoüberwacht, und zwar nicht nur so nebenbei.«
»Und was wissen Sie jetzt also?«, fragte Elaine.
»Nur das, was ich hin und wieder zufällig mitbekomme. Dimi Schulgin ist kürzlich mit einem Packen Ausdrucke aufgetaucht, wahrscheinlich Hardcopys aller Mails aus Crossbank, die vor der Abriegelung noch in den Caches gelandet sind. Ray ist extrem nervös geworden, seit er die gesehen hat. Was aber den Inhalt betrifft, so ist es mir nicht gelungen, auch nur in die Nähe zu kommen. Und falls Ray jemals die ehrliche Absicht hatte, dieses Zeug öffentlich zu machen, dann hat er es sich offensichtlich anders überlegt.«
Ray ist nicht einfach nur nervös, dachte Chris. Er hat Angst. Der Anstrich von Vernünftigkeit blättert von ihm ab wie Farbe von einem Scheunentor.
»Dann sind wir also im Arsch«, sagte Elaine.
»Nicht unbedingt. Ich könnte vielleicht etwas für Sie ergattern. Aber ich bräuchte Hilfe.«
Sue konnte ziemlich überzeugend das kleine Dummchen geben, doch in Wirklichkeit, dachte Chris, war sie alles andere als dumm. Dummköpfe bekamen keinen Job in Blind Lake, nicht einmal in untergeordneter Funktion. Falls sich die Ausdrucke noch in Rays Büro befänden, so Sue, könnte sie sie, eventuell und mit ein bisschen Glück, finden und in ihren Personalserver einscannen. Sie könnte sich unter einem Vorwand Zutritt zu Rays Büro verschaffen und mit ihrem Hauptschlüssel seinen Schreibtisch öffnen, aber sie müsste dazu mindestens eine halbe Stunde lang garantiert ungestört sein.
»Was ist mit der Überwachung?«
»In diesem Punkt profitieren wir von Rays Paranoia. In den Chefbüros sind keine Kameras vorgeschrieben. Ray hat seine seit letztem Sommer abschalten lassen. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass jemand sieht, wie er seine DingDongs isst.«
»DingDongs?«
Sue ging abwinkend über die Frage hinweg. »Die Sicherheitsleute sehen, wie ich ins Büro reingehe und wieder rausgehe, aber wenn ich mich von der Verbindungstür fernhalte, ist das alles, was sie sehen. Ich gehe doch sowieso die ganze Zeit dort ein und aus. Ray weiß, dass jemand einen Schlüssel zu seinem Schreibtisch hat, aber er weiß nicht, dass ich es bin, und wenn alles klappt, wird er nicht einmal merken, dass ich die Dokumente gescannt habe.«
»Sie sind sich vollkommen sicher, dass er Hardcopys in seinem Büro hat?«
»Nicht vollkommen, nein, aber ich würde darauf wetten. Die Frage ist nur, wie man dafür sorgen kann, dass Ray und seine Kumpane mich nicht stören, wenn ich drin bin.«
»Ich vermute mal, Sie haben einen Plan«, sagte Elaine.
Sue sah hochzufrieden aus. »In der Woche ist es unmöglich. An den Wochenenden kann ich tagsüber hingehen, ohne Verdacht zu erregen, aber auch Ray schaut am Wochenende öfter mal rein und Schulgin ist in letzter Zeit ebenfalls ziemlich häufig aufgekreuzt. Also habe ich mir mal Rays Kalender angeguckt. Am kommenden Samstag ist er an dieser Vorlesungsreihe im Gemeindezentrum beteiligt, eine von den Veranstaltungen, die Ari Weingart organisiert. Er hat noch zwei, drei andere Vortragende außer Ray verpflichtet. Wie man Ray kennt, wird er Wert drauf legen, dass Schulgin im Publikum sitzt und vielleicht noch andere Leute mitbringt — Ari, na ja, der wird eh da sein, und die Abteilungsleiter, mit Ausnahme von Marguerite. Er nimmt die Sache ernst. Wenn ich einen Tipp abgeben müsste, würde ich sagen, er will um Unterstützung dafür werben, das Auge abzuschalten.«
Chris wusste über die Diskussionsveranstaltung am Samstag Bescheid. Marguerite sollte eine der Teilnehmerinnen sein. Sie hatte schon etwas dafür vorbereitet, obwohl es ihr hochgradig widerstrebte, mit Ray zusammen auf einer Bühne zu sitzen. Ari Weingart hatte ihr aber versichert, es sei eine gute und auch für sie nützliche Sache, denn es würde ihre Sichtbarkeit erhöhen und ihr möglicherweise ein besseres Standing in den anderen Abteilungen verschaffen.
»Welche Rolle sollen wir denn bei all dem spielen?«, fragte Chris.
»Eigentlich keine. Ich möchte nur, dass Sie im Publikum sitzen und die Bühne im Auge behalten. Dann können Sie mich verständigen, falls Ray plötzlich den Saal verlässt.«
Sebastian schüttelte den Kopf. »Das ist trotzdem immer noch viel zu gefährlich. Du könntest echt in Schwierigkeiten kommen.«
Sie lächelte nachsichtig. »Nett, dass du das sagst. Aber ich glaube, ich bin schon in Schwierigkeiten. Ich glaube, das sind wir alle. Meint ihr nicht?«
Niemand machte sich die Mühe, ihr zu widersprechen.
Elaine blieb noch eine Weile sitzen, nachdem Sue und Sebastian gegangen waren.
Der Betrieb im Sawyer's nahm gegen Mittag ein bisschen zu. Aber nur ein bisschen. Der Nachmittagshimmel draußen vor dem Fenster war blau, die Luft unbewegt und kalt.
»Also«, sagte Elaine, »wie stehen Sie zu der Sache, Chris?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Wir stecken tiefer in der Scheiße, als irgendjemand zugeben möchte. Hier lebend wieder rauszukommen, könnte das Schwerste sein, was wir in unserem Leben je zu vollbringen haben. Sind Sie darauf vorbereitet?«
Er zuckte die Achseln.
»Sie denken an Ihre Freundin. Und ihre Tochter.«
»Wir müssen jetzt nicht persönlich werden, Elaine.«
»Kommen Sie, Chris. Ich habe Augen im Kopf. Sie sind nicht so tief und unergründlich, wie Sie gern glauben. Als Sie das Galliano-Buch schrieben, haben Sie sich den weißen Hut aufgesetzt und sind gegen das Unrecht angetreten. Und haben dafür einstecken müssen. Sie haben erfahren müssen, dass der Gute nicht von allen geliebt wird, selbst wenn er recht hat, sondern im Gegenteil. Sehr enttäuschend für einen braven Vorstadtjungen. Also haben Sie sich verständlicherweise ein bisschen in Selbstmitleid gesuhlt, ihr gutes Recht, warum auch nicht. Aber jetzt kommt diese ganze Abriegelungsscheiße, dazu noch das, was in Crossbank passiert sein mag, ganz zu schweigen von Marguerite und ihrem kleinen Mädchen. Ich glaube, Sie spüren den Drang, den weißen Hut wieder aufzusetzen. Und was ich sagen will, ist: gut so. Es ist der richtige Zeitpunkt dafür. Wehren Sie sich nicht dagegen.«
Chris faltete seine Serviette zusammen und erhob sich. »Sie wissen überhaupt nichts über mich«, sagte er. »Einen Scheiß wissen Sie.«
Nachdem Chris aus dem Haus gegangen war und bevor gegen Mittag der Anruf von Charlie Grogan kam, der sie bat, ihre Tochter abzuholen, hatte Marguerite sich mit dem Subjekt beschäftigt.
Trotz der impliziten Gefahr für Blind Lake und Rays expliziten Drohungen gab es sonst nichts, was sie sinnvollerweise tun konnte, jedenfalls im Moment. Es würde einiges auf sie zukommen, vermutete Marguerite, und wahrscheinlich schon bald, aber jetzt noch nicht. Vorerst war sie in einen von Angst und Nichtwissen geprägten Schwebezustand gebannt. Sie hatte keine eigentliche Arbeit zu erledigen und keine Möglichkeit, den Aufruhr der Gefühle zu besänftigen. Geschlafen hatte sie auch nicht, aber an Schlaf war nun ganz und gar nicht zu denken.
Also kochte sie sich eine Kanne Tee und beobachtete das Subjekt, machte sich Notizen für Rückfragen, die sie wahrscheinlich gar nicht mehr an die betreffenden Stellen weiterleiten würde. Das ganze Unternehmen war dem Untergang geweiht, dachte Marguerite, genau wie vermutlich auch das Subjekt selbst. Es machte einen deutlich geschwächten Eindruck, während die Sonne sich in einen blassen, von hohen Wolken betupften Himmel erhob. Es war seit Wochen auf Wanderschaft, weitab von allen befahrenen Straßen, nur unzureichend mit Nahrung und Wasser versorgt. Seine morgendlichen Ausscheidungen waren dünn und etwas grünlich verfärbt. Beim Gehen verrenkte sich sein Körper in gewissen Abständen, als werde es von plötzlichem Schmerz gepackt.
An diesem Morgen aber fand es sowohl Nahrung als auch Wasser. Es hatte das Vorgebirge einer hohen Bergkette erreicht, und obwohl das Land immer noch furchtbar trocken war, entdeckte es eine Art Oase an einer Stelle, wo Gletscherwasser sich über eine Felsterrasse nach unten ergoss. Das Wasser sammelte sich in einer Granitmulde, klar und durchsichtig wie Glas. Saftige Sukkulenten breiteten ringsum ihr fächerartiges Laub aus.
Subjekt nahm ein Bad, bevor es aß. Es stieg vorsichtig in den kleinen Tümpel und stellte sich dann unter den Wasserfall. Es hatte sich im Laufe der Reise einen Überzug von Staub zugelegt, der jetzt das abfließende Wasser trübte. Als es den Tümpel verließ, glänzte seine Hauthülle, eben fast noch weiß, wieder in einem dunklen Umbraton. Es drehte den Kopf hin und her, als würde es nach möglichen Beutejägern Ausschau halten. (Gab es raubtierartige Spezies in diesem Teil seiner Welt? Eher unwahrscheinlich — denn wo war das Wild, von dem sich ein großes Raubtier ernähren konnte? —, aber nicht ausgeschlossen, vermutete Marguerite.) Dann, in diesem Punkt offenbar beruhigt, pflückte, schälte und wusch es mehrere der fleischigen Blätter und begann sie zu verspeisen. Saft tropfte ihm vom Kiefer und sammelte sich zu seinen Füßen. Nachdem es die Blätter verzehrt hatte, fand es einige moosbewachsene Stellen auf dem Granit nahe des Wasserfalls, die es mit seiner breiten, blaugrauen Zunge ableckte. Dann setzte es sich wieder hin, um seine Mahlzeit in aller Ruhe zu verdauen, und Marguerite rief die Textdatei auf, die sie für Tess angelegt hatte: ihre Kinderbuchgeschichte von der Odyssee des Subjekts.
Die Tätigkeit des Schreibens beruhigte sie, obgleich die Erzählung bei weitem nicht auf dem neuesten Stand war. Sie hatte gerade erst die Beschreibung der Sandsturmkrise beendet und war bei dem Punkt angelangt, wo das Subjekt in der Ruinenstadt mitten in der Wüste erwacht.
Sie schrieb:
An diesem friedlichen und windstillen Morgen befanden sich ringsum die Säulen und Mauerreste von Gebäuden, die vor langer Zeit verlassen worden und seither verfallen waren.
Diese Bauwerke waren nicht wie die hohen kegelförmigen Gebäude seiner Heimatstadt. Wer auch immer diese Gebäude errichtet haben mochte — vielleicht seine Vorfahren —, hatte sie ganz anders angelegt. Sie besaßen Säulen wie die Bauten der Griechen, und vielleicht haben diese Säulen früher einmal sehr viel größere Häuser oder Tempel oder Geschäftsgebäude getragen.
Die Säulen waren aus schwarzem Stein gehauen, und der Sand des Wüstenwinds hatte sie mit der Zeit glatt poliert. Einige ragten hoch auf. doch die meisten waren zu Bruchteilen ihrer einstigen Größe zerfallen, und sofern sie nicht umgestürzt waren, neigten sie sich unter dem Einfluss des Windes nach Osten. Es gab auch ganz andersartige Gebäudereste, einige quadratische Fundamente und sogar ein paar flache Pyramiden, allesamt rundgeschliffen wie die Steine, die man am Grund eines fließenden Gewässers findet.
Der Sturm hatte den Wüstenboden eingeebnet, und jetzt warf die Sonne harte Schatten zwischen die Rinnen. Subjekt stand in Gedanken versunken da. Während der Morgen voranschritt, wurden die Schatten kürzer. Schließlich begann das Subjekt — vielleicht in Gedanken an sein Reiseziel — wieder Richtung Westen zu wandern. Um die Mittagszeit hatte es die verfallene Stadt hinter sich gelassen, sie verschwand unterhalb des Horizonts, als sei sie nunmehr gänzlich versunken, und vor ihm war jetzt nichts mehr als glitzernder Sand und die geisterhaft blauen Silhouetten ferner Berge.
Eben hatte sie den letzten Punkt gesetzt, als das Telefon klingelte und sie Charlie Grogans Anruf entgegennahm.
Tess schwieg, als sie die Alley im Auto verließen.
Marguerite fuhr langsam, versuchte angestrengt, ihre Gedanken zu ordnen. Sie hatte eine wichtige Entscheidung zu treffen.
Aber erst einmal musste sie wissen, was passiert war. Tess hatte das Schulgelände verlassen, war zum Auge hinübergewandert und hatte Charlie aufgestört, so viel war klar. Aber warum?
»Es tut mir leid«, sagte Tess, nachdem sie ihr bereits einige ängstliche Blicke zugeworfen hatte. Bin ich. fragte sich Marguerite, derart furchteinflößend? Ankläger und Richter zugleich? Nimmt sie mich so wahr?
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Marguerite. »Pass auf. Ich werde Mr. Fleischer anrufen und ihm sagen, dass du einen Termin hattest, aber vergessen hast, ihm die Mitteilung zu übergeben. Was hältst du davon?«
»Okay«, sagte Tess zurückhaltend, wartete auf den Haken.
»Aber bestimmt macht er sich Sorgen um dich, und ich auch. Wie kommt es, dass du heute Nachmittag nicht in den Unterricht zurückgegangen bist?«
»Ich weiß nicht. Ich wollte einfach zum Auge gehen.«
»Aber wieso? Ich dachte, es gefällt dir dort gar nicht. Die Führung in Crossbank fandest du damals furchtbar.«
»Hatte einfach Lust dazu.«
»So doll, dass du die Schule geschwänzt hast?«
»Anscheinend.«
»Wie bist du reingekommen? Mr. Grogan scheint sich darüber ein bisschen aufgeregt zu haben.«
»Einfach durch die Tür. Es hat grad keiner hergeguckt.«
Das jedenfalls traf vermutlich zu. Tess war viel zu arglos, um sich in ein Gebäude hineinzumogeln oder einen versteckten Eingang aufzuspüren. Aller Wahrscheinlichkeit nach war sie einfach zur Vordertür gegangen und hatte sie geöffnet: Charlies Untersuchung des Vorgangs würde auf einen schläfrigen Wachmann stoßen oder einen Angestellten, der sich mal eben kurz verdrückt hatte, um einen Joint zu rauchen. »Hast du gefunden, was du gesucht hast?«
»Ich hab eigentlich nichts Bestimmtes gesucht.«
»Irgendwas Neues gelernt?«
Tess zuckte die Achseln.
»Weißt du, das ist nämlich ein für dich ziemlich untypisches Verhalten. Du hast vorher noch nie die Schule geschwänzt.«
»Es war wichtig.«
»Inwiefern wichtig, Tess?«
Keine Antwort — nur ein Stirnrunzeln und Tränen in den Augen.
»Hat Mirror Girl was damit zu tun?«
Tessas unglücklicher Gesichtsausdruck verdichtete sich zu reinstem Elend. »Ja.«
»Sie hat dir gesagt, du sollst hingehen?«
»Sagen tut sie mir nie etwas. Sie wollte einfach hin, also bin ich gegangen.«
»Tja, und was hat Mirror Girl dort gesucht?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, sie wollte nur sehen, ob sie ihr Spiegelbild sehen kann.«
»Ihr Spiegelbild? Wo denn?«
»Im Auge«, sagte Tess.
»Ein Spiegel im Auge? Diese Art Teleskop ist das nicht. Es hat keinen richtigen Spiegel.«
»Nicht in einem Spiegel — in dem Auge.«
Marguerite wusste nicht, wie sie fortfahren, was sie als Nächstes fragen sollte. Sie hatte Angst vor Tessas Antworten, sie klangen verrückt — verrückt: das verbotene Wort, der unaussprechliche Gedanke. Sie hasste dieses Gerede über Mirror Girl, weil es verrückt klang, und Marguerite glaubte das nicht ertragen zu können. Fast alles andere lieber als das, eine Verletzung, eine Krankheit; sie konnte sich Tess in Beinschienen oder einer Armschlinge vorstellen; sie war imstande, sie zu trösten, wenn sie sich wehgetan hatte; das spielte sich alles im Rahmen ihrer mütterlichen Kompetenz ab. Aber bitte, dachte sie, keine Geisteskrankheit, kein starrsinniges Irresein, das jeden Trost, jede Kommunikation ausschließt. Während des Studiums hatte Marguerite nachts auf einer psychiatrischen Station gejobbt. Sie hatte unheilbar an Schizophrenie Erkrankte erlebt, Verrückte, die in ihrer persönlichen albtraumhaften Realität lebten, so einsam, so verlassen, wie man es selbst durch totale körperliche Isolation nicht sein könnte. Sie verweigerte sich der Vorstellung, auch Tess könnte zu diesen Menschen gehören.
Sie bog auf den Schulparkplatz ein, bat Tess jedoch, noch einen Augenblick sitzen zu bleiben.
Tod und Geisteskrankheit: Konnte sie ihre Tochter wirklich vor diesen Gefahren schützen? Ich kann sie nicht einmal vor Ray beschützen.
Ray hatte gedroht, Tess bei sich zu behalten, das materielle Sorgerecht an sich zu reißen — sie, auf Deutsch gesagt, zu entführen. Aber im Moment ist sie bei mir, dachte Marguerite. Und wenn ich die Wahl hätte, würde ich sie von hier wegbringen, würde mit ihr nach Constance fahren und von da aus weiter, immer weiter, fort von der Quarantäne und den erschreckenden Gerüchten, die Chris angeschleppt hatte, fort von Eyeball Alley und fort von Mirror Girl.
Aber das konnte sie nicht. Sie musste Tess wieder in die Schule schicken, und von der Schule aus würde Tess wieder zu Ray und der immer zerbrechlicher werdenden Illusion von Normalität zurückkehren. Wenn ich sie bei mir behalte, dachte Marguerite, bin ich diejenige, die gegen die Vereinbarung verstößt, und Ray schickt dann seine Sicherheitsleute, um sie zu holen.
Aber wenn ich sie zu ihm zurückgehen lasse, und dann passiert irgendwas …
»Kann ich jetzt aussteigen?«, fragte Tess.
Marguerite holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Ich denke schon«, sagte sie. »Zurück in die Schule mit dir. Aber keine Ausflüge mehr während des Unterrichts, okay?«
»Okay.«
»Versprochen?«
»Versprochen.« Sie griff nach der Türklinke.
»Eins noch«, sagte Marguerite. »Pass auf. Hör zu. Das ist jetzt ganz wichtig, Tess. Falls irgendwas Seltsames bei deinem Dad passiert, ruf mich an. Egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Darüber brauchst du dir überhaupt keine Gedanken zu machen. Ruf mich einfach an. Denn ich bin immer für dich da, auch wenn du nicht bei mir bist.«
»Ist Chris auch für mich da?«
Überrascht sagte Marguerite: »Ja, sicher. Chris auch.«
»Okay«, sagte Tess, dann öffnete sie die Tür und sprang aus dem Auto. Marguerite sah ihrer Tochter nach, wie sie den verlassenen Parkplatz überquerte, durch Verwirbelungen von altem Schnee stapfend, die Jacke noch immer schief geknöpft und die Wintermütze zusammengepresst in den kleinen behandschuhten Händen.
Ich werde sie wiedersehen, sagte sich Marguerite. Ich muss einfach. Und also wird es so sein.
Dann verschwand Tess durch die Eingangstür der Schule und der Nachmittag war still und leer.
Sue Sampel erwachte und war nervös. Es war Samstagmorgen, heute sollte sie den kleinen Akt von Informationsklau begehen, den sie anfangs der Woche so unbedacht in Aussicht gestellt hatte. Ihre Hand zitterte, als sie sich die Zähne putzte, und ihr Spiegelbild war die idealtypische Darstellung einer verängstigten Frau mittleren Alters.
Sie ließ Sebastian noch eine Stunde länger schlafen, während sie sich selbst Kaffee kochte und Toast machte. Sebastian gehörte zu den Leuten, die auch bei Stürmen oder Erdbeben weiterschlafen, wohingegen bei ihr ein lärmender Spatz ausreichte, um sie in einen quälenden und erschöpfenden Halbwachzustand zu versetzen.
Sebastians Buch lag auf dem Küchentisch, und Sue blätterte darin, um sich ein bisschen abzulenken. Sie hatte es schon vor Wochen einmal ganz durchgelesen und vor ein paar Tagen angefangen, es sich ein zweites Mal vorzunehmen, um weitere Ideen und Gedanken aufzusaugen, die ihr bei der ersten Lektüre entgangen waren. Gott & das Quantenvakuum — ein gewichtiger Titel. Wie zwei Sumoringer, die auf einem Et-Zeichen balancierten.
Aber sie empfand das Buch nicht als großmäulig oder oberflächlich, vielmehr forderte es sie bis an die Grenzen ihres Bachelor-Grades in Naturwissenschaften. Zum Glück verstand es Sebastian recht gut, komplizierte Sachverhalte anschaulich zu erklären. Und sie besaß das Privileg, den Autor zur Hand zu haben, wenn sie irgendwo partout nicht durchblickte.
Es war weder ein dezidiert religiöses Buch noch ein Werk strenger Wissenschaftlichkeit. Sebastian selbst nannte es »spekulative Philosophie«. Einmal hatte er es als »Plauderei im Großformat« beschrieben. Das, vermutete Sue, war ein Ausdruck von Bescheidenheit. Das Buch enthielt viel an verborgener Wissenschaftsgeschichte, evolutionäre Weisheiten und Quantenphysik. Heißes Material für einen Religionsprof am College, zu dessen früheren Veröffentlichungen so atemberaubende Reißer gehörten wie »Fehlerhafte Zuschreibungen in paulinischen Texten des Ersten Jahrhunderts«. Seine These besagte im Wesentlichen, dass die Menschen den gegenwärtigen Stand ihres Bewusstseins durch Aneignung eines kleinen Teils einer universalen Intelligenz erlangt hätten. Gott anzapfen, mit anderen Worten. Diese Definition Gottes, argumentierte er, lasse eine Verallgemeinerung in einem Maße zu, dass sie die Gottesvorstellungen eines breiten Spektrums von Kulturen und Glaubensrichtungen umgreift. Ist Gott allgegenwärtig und allwissend? Ja, denn Er durchdringt die gesamte Schöpfung. Ist Er einzigartig oder vielfältig? Beides: Er ist allgegenwärtig, weil Er dem physischen Prozess des Universums innewohnt, aber Sein Geist ist (für den Menschen) erkennbar allein in vereinzelten und oft ungleichartigen Fragmenten. Gibt es ein Leben nach dem Tod oder gar eine Reinkarnation? Im entschieden buchstäblichen Sinne: nein; aber da unser Bewusstsein ein geborgtes ist, lebt es unabhängig von unserem Körper weiter, und sei es als ein winziger Teil von etwas, das fast unendlich viel größer ist.
Sue begriff, worauf er abzielte. Er wollte den Menschen den Trost der Religion gewähren, aber ohne den Ballast des Dogmatismus. Er ging recht unbekümmert mit seiner Wissenschaft um, und das ging manchen Leuten schwer gegen den Strich, wie zum Beispiel Elaine Coster. Aber er hatte das Herz am rechten Fleck. Er strebte eine Religion an, die geeignet war, Witwen und Waisen zu trösten, ohne sie dem Patriarchat, der Intoleranz, dem Fundamentalismus oder seltsamen Ernährungsvorschriften zu unterwerfen. Er wollte eine Religion, die sich nicht in einem permanenten Handgemenge mit der modernen Kosmologie befand.
Wirklich kein schlechtes Programm, befand Sue. Aber wo ist mein Trost? Der Trost für die gemeine Diebin, die untreue Büroangestellte? Vergib mir, denn ich weiß genau, was ich tue, und ich zweifle sehr an diesem Tun. Vorausgesetzt, dass es darauf überhaupt noch ankam. Vorausgesetzt, dass sie nicht eh alle dem Untergang geweiht waren. Sie hatte das Fragment des Zeitschriftenartikels im Sawyer's gelesen und daraus ihre eigenen Schlüsse gezogen.
Sebastian kam die Treppe herunter, frisch geduscht und in seiner besten Freizeitkleidung: blaue Jeans und ein grüner Strickpullover, der aussah wie etwas, das ein englischer Geistlicher in die Kleiderspende gegeben hatte.
»Heute findet der große Raub statt.«
»Wie fühlst du dich?«
»Ich hab Angst.«
»Weißt du, du musst das nicht tun. Es war edel von dir, dich dazu bereit zu erklären, aber niemand wird etwas sagen, wenn du es dir anders überlegst.«
»Niemand außer Elaine.«
»Na ja, vielleicht Elaine. Aber mal im Ernst …«
»Ist schon gut, im Ernst. Du musst mir nur eins versprechen.«
»Nämlich?«
»Wenn ihr da im Saal sitzt bei der Veranstaltung … ich meine, ich weiß, die anderen passen auf und rufen an, falls Ray plötzlich abhaut und zur Plaza fährt. Aber der Einzige, dem ich wirklich vertraue, das bist du.«
Er nickte, mit großen Eulenaugen und noch größerer Ernsthaftigkeit.
»Ich brauche mindestens fünf Minuten Vorwarnzeit, wenn Ray unterwegs ist.«
»Kriegst du«, sagte Sebastian.
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Der Vormittag verging allzu schnell. Die Bürgerversammlung sollte um ein Uhr beginnen, und sie bat Sebastian zu fahren, damit er sie unauffällig vor der Hubble Plaza absetzen konnte. Sie sprachen nicht viel im Auto. Als er anhielt, gab sie ihm einen flüchtigen Kuss. Dann trat sie hinaus in die kalte Luft, verschaffte sich mit ihrer Karte Einlass am Haupteingang der Plaza, winkte dem Wachhabenden in der Vorhalle zu und ging ohne augenscheinliche Eile zu den Fahrstühlen. Ihre Schritte tönten in der gefliesten Halle wie das Klicken eines Metronoms, allegro, taktgleich mit dem Schlag ihres Herzens.
Marguerite traf um Viertel vor eins im Hörsaal des Gemeindezentrums ein. und als sie Ari Weingart entdeckte, der in der bereits versammelten Menschenmenge nach ihr Ausschau hielt, sagte sie zu Chris: »O Gott, das hier ist ein böser Fehler.«
»Was, der Vortrag?«
»Nicht der Vortrag. Mit Ray auf einer Bühne zu stehen. Ihn ansehen zu müssen, ihm zuhören zu müssen. Ich wünschte, ich könnte … oh, hallo, Ari.«
Ari fasste sie fest am Arm. »Hier entlang, Marguerite. Sie sind als Erste dran, hatte ich das schon gesagt? Danach Ray und dann Lisa Shapiro von der Geologie und Klimatologie, und anschließend können die Zuhörer Fragen stellen.«
Sich von Ari abführen lassend, warf sie noch einen letzten Blick auf Chris, der die Achseln zuckte und ihr auf eine Weise zulächelte, die sie als aufmunternd interpretierte.
Aber mal im Ernst, dachte sie, während sie Ari durch eine dem Personal vorbehaltene Tür ins Halbdunkel hinter der Bühne folgte, das hier ist total wahnsinnig. Nicht nur, weil sie gezwungen war, gemeinsam mit Ray aufzutreten, sondern auch, weil sie beide eine Scharade würden aufführen müssen. Alle beide mussten sie so tun, als hätten sie keine Hinweise auf eine Katastrophe in Crossbank (welcher Art auch immer) gesehen, mussten so tun, als gäbe es keinen Konflikt wegen Tess, mussten so tun, als würden sie einander nicht verabscheuen, mussten den Leuten nicht unbedingt Höflichkeit, aber jedenfalls Indifferenz vorspielen.
In dem Wissen, dass es jederzeit zu Ende gehen könnte.
Ein sicheres Rezept für ein Debakel, dachte Marguerite. Hinzu kam, dass ihr »Vortrag« nicht mehr war als eine Reihe von Notizen, die sie nur für sich gemacht hatte, ohne ernsthafte Absicht, sie der Öffentlichkeit zu präsentieren — Spekulationen über das UMa47-Projekt, die an Häresie grenzten. Aber wenn die Krise wirklich so schlimm, so potenziell tödlich war, wie es den Anschein hatte, warum sollte man sich dann noch mit Unaufrichtigkeiten abgeben? Warum nicht, ein einziges Mal in ihrem Leben, das karrierestrategische Kalkül hintanstellen und einfach das sagen, was sie dachte?
Ein einleuchtender Gedanke, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als sie sich bei noch geschlossenem Vorhang auf der Bühne sitzend wiederfand, Lisa Shapiro als Puffer zwischen sich und ihrem Exmann. Sie mied jeden Blickkontakt, konnte aber das geradezu klaustrophobische Bewusstsein seiner Gegenwart nicht abschütteln.
Er war makellos gekleidet, wie sie schon beim Betreten der Bühne bemerkt hatte. Anzug und Krawatte, messerscharfe Bügelfalten. Ein leichtes, lippenschürzendes Lächeln lag auf seinem Gesicht, akzentuiert von seinen Hängebacken und dem fliehenden Kinn. Er wirkte wie jemand, der etwas Unangenehmes riecht, jedoch versucht, die Form zu wahren. Er hielt einen Stapel Papiere in den Händen.
Links von ihr befand sich ein Rednerpult, an dem Ari stand und in diesem Moment das Zeichen gab, den Vorhang zu öffnen. Jetzt schon? Marguerite blickte auf ihre Uhr. Punkt eins. Sie hatte einen trockenen Mund.
Der Saal bot Platz für zweitausend Zuhörer, hatte Ari ihr erzählt. Für die heutige Veranstaltung war eine etwa halb so große Anzahl eingelassen worden, eine Mischung aus Wissenschaftlern, technischem Personal und Gelegenheitsbeschäftigten. Ari hatte seit Beginn der Quarantäne vier solche Vorlesungen organisiert, die durchweg gut besucht und freundlich aufgenommen worden waren. Es war sogar jemand mit einer Kamera da, der Liveaufnahmen für Blind-Lake-TV machte.
Wie zivilisiert wir uns betragen in unserem Käfig, dachte Marguerite. Wie leicht wir uns ablenken lassen von dem Wissen um die Leichen hinter dem Zaun.
Jetzt war der Vorhang aufgezogen, die Bühne beleuchtet, das Publikum eine schattenhafte Leerstelle, mehr zu ahnen als zu erkennen. Jetzt stellte Ari sie den Zuhörern vor. Jetzt, im seltsamen Zusammenschnurren der Zeit, das sie jedesmal erlebte, wenn sie vor Publikum sprach, stand Marguerite selbst am Rednerpult, dankte Ari, dankte den Leuten fürs Kommen, hantierte hektisch mit dem Programmaufruf an ihrem Pocket-Server.
»Die Frage …« Ihre Stimme kippte ins Falsett. Sie räusperte sich. »Die Frage, die ich heute stellen möchte, lautet: Hat uns der rigoros verfolgte dekonstruktive Ansatz in der Beobachtung der Leute auf UMa47/E womöglich in die Irre geführt?«
Das war trocken genug, um die Nichtfachleute im Publikum schlagartig schläfrig zu machen, aber sie registrierte, dass tiefes Stirnrunzeln sich auf einigen der vertrauten Gesichter aus der Interpretation breitmachte.
»Es ist eine bewusste Provokation, wenn ich mir gestatte, von den beobachteten Leuten zu sprechen. Von Beginn an haben die Projekte in Crossbank und Blind Lake angestrebt, sich von jeglichem Anthropozentrismus freizuhalten: der Versuchung zu widerstehen, einer anderen Spezies menschliche Charakteristika zu verleihen. Dies ist die Schwäche, die uns anfällig dafür macht, ein Pantherjunges als ›süß‹ oder einen Adler als ›stolz‹ zu bezeichnen, und eben dies tun wir, seit wir gelernt haben, auf zwei Beinen zu stehen. Wir leben jedoch in einem aufgeklärten Zeitalter, wir haben gelernt, andere Lebewesen als das zu sehen und wertzuschätzen, was sie sind, nicht als das, was wir in ihnen sehen möchten. Und die lange und ehrwürdige Geschichte der Wissenschaft hat uns zum Mindesten gelehrt, sorgfältig hinzusehen, bevor wir urteilen — zu urteilen, wenn wir denn urteilen müssen, auf der Grundlage dessen, was wir sehen, und nicht auf der Grundlage dessen, was wir gern glauben würden.
Und daher, so schärfen wir uns ein, sollte der Gegenstand unserer Forschungen auf 47 Ursa Majoris als bewohnen, als ›Geschöpfe‹ oder ›Organismen‹ bezeichnet werden, nicht als Leute. Wir dürfen keinerlei Vorannahmen über sie treffen. Wir dürfen unser analytisches Besteck nicht verunreinigen mit unseren Ängsten oder Wünschen, unseren Hoffnungen oder Träumen, unseren linguistischen Vorurteilen, unseren bourgeoisen Metaerzählungen oder dem kulturellen Ballast imaginierter Aliens. Mr. Spock bleibt vor der Tür, bitte schön, und H. G. Wells in der Bibliothek. Wenn wir eine Stadt sehen, dürfen wir sie nicht als Stadt bezeichnen, oder jedenfalls nur provisorisch, denn die Bezeichnung ›Stadt‹ impliziert Karthago und Rom, Berlin und Los Angeles, Produkte menschlicher Biologie, menschlichen Erfindungsgeistes und über viele tausend Jahre angesammelten menschlichen Sachverstands. Wir rufen uns in Erinnerung, dass die beobachtete Stadt vielleicht gar keine Stadt ist; vielleicht weist sie weit mehr Analogien zu einem Ameisenhügel, einem Termitenstock oder einem Korallenriff auf.«
Als sie kurz innehielt, konnte sie das Echo ihrer Stimme hören, ein tiefer, von der hinteren Wand des Saals zurückgeworfener Nachhall.
»Mit anderen Worten, wir geben uns die allergrößte Mühe, uns nichts vorzumachen. Und im Großen und Ganzen gelingt uns das recht gut. Die Barriere zwischen uns und den Bewohnern auf UMa47/E ist furchtbar offensichtlich. Die Anthropologie lehrt uns, dass Kultur ein Ensemble von gemeinsamen Symbolen ist, und wir haben überhaupt keine Symbole gemeinsam mit den Objekten unserer Forschungen. Omnis cultura ex cultura, und die beiden Kulturen sind, wie wir vermuten, so unvermischbar wie Öl und Wasser. Es gibt keine Überschneidung zwischen unserem und ihrem epigenetischen Verhalten.
Die Kehrseite dieser Einstellung ist, dass wir gezwungen sind, ganz neue Grundlagen festzulegen. Wir können zum Beispiel nicht über eine autochthone »Architektur« sprechen, da wir diesen scheinbar unschuldigen Begriff aller Pfeiler und Stützbalken menschlicher Vorsätze und menschlicher Ästhetik zu entkleiden hätten — ohne welche der Begriff ›Architektur‹ jedoch eine nicht tragfähige, instabile Konstruktion wird. Auch wagen wir nicht, von autochthoner ›Kunst‹ oder ›Arbeit‹, ›Freizeit‹ oder ›Wissenschaft‹ zu sprechen. Die Liste ist endlos, und was übrig bleibt, ist das reine, nackte Verhalten. Verhalten, das in allen Einzelheiten unter die Lupe zu nehmen und zu katalogisieren ist.
Wir sagen, das Subjekt bewegt sich hierhin oder dorthin, führt diese oder jene Tätigkeit aus, ist relativ langsam oder relativ schnell, wendet sich nach links oder rechts, isst dies und das, sofern wir an dem Wort ›isst‹ nicht Anstoß nehmen als einem schleichenden Anthropozentrismus und den Ausdruck ›zu sich nehmen‹ bevorzugen. Es meint haargenau das Gleiche, nimmt sich im schriftlichen Bericht aber besser aus. »Subjekt nahm einen Klumpen vegetabilischer Substanz zu sich.« Tatsächlich hat er eine Pflanze gegessen — Sie wissen es, ich weiß es, aber ein Fachrezensent in der Nature würde es nie durchgehen lassen.« Vorsichtiges Gelächter ließ sich vernehmen. Von hinten schnaubte Ray laut und spöttisch. »Wir überprüfen die Konnotationen eines jeden Wortes, das wir verwenden, mit dem kritischen Instinkt eines Zensors. Alles im Namen der Wissenschaft und oft mit gutem Grund.
Aber ich frage mich, ob wir uns damit nicht gleichzeitig auch blind stellen. Was in unserem Diskurs über die Völker von UMa47/E fehlt, und das möchte ich heute zu bedenken geben, ist das narrative Element.
Die Eingeborenen von UMa47/E sind keine Menschen, aber wir sind es, und Menschen interpretieren die Welt, indem sie Erzählungen entwickeln, die der Erklärung der Welt dienen. Die Tatsache, dass einige unserer Erzählungen naiv, von Wunschdenken geprägt oder schlichtweg falsch sind, entwertet nicht den Prozess als solchen. Wissenschaft ist schließlich im Kern eine Erzählung. Ein Anthropologe, oder auch eine Armee von Anthropologen, mag über Knochenfragmenten brüten und sie nach einem Dutzend oder meinetwegen hundert augenscheinlich trivialen Merkmalen katalogisieren, aber das unausgesprochene Ziel all seiner Arbeit ist eine Erzählung — eine Geschichte darüber, wie die Menschen sich aus der übrigen Fauna dieses Planeten entwickelt haben, eine Geschichte über unsere Ursprünge und unsere Vorfahren.
Oder denken Sie an das periodische System. Das periodische System ist ein Katalog, eine Liste der bekannten und möglichen Elemente, nach einem bestimmten organisierenden Prinzip geordnet. Es sieht aus wie statisches Wissen, von genau derselben Sorte, wie wir es über das Subjekt und seine Verwandten sammeln. Doch sogar das periodische System hat etwas Narratives, trägt eine Erzählung in sich. Das periodische System ist eine zentrale Aussage in der Geschichte über das Universum, der Endpunkt einer langen Erzählung über die Entstehung von Wasserstoff und Helium beim Urknall, über die Schaffung schwerer Elemente in Sternen, über die Beziehung von Elektronen zu Atomkernen, über den Atomkern und seinen Verfallsprozess und das Quantenverhalten subatomarer Partikel. Auch wir haben unseren Platz in dieser Erzählung. Wir sind zum Teil das Ergebnis von Kohlenstoffchemie in Wasser — eine weitere im periodischen System verborgene Erzählung —, und das Gleiche gilt, wie ich hinzufügen könnte, für die von uns beobachteten Leute auf UMa47/E.«
Sie machte eine Pause. Es stand ein Glas Eiswasser auf dem Rednerpult, Gott sei Dank. Marguerite nahm einen Schluck. Den Hintergrundgeräuschen nach zu urteilen hatte sie bereits einige im Flüsterton geführte Streitgespräche im Publikum ausgelöst.
»Erzählungen überschneiden sich und streben auseinander, gehen alte und neue Verbindungen ein. Um eine Erzählung verstehen zu können, ist es mitunter erforderlich, eine weitere, eine neue zu entwickeln. Entscheidend ist, dass wir mithilfe des Erzählens verstehen. Durch das Erzählen verstehen wir das Universum, und es ist offensichtlich, dass wir auch uns selbst erst durch Erzählungen verstehen. Ein Fremder mag undurchschaubar oder gar bedrohlich wirken, bis er uns seine Geschichte erzählt; bis er uns seinen Namen sagt, uns mitteilt, wo er herkommt und wo er hingeht. Dies könnte auch für die autochthonen Bewohner von UMa47/E zutreffen. Es würde mich nicht überraschen, wenn auch sie, auf ihre Art, Erzählungen schaffen und austauschen. Möglich auch, dass sie es nicht tun; möglich, dass sie eine andere Methode haben, Wissen zu organisieren und zu verbreiten. Aber ich garantiere Ihnen, dass wir sie nicht verstehen werden, solange wir darauf verzichten, uns Geschichten über sie zu erzählen.«
Sie konnte jetzt mehr Gesichter im Publikum sehen. Da war Chris, in der Mittelreihe, der ihr ermunternd zunickte. Elaine Coster saß neben ihm, dann kam Sebastian Vogel. Sie nahm an, dass sie alle ihren Server in der Hand hatten, für den Fall, dass Ray unerwartet zur Plaza stürmte.
Und unten in der ersten Reihe saß Tess, aufmerksam zuhörend. Ray musste sie mitgebracht haben. Marguerite lächelte in Richtung ihrer Tochter.
»Wir sind Wissenschaftler, natürlich. Wir haben unsere eigene Bezeichnung für eine tastende, vorläufige Erzählung: Wir sagen Hypothese dazu, und wir überprüfen sie durch Beobachtung und Experimente. Und selbstverständlich kann eine jede Hypothese, die wir in Bezug auf die Eingeborenen entwickeln, nur sehr, sehr vorläufig sein. Eine erste Annäherung, eine begründete Vermutung, vielleicht gar ein Schuss ins Blaue.
Dennoch bin ich der Ansicht, dass wir bisher mit solchen Vermutungen viel zu zurückhaltend gewesen sind. Ich glaube, das liegt daran, dass die Fragen, die wir stellen müssen, um unsere Erzählung zu erschaffen, ausgesprochen beunruhigend sind. Eine jede vernunftbegabte Spezies, auf die wir treffen — und zum ersten Mal in der Geschichte sehen wir eine andere Gattung, die wir mit der unseren vergleichen können —, wird sich auf ihre Biologie gründen. Ein Teil ihres Verhaltens wird, mit anderen Worten, auf ihre genetische Geschichte zurückzuführen sein. Wenn nun aber diese Gattung wirklich mit Vernunft, mit Intelligenz begabt ist, dann wird ein Teil ihres Verhaltens auch willkürlich sein, wird flexibel, wird innovativ sein. Womit nicht gesagt sein soll, dass es sich um eine unfehlbar rationale Gattung handeln muss. Vielleicht ganz im Gegenteil.
Und hier steckt meines Erachtens die grundlegende Frage, der wir bislang lieber aus dem Weg gegangen sind. Wir hegen allerlei strenge Glaubenssätze über uns selbst. Ein Theologe würde vielleicht sagen, wir seien eine Gott suchende Spezies. Ein Biologe würde sagen, wir seien eine zu hochkomplexen Handlungen fähige Einheit von miteinander zusammenhängenden physiologischen Funktionen. Ein Marxist würde sagen, wir seien Teilnehmer eines Dialoges zwischen der Geschichte und der Ökonomie. Ein Philosoph würde sagen, wir seien das Ergebnis der durch DNA geleiteten Aneignung der Mathematik neu entstehender Eigenschaften in semistabilen chaotischen Systemen. Wir verstehen diese Glaubenssätze so, dass sie sich gegenseitig ausschließen, und wir hängen ihnen, je nach persönlicher Neigung, mit religiöser Inbrunst an.
Ich vermute jedoch, dass sich all diese Beschreibungen in Bezug auf die Eingeborenen von UMa47/E als zwar einerseits nützlich, aber andererseits auch unzureichend erweisen werden. Wir werden zu einer neuen Definition der ›vernunftbegabten Spezies‹ gelangen müssen, einer Definition, die uns und die Eingeborenen umgreift. Und eben dem, scheint mir, sind wir bisher aus dem Weg gegangen.«
Noch ein Schluck Wasser. War sie zu dicht am Mikrofon dran? In den hinteren Reihen klang es wahrscheinlich so, als würde sie gurgeln.
»Alles, was wir über die Eingeborenen sagen, impliziert eine neue Perspektive auf uns selbst. Wir werden sie im Vergleich zu uns als mehr oder weniger mutig beurteilen, mehr oder weniger sanft, mehr oder weniger kriegerisch, mehr oder weniger leidenschaftlich — letzten Endes vielleicht als mehr oder weniger geistig gesund.
Wir werden, mit anderen Worten, unter Umständen gezwungen sein, Schlussfolgerungen über sie, und in der Folge auch über uns, zu ziehen, die uns nicht gefallen.
Aber wir sind Wissenschaftler, und als solche dürfen wir vor diesen Problemen nicht zurückschrecken. Als Wissenschaftlerin vertrete ich die Überzeugung — ich bin versucht zu sagen: den Glauben —, dass Verstehen besser ist als Unwissenheit. Unwissenheit ist, anders als das Leben, anders als die Erzählung, statisch. Verstehen impliziert eine Bewegung nach vorn und damit die Möglichkeit der Veränderung.
Das ist der Grund, warum es so wichtig ist, den Fokus weiterhin auf das Subjekt zu richten.« Solange wir's noch können, fügte sie im Stillen hinzu. »Noch vor wenigen Monaten konnte man mit guten Gründen behaupten, dass das Leben des Subjekts einem monotonen, sich stets wiederholenden Programm folgte, über das wir alles in Erfahrung gebracht hätten, was sich in Erfahrung bringen lässt. Die jüngsten Ereignisse haben diese Behauptung widerlegt. Das Leben des Subjekts, dessen Struktur wir für rein zyklisch gehalten hatten, ist in hohem Maße narrativ geworden, zu einer Erzählung, die wir vielleicht bis zu ihrem Abschluss verfolgen und aus der wir mit Sicherheit eine Menge lernen können.
Wir haben bereits eine Menge gelernt. Zum Beispiel haben wir die Ruinen von 33/28 gesehen, eine verlassene Stadt — wenn ich dieses Wort gebrauchen darf —, die offenbar älter ist als die Heimatstadt des Subjekts und sehr verschieden in der Bauweise. Und auch darin deutet sich eine Erzählung an. Es deutet daraufhin, dass die architektonischen Grundsätze der Eingeborenen flexibel sind; dass sie Wissen erworben und angesammelt haben, das sie unterschiedlichen Zwecken entsprechend anwenden.
Es deutet, kurz gesagt und sofern noch Zweifel bestehen, darauf hin, dass die Eingeborenen in der Tat Leute sind — Wesen, die den Menschen intellektuell und moralisch ähnlich sind — und dass die aussichtsreichste Möglichkeit, ihre Erzählung zu verstehen, darin liegt, sie auf unsere eigene zu beziehen. Auch wenn der Vergleich nicht in jedem Fall schmeichelhaft für uns ausfallen mag.«
Das war ihr großes Schlusswort. Ihre herausfordernde, aufmüpfige These. Das Problem war nur, dass sich niemand so ganz sicher zu sein schien, ob sie tatsächlich zum Schluss gekommen war. Sie räusperte sich erneut und sagte: »Das war's, danke sehr«, und kehrte zu ihrem Stuhl zurück. Beifall erhob sich hinter ihr. Er klang höflich, wenn auch nicht gerade überschäumend vor Begeisterung.
Ari ging ans Rednerpult, dankte ihr und kündigte Ray an.
Sue Sampel saß zwanzig Minuten lang an ihrem Schreibtisch im Vorzimmer von Rays Büro und vermittelte den in die Wand eingelassenen Videomonitoren einen schwer beschäftigten Eindruck.
Sie hatte sich ein wenig Arbeit zurückgelegt, um ihre Anwesenheit plausibel erscheinen zu lassen. Nicht, dass es sonderlich viel Arbeit, die diesen Namen verdiente, wirklich gegeben hätte. Diese Berichte waren ja doch ein schlechter Witz: Berichte nämlich, die die tagtäglichen Banalitäten der Betriebsorganisation in Blind Lake dokumentieren sollten und auf deren Verfertigung Ray gesteigerten Wert legte. Diese Berichte hatten keinen anderen Adressaten als einen Ordner mit der Kennzeichnung ZURÜCKGESTELLT — bis wann zurückgestellt, bis zum Ende der Welt? —, aber sie konnten als Alibi dienen für den Fall, dass irgendwann die Frage gestellt würde, was Ray während der Abriegelung getrieben hatte. Sie hatte den Eindruck, dass Ray viel Zeit darauf verwendete, sich für derartige Fragen zu wappnen.
Sie behielt ihre Desktop-Uhr im Auge. Um halb zwei begann sie sehr auffällig in Papieren und Dateien zu stöbern, als vermisse sie irgendetwas. Und müsse daher in Rays Büro gehen, um es dort zu suchen. Es kam ihr lächerlich unrealistisch vor, wie eine Schüleraufführung.
Oder ein schlechter Film. Und in diesem Film, dachte Sue, wäre dies der Zeitpunkt, wo plötzlich jemand hereinspaziert käme und sie überraschte … wahrscheinlich Schulgin, oder sogar Ray selbst, Ray mit einer Pistole in der Hand …
»Sue?«
Sie biss sich auf die Zunge, dann brachte sie ein »Aua!« zustande, das unter Umständen entfernte Ähnlichkeit mit einem »Hallo« besaß.
Es war nicht Ray. Es war Gretchen Krueger, die unten im Archiv arbeitete.
»Hätte nicht gedacht, dass du heute im Büro bist«, sagte Gretchen. »Ich wollte nur gerade ein paar ältere Ausgaben des JAE einsammeln und hab gesehen, dass deine Tür offen ist. Ist Ray auch da?«
»Nein. Ich muss hier nur kurz was fertigmachen. Nur fehlt mir dummerweise andauernd irgendwelches Zeug.« Das Alibi noch ein bisschen fester zurren.
»Wenn ich hier fertig bin, treffe ich mich im Sawyer's mit Jamal und Karen. Möchtest du nicht auch kommen? Wir würden uns freuen.«
»Danke, aber was ich heute Nachmittag brauche, ist eine Dusche und ein Schläfchen, und sonst gar nichts.«
»Das Gefühl kenne ich.«
»Amüsiert euch trotzdem, Gretch.«
»Alles klar. Mach dir keinen Stress, Sue. Du siehst müde aus.«
Gretchen schlenderte durch den Flur davon und Sue begann erneut, all ihren Mut für den Überfall auf Rays Bürozimmer zusammenzunehmen. Zuerst aber zog sie die Tür zum Flur ganz zu. Ihre Hand zitterte, stellte sie fest.
Dann hinein in Rays Allerheiligstes und aus dem Blick der Überwachungskameras.
Zuerst zog sie einen Aktenordner aus dem Wandregal — irgendeinen Ordner, ganz egal, Hauptsache, sie hatte etwas unverfänglich Aussehendes, das sie wieder nach draußen tragen konnte. Dann ging sie zu seinem Schreibtisch, steckte ihren Schlüssel ins Hauptschloss und öffnete nacheinander alle fünf Schubladen.
Die Ausdrucke waren in der unteren linken Schublade gestapelt, wo er die DingDongs aufbewahrt hatte, bevor sie ausgegangen waren. Wie sie Ray kannte, hatte er wahrscheinlich die Krümel mit dem Staubsauger entfernt. Jetzt hatte er schon eine ganze Weile keine DingDongs mehr gehabt. Er musste schwer auf Entzug sein.
Sie nahm den ersten Bogen zur Hand.
Von: Bo Xiang, Crossbank National Laboratory
An: Avery Fishbinder, Blind Lake National Laboratory
Text: Hi, Ave. Wie versprochen, hier ein bisschen Vorabinfo zu dem Material, das wir auf der diesjährigen Konferenz präsentieren werden. Tut mir leid, wenn ich mich nicht klarer äußern kann (ich weiß, dass Sie nicht überrumpelt werden möchten), aber uns wurde eingeschärft, uns hierüber bedeckt zu halten, bis es offiziell gemacht wird. Um es kurz zu fassen: Wir haben Hinweise auf eine untergegangene intelligente Zivilisation auf HR8832/B gefunden. Screenshots werden noch folgen, aber in der nördlichen Hemisphäre gibt es eine Region voller Basalterhebungen, mit sehr flachem Wasser und einigen exponierten Inseln, unterscheidet sich oberflächlich nicht von Hunderten solcher Sumpfgebiete, birgt aber Überreste von offensichtlich sehr anspruchsvoll konstruierten Gebäuden, darunter ein typisches Verbindungsstück oder jedenfalls ein architektonischer Verweis auf die über den Äquator verstreuten »Korallenschwimmer«. Sind uns noch nicht schlüssig, wie das mit dem Fehlen beweglicher Fauna unter einen Hut zu bringen ist: Gossard stellt ein lange zurückliegendes Massenaussterben zur Debatte …
Um Gottes willen, schalt sich Sue, du sollst es nicht lesen. Sie warf einen verstohlenen Blick zur Tür. Sie war allein, aber das konnte sich jederzeit ändern.
Sie zog ihren Server aus der Tasche, stellte ihre heimische Schnittstelle ein und aktivierte die Scan-Funktion. Der Server war ein Modell im Bleistiftstil, exakt genauso breit wie die Standardpapiergröße. Sue fuhr mit der fotoempfindlichen Seite über das Dokument, bis per Piepton eine vollständige Übertragung angezeigt wurde. Dann der nächste Bogen. Und der nächste. Es waren eine Menge Papiere. Sie sah auf die Uhr. Es war fast zwei. Sie würde vielleicht noch zwanzig Minuten brauchen. Oder länger.
Beruhige dich, wies sie sich an und scannte den nächsten Ausdruck.
Von seinem Platz am Rande des Gangs beobachtete Chris, wie Ray sich erhob und ans Rednerpult trat.
Chris hatte das Gefühl, es sei wichtig, dass er den Mann richtig einschätzte. Es gab tausend Möglichkeiten, wie er in eine weitere Konfrontation mit Ray Scutter geraten konnte. Falls es dazu kam, wollte er die Sache nicht verbocken. Und es gab tausend Möglichkeiten, die Sache zu verbocken.
Ray sah heute ziemlich geschniegelt aus. Er lächelte ins Publikum und nahm das Rednerpult mit einer Unbefangenheit ein, die Marguerite nicht hatte aufbringen können. Dies war der »Charme«, von dem sie gesprochen hatte, und vielleicht war es auch das, was sie zuerst in ihm gesehen hatte, als sie sich kennenlernten — ein einnehmendes Grinsen und ein paar wohlklingende Worte. Ray begann.
»Ich werde hier gleich von meinem vorbereiteten Text abweichen — und ich weiß, wir sollten uns kurz fassen, Ari; ich verspreche auch, dass ich mein Bestes tun werde —, um zu einigen Bemerkungen meiner Vorrednerin Stellung zu nehmen.«
Marguerite wand sich sichtlich auf ihrem Stuhl, obwohl sie mit dergleichen hätte rechnen müssen.
»Zu den Dingen, die wir als Wissenschaftler im Blick behalten müssen«, sagte Ray, »gehört die Einsicht, dass die äußere Erscheinung trügerisch sein kann. Wir haben über die O/BEK-Anlage gesprochen, als handele es sich um ein herausragend gutes optisches Teleskop. Ich möchte aber daran erinnern, dass dem nicht so ist. Ganz grundsätzlich gesprochen ist das Auge ein Quantencomputer, der dem Zweck der Bilderzeugung dient. Wir nehmen an oder setzen voraus, dass die von ihm generierten Bilder vergangene Ereignisse auf einem fernen Planeten exakt wiedergeben. Dies mag zutreffen. Vielleicht aber auch nicht. Falls er tatsächlich echte Information erlangt, wissen wir nicht, wie er das macht. Die Bilder, die er erzeugt, sind im Einklang mit unserem realen Wissen über die Größe und die Atmosphäre von UMa47/E und seinem Abstand zum Zentralgestirn. Darüber hinaus haben wir jedoch keine Möglichkeit, das zu verifizieren, was das Auge zu sehen behauptet. Bevor wir seine Wirkungsweise nicht besser reproduzieren und verstehen können, muss unsere Annahme, dass wir reale Ereignisse sehen, unter Vorbehalt stehen.
Und wenn wir uns mit Schlussfolgerungen zurückhalten, so geschieht dies nicht, weil wir uns nicht trauen würden, solche zu ziehen, sondern darum, weil wir uns nicht täuschen lassen wollen. Aus diesem Grund — und vielen anderen — glaube ich, dass unser strenger Fokus auf das Subjekt und seine Kultur verfehlt und auf verheerende Weise voreilig war.
Im Widerspruch zu meiner Vorrednerin möchte ich das Publikum daran erinnern, dass wir Menschen uns seit jeher Geschichten über außerirdisches Leben ausgedacht haben — o Pardon, ›Erzählungen erschaffen‹ haben, meinte ich. Ob dies eher für Genie oder aber für Narretei spricht, wäre eine interessante Frage. Im Namen der Wissenschaft wurden wir einst von Percival Lowell aufgefordert zu glauben, dass der Mars über Kanäle und eine Zivilisation verfüge. Dieser Irrglaube wurde von der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts widerlegt, nur um bald darauf von einer wunschgeleiteten und letztlich falsifizierten Entdeckung fossiler Bakterien in einem marsianischen Meteoriten ersetzt zu werden. Eingehendere Untersuchungen haben ergeben, dass der Mars keinerlei Leben trägt. Auch die von vielen beschworenen Mikroben, die angeblich auf dem Jupitermond Europa die Unterwasserschicht aus lauwarmen Schlamm bevölkern sollten, haben sich als Illusion erwiesen. Es scheint, als würde uns unsere Phantasie immer wieder überholen. Sie folgt der Intuition, eilt in Sprüngen voraus, sieht, was sie sehen will, aber ein Manifest für die Vorstellungskraft ist nicht unbedingt das, was wir brauchen, schon gar nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt.«
Er seufzte theatralisch.
»Nachdem dies gesagt ist — und ich meine, es musste gesagt werden —, möchte ich mich einem drängenderen Problem zuwenden, das für uns alle hier am Lake von besonderer Bedeutung ist.
Es muss nicht eigens hervorgehoben werden, dass die Abriegelung, die von einigen als die Quarantäne bezeichnet wird, ein beispielloses Ereignis ist, das zu verstehen wir alle die größte Mühe haben. Quarantäne ist, wie ich meine, ein treffender Ausdruck. Ich glaube, es ist inzwischen offenkundig, dass wir hier eingesperrt sind, nicht zu unserem eigenen Besten, sondern zum Schutz der Menschen draußen.
Und dennoch klingt es absurd, lächerlich. Was soll es denn hier in Blind Lake geben, das als eine Bedrohung angesehen werden könnte?
Ja, was? Einige haben vermutet, dass die Bilder selbst, die wir studieren, vielleicht gefährlich seien, dass sie womöglich einen steganografischen Code oder eine verborgene Botschaft anderer Art enthalten, die den menschlichen Geist zerstören könnte. Aber wir haben nichts gesehen, was für diese Annahme spricht … sofern Sie nicht die panegyrischen Ausführungen meiner Vorrednerin als bestätigenden Hinweis anführen möchten.« Ray grinste schief, als habe er etwas ziemlich Freches, aber auch ungeheuer Cleveres gesagt, und aus dem Publikum kam vereinzelt unbehagliches Gelächter. Er nahm einen Schluck Wasser und fuhr fort: »Nein, ich glaube, wir sollten unseren Verdacht auf den Prozess selbst richten — auf den O/BEK-Mechanismus.
Könnte an den O/BEK-Zylindern etwas gefährlich sein? Wir haben kaum genug Kenntnisse, um diese Frage zu beantworten. Was wir wissen, ist, dass die O/BEK-Prozessoren neuartige, sehr leistungsfähige Quantencomputer sind und wir sie benutzen, um selbstentwickelnden, sich eigenständig reproduzierenden Code laufen zu lassen.
Schon diese bloßen Worte sollten Alarm bei uns auslösen. In allen anderen Fällen, wo wir selbstreproduzierende evolutionäre Systeme nutzbar zu machen versucht haben, waren wir gezwungen, mit äußerster Vorsicht zu verfahren. Ich denke an die letztjährige Beinahekatastrophe im Nanotech-Labor am MIT — wir alle wissen, dass das sehr viel schlimmer hätte ausgehen können — oder die neuartigen Reisvarietäten, die Anfang der zwanziger Jahre eine Unmenge von tödlich verlaufenden Histaminreaktionen verursacht haben.«
Elaine kritzelte eifrig auf einem Notizblock mit. Sebastian Vogel saß in einer Haltung ruhiger Aufmerksamkeit da wie ein bärtiger Buddha.
»Der naheliegende Einwand lautet, dass es bei diesen Vorfällen um ›reale‹ selbstreproduzierende Systeme in der ›realen‹ Welt ging, nicht um Code in einem Rechner. Aber dieser Einwand greift zu kurz. Das virtuelle O/BEK-Ökosystem mag eingegrenzt sein, aber es ist effektiv riesig. An einem einzigen Tag werden buchstäblich Milliarden Generationen von Algorithmen iteriert und dienstbar gemacht. Von Zeit zu Zeit selektieren wir sie nach den Ergebnissen, die wir uns wünschen, aber sie vermehren sich immerfort. Weil wir ihnen einschränkende Bedingungen einschreiben, gehen wir davon aus, dass wir gottgleiche Macht über unsere Schöpfungen hätten. Dem ist vielleicht gar nicht so.
Nun haben wir natürlich noch nie einen Forscher verloren, der hinterrücks von einem Algorithmus überfallen wurde.« Weiteres Gelächter; die Laien im Publikum schienen sich zu amüsieren, während die Leute aus der Beobachtung und Interpretation argwöhnische Zurückhaltung übten. »Und das ist es auch nicht, worauf ich hinauswill. Aber es liegen Hinweise vor — über die ich derzeit noch nichts Näheres sagen darf —, dass die Anlage in Crossbank stillgelegt worden ist, wenige Stunden bevor die Quarantäne über Blind Lake verhängt wurde, und dass dort in der Tat etwas Gefährliches geschehen ist, möglicherweise im Zusammenhang mit ihrer O/BEK-Apparatur.«
Das war eine Neuigkeit. Überall auf den Zuhörerrängen horchten die Leute buchstäblich auf. Chris sah Elaine an, die aber die Achseln zuckte: Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Ray dieses Thema anschneiden würde. Vielleicht hatte Ray gar nicht die Absicht gehabt, es zu tun. Er hantierte mit seinen Unterlagen und schien vorübergehend selbst verblüfft zu sein.
»Die entsprechenden Untersuchungen sind natürlich noch nicht abgeschlossen …«
Er legte seine vorbereitete Rede beiseite.
»Lassen Sie mich aber noch einmal kurz auf die Behauptungen meiner Vorrednerin zurückkommen …«
»Er improvisiert«, flüsterte Elaine. »Marguerite muss irgendwie einen wunden Punkt erwischt haben. Oder er hat sich ein paar Drinks genehmigt, bevor er hier aufgetaucht ist.«
»Wenn ich mich recht entsinne … ich glaube, es war Goethe, der schrieb, dass die Natur die Illusion liebt. ›Sie freut sich an der Illusion. Wer diese in sich und andern zerstört, den straft sie als der strengste Tyrann.‹ Wir sprechen leichtfertig über ›intelligente‹ Spezies, als wäre ›Intelligenz‹ ein simples, problemlos zu quantifizierendes Attribut. Das ist sie natürlich nicht. Wir nehmen unsere eigene Intelligenz verzerrt und selbstbezogen wahr. Wir stellen uns den anderen Primaten gegenüber, als wären wir rationale Wesen, sie dagegen allein von tierischen Instinkten geleitet. Aber der Affe zum Beispiel verhält sich absolut rational: Er sucht nach Nahrung, er isst, wenn er Hunger hat, er schläft, wenn er müde ist, er paart sich, wenn der Trieb ihn dazu drängt und die Gelegenheit sich bietet. Ein philosophisch veranlagter Affe könnte gut und gern die Frage stellen, welche Spezies wirklich der Vernunft gehorcht.
Er könnte fragen: ›Wann sind wir uns am ähnlichsten, Mensch und Affe?‹ Nicht wenn wir essen oder schlafen oder defäkieren, denn das tun alle Tiere. Der Mensch zeigt seine Einzigartigkeit, wenn er raffinierte Werkzeuge herstellt, Opern komponiert, aus weltanschaulichen Gründen Krieg führt oder Roboter zum Mars schickt — all dies tun nur die Menschen. Wir Menschen malen uns unsere Zukunft aus und denken über unsere Vergangenheit nach, die persönliche wie die kollektive. Aber wann blickt der Affe auf die Ereignisse des Tages zurück oder stellt sich eine vollkommen andere Zukunft vor? Die offensichtliche Antwort ist: wenn er träumt.«
Chris beobachtete Marguerite auf der Bühne. Sie schien ebenso verblüfft wie alle anderen. Ray bewegte sich inzwischen fern jeden Konzeptes, aber er hatte sich in ein Szenario gestürzt, das eine offenbar unwiderstehliche Eigendynamik entfaltete.
»Wenn er träumt, wenn der Affe träumt. Im Schlaf räsonniert er nicht, aber er träumt die Träume, die das vernünftige Denken erst ermöglichen. Im Traum stellt sich der Affe vor, dass er gejagt wird oder selber jagt, dass er satt ist oder hungrig, ängstlich oder in Sicherheit. In Wirklichkeit trifft nichts von all dem zu. Er agiert oder verhungert in einer fragmentarischen Modellwelt, die ganz seiner eigenen Projektion entspringt. Wie menschlich! Wie vollkommen menschlich! Ihr, könnte dieser Affenphilosoph sagen, seid die Hominiden, die bei Tageslicht träumen. Ihr lebt nicht in der Welt. Ihr lebt in eurem Traum von der Welt.
Das Träumen durchdringt unsere Existenz. Unsere frühesten Vorfahren lernten den Speer nicht auf das rennende Tier zu werfen, sondern auf den Punkt, wo das rennende Tier sich befinden würde, wenn der Speer mit einer bestimmten Geschwindigkeit durch die Luft geflogen war. Unsere Vorfahren sind darauf nicht durch Rechnen verfallen, sondern durch ihre Vorstellungskraft. Durch das Träumen, anders gesagt. Wir träumen die Zukunft des Tieres und werfen den Speer auf den Traum. Wir träumen Bilder aus der Vergangenheit und benutzen sie, um unsere zukünftigen Handlungen zu entwerfen und zu überdenken. Und als evolutionäres Strategem war unser Träumen ein voller Erfolg. Als Spezies haben wir uns aus der Sackgasse der Instinkte herausgeträumt in ein ganz neues Universum unerforschter Verhaltensweisen.
So nachhaltig haben wir das vollbracht, möchte ich behaupten, dass wir diese grundlegende Wahrheit vergessen haben, die Tatsache nämlich, dass wir träumen. Wir verwechseln den Traum mit der Vernunft. Aber der Affe ist auch vernünftig. Was der Affe allerdings niemals tun wird, ist, Ideologien zu träumen, Terrorismus zu träumen, rachsüchtige Götter zu träumen, Sklaverei zu träumen, Gaskammern zu träumen, tödliche Heilmittel für traumartige Probleme zu träumen. Träume sind für gewöhnlich Albträume.«
Das Publikum wusste nicht mehr, woran es war. Ray schien das inzwischen egal zu sein. Er sprach jetzt nur noch mit sich selbst, jagte einer Idee nach durch ein Labyrinth, das nur er sehen konnte.
»Aber es sind Träume, aus denen wir, als Gattung, nicht erwachen können. Unsere Träume sind die Träume, an denen die Natur sich freut. Unsere Träume sind epigenetisch und sie haben unserem Genom bemerkenswert gut gedient. In wenigen Hunderttausenden von Jahren sind wir von einer lokal beschränkten hominiden Subspezies zu einer den Planeten beherrschenden Population von knapp zehn Milliarden Individuen aufgestiegen. Solange wir in den Grenzen unserer Tageslichtträume denken, belohnt uns die Natur. Würden wir so schlicht und geradeheraus denken wie die Affen, wären wir auch nur so zahlreich wie die Affen.
Aber jetzt haben wir etwas Neues gemacht. Wir haben Maschinen gebaut, die träumen. Die Bilder, die der O/BEK-Apparat erzeugt, sind Träume. Sie gründen, sagen wir uns, in der realen Welt, aber es sind keine teleskopischen Bilder in einem wie auch immer verstandenen traditionellen Sinne. Wenn wir durch ein Teleskop blicken, sehen wir mit dem menschlichen Auge und interpretieren mit dem menschlichen Verstand. Wenn wir ein O/BEK-Bild betrachten, sehen wir, was eine träumende Maschine zu träumen gelernt hat.
Womit nicht gesagt sein soll, dass die Bilder wertlos seien! Sondern nur, dass wir sie nicht für bare Münze nehmen können. Und wir müssen uns eine weitere Frage stellen. Wenn unsere Maschine wirkungsvoller träumen kann als ein Mensch, wozu könnte sie dann außerdem imstande sein? Welche anderen Träume mag sie noch hegen, mit oder ohne unser Wissen?
Die Organismen, die wir beobachten, sind vielleicht nicht die Bewohner eines felsigen Planeten, der den Stern Ursa Majoris 47 umkreist. Die fremde Spezies, das sind vielleicht die O/BEK-Apparate selbst. Und das Schlimmste … das Allerschlimmste …«
Er brach ab, griff zu seinem Wasserglas und leerte es mit einem Zug. Sein Gesicht war gerötet.
»Ich meine, wie erwacht man aus einem Traum, der das eigene Bewusstsein ermöglicht? Indem man stirbt. Nur indem man stirbt. Und wenn die O/BEK-Wesenheit — so wollen wir sie nennen — zu einer Gefahr für uns geworden ist, dann … müssen wir sie vielleicht töten.«
Von irgendwo weit vorn rief eine dünne Stimme: »Das kannst du nicht tun!«
Eine Kinderstimme. Chris identifizierte Tess, die jetzt unmittelbar vor der Bühne stand.
Ray blickte in sichtlicher Verwirrung nach unten. Er schien sie zunächst nicht zu erkennen. Dann aber bedeutete er ihr, sich wieder hinzusetzen, und sagte: »Tut mir leid. Verzeihen Sie. Ich entschuldige mich für die Störung. Aber wir können es uns nicht leisten, sentimental zu sein. Unser aller Leben steht auf dem Spiel. Wir sind vielleicht — als Gattung, sind wir vielleicht …« Er wischte sich mit der Hand über die Stirn. Der wahre Ray hatte sich ans Licht gekämpft, dachte Chris, und dieser wahre Ray war kein erfreulicher Anblick. »Wir mögen unkontrollierte Traummaschinen sein, imstande, immense Schäden anzurichten, aber wir sind unserem Genom zu Loyalität verpflichtet. Unser Genom ist es, was aus dem Wertlosen einen erträglichen Traum macht, aus der unerbittlich präzisen Mathematik des Universums, das wir bewohnen … Was würden wir sehen, wenn wir wirklich wach wären? Ein Universum, das den Tod sehr viel mehr liebt als das Leben. Es wäre töricht, wahrhaft töricht, unser Primat an einen dahergelaufenen Zahlensatz abzugeben, irgendein nichtlineares dissipatives System, das unserer Lebensweise fremd ist …«
Dass einer lächeln kann und immer lächeln, und doch ein Schurke sein, hatte Shakespeare gesagt. Chris begriff es jetzt. Es war eine Lektion, die er vor langer Zeit hätte lernen sollen. Hätte er sie früh genug gelernt, würde seine Schwester Portia vielleicht noch leben.
»Hör auf, so zu reden!«, kreischte Tess.
In diesem Moment schien Ray zu erwachen, schien zu begreifen, dass er etwas Seltsames getan, sich vor Publikum in eine peinliche Lage gebracht hatte. Sein Gesicht war ziegelrot.
»Was ich sagen will …«
Das Schweigen zog sich hin. Unter den Zuhörern erhob sich Gemurmel.
»Was ich sagen …«
Ari Weingart machte einen zögernden Schritt vom Bühnenrand in die Mitte.
»Entschuldigen Sie«, sagte Ray. »Ich bitte um Verzeihung, falls ich irgendetwas gesagt habe … falls ich mich missverständlich … Diese Versammlung …«
Er wedelte mit der Hand, schlug dabei das leere Wasserglas vom Rednerpult. Es zerschellte spektakulär auf den Bühnenbrettern.
»Diese Versammlung ist zu Ende«, knurrte Ray ins Mikrofon. »Sie können alle nach Hause gehen.«
Er stakste hinter die Kulissen. Sebastian Vogel begann aufgeregt in seinen Pocket-Server zu flüstern. Marguerite kletterte von der Bühne und lief zu ihrer Tochter, um sie zu trösten.
Sue Sampel hatte soeben die Ausdrucke in ihre ursprüngliche Reihenfolge zurückgeordnet, als ihr Server klingelte.
Das eigentlich eher leise Geräusch nahm sich in der Stille von Rays Büro geradezu dröhnend aus. Sie fuhr zusammen, der halbe Papierstapel glitt ihr aus den Händen und verstreute sich über den Boden.
»Scheiße!«, sagte sie, dann kramte sie ihr Klapptelefon aus der Tasche. »Ja?«
Es war Sebastian. Ray habe die Bühne verlassen, sagte er. Schwer angefressen offenbar. Kaum vorherzusagen, wo er hinwolle.
»Danke«, sagte Sue. »Hol mich draußen vor dem Eingang ab, in fünf Minuten.« Sie sammelte die Papierbögen wieder ein — sie hatten sich in einem breiten Kreis verstreut, einige waren auch unter den Schreibtisch gerutscht — und brachte sie in eine grobe Annäherung von Ordnung. Keine Zeit mehr, größere Sorgfalt walten zu lassen. Auch wenn nicht unbedingt damit zu rechnen war, dass Ray im nächsten Moment durch die Tür gestürmt kam, waren ihre Nerven bis zum Äußersten gespannt. Sie schloss den Ordner in Rays Schreibtischschublade ein, verließ sein Büro, packte die Sachen zusammen, die sie auf ihren eigenen Schreibtisch gelegt hatte, eilte dann hinaus in den Flur und machte die Tür hinter sich zu.
Die Fahrt im Fahrstuhl dauerte ungefähr eine Ewigkeit, aber die Eingangshalle war leer, als sie endlich ankam, und Sebastian war bereits draußen vorgefahren. Sie hechtete ins Auto und sagte: »Schnell, fahr los!«
Der Wind hatte seit dem Morgen zugenommen. Auf den weiten Wiesen zwischen der Stadt Blind Lake und den Kühltürmen von Eyeball Alley fiel frischer Schnee.
Ray verließ das Auditorium ohne bestimmtes Ziel, saugte erst einmal die in Böen heranwehende bitterkalte Luft ein, nachdem die Türen sich hinter ihm geschlossen hatten. Klarheit gegen Schmerz eintauschen.
Auf der Bühne hatte er einen Fehler gemacht. Nein, schlimmer noch. Er hatte sich vollkommen vergaloppiert. Diese lächerliche Abschweifung über Affen und Menschen.
Nicht dass die Gedanken nicht stichhaltig gewesen wären. Aber die Vortragsweise war zu selbstversunken, fast manisch gewesen.
Zum Teil war das auch Marguerites Schuld. Diese fromme kleine Rede von ihr hatte nach Richtigstellung verlangt. Aber er hätte nicht nach dem Köder schnappen sollen. Ray war normalerweise immer imstande, ein Publikum in seinen Bann zu schlagen, und es schmerzte ihn, dass er diesmal so völlig die Kontrolle verloren hatte. Muss am Stress liegen, dachte er.
Stress, Frustration, eine ansteckende Verrücktheit. Ray hatte die Ausdrucke aus Crossbank sehr genau gelesen und seine Diagnose lautete: Wahnsinn als übertragbare Krankheit. Hier in Blind Lake konnte es natürlich auch jederzeit anfangen; hatte vielleicht sogar schon angefangen; es war kein Scherz gewesen, als er Marguerites Rede als Symptom bezeichnet hatte.
Schneeflocken schlängelten sich durchs Einkaufszentrum, wanden sich im Wind. Ray hatte seine Jacke hinter der Bühne im Gemeindezentrum liegen lassen, aber noch einmal zurückzugehen, um sie zu holen, kam nicht infrage. Ray beschloss, einen halben Block weiter in seinem Büro Schutz zu suchen, ein paar Telefonate zu führen, eine Schadensabwägung vorzunehmen, herauszufinden, wie tief er sich in die Scheiße geritten hatte durch diesen Anfall auf offener Bühne. Irregeleitete Gedanken vagabundierten noch immer in seinem Kopf herum. Tageslichtträume.
Er durchquerte die Eingangshalle der Plaza und nahm einen leeren Fahrstuhl hinauf in den sechsten Stock. Auf der Fahrt schmolz der Schnee in seinen Haaren zu Perlen. Ihm war schwindlig, nachgerade übel. In seinen Ohren vibrierte ein summendes, nicht enden wollendes Geräusch. Okay, er hatte sich zum Affen gemacht, aber kam es darauf langfristig, oder sogar auch kurzfristig, überhaupt noch an? Falls niemand lebend aus Blind Lake herauskam (und er hielt das für eine reale Möglichkeit), welche Bedeutung hätte sein Anfall dann noch? Hatte er eben einen schlechten Eindruck auf die leitenden Forscher gemacht. Na, und wenn schon! Er spielte keine Karrierespielchen mehr.
Er besaß noch immer gute Voraussetzungen, um zu überleben. Er würde diese Krise sogar in relativ guter Form überstehen können, sofern er jetzt das Richtige tat. Was war das Richtige? Die O/BEKs zu töten, dachte Ray. Zu spät, um breite Unterstützung dafür aufzubauen, aber die Grundlagen hatte er gelegt, und wahrscheinlich wäre es ihm sogar gelungen, noch einige Leute zu bekehren, wenn Marguerite ihn nicht provoziert hätte. Wenn er sich nicht in einem Labyrinth von zweitrangigen Gedanken verirrt hätte. Wenn Tess ihn nicht unterbrochen hätte.
Vor der Tür zu seinem Büro blieb er abrupt stehen.
Tess.
Er hatte seine Tochter vergessen. Hatte sie im Saal zurückgelassen.
Er zog seinen Server aus der Hemdtasche und sprach Tessas Namen aus.
Sie ging sofort ran. »Dad?«
»Tess, wo bist du?«
Sie zögerte. Ray versuchte eine Bedeutung in die Pause hineinzulesen, aber es gelang ihm nicht. Dann sagte sie: »Ich bin im Auto.«
»Im Auto? Wessen Auto?«
»Ähm … Mamas.«
»Du gehst erst Montag wieder zu deiner Mutter zurück.«
»Ich weiß, aber …«
»Sie hätte dich nicht mitnehmen sollen. Das war nicht richtig. Das war ganz und gar nicht richtig, dass sie das getan hat.«
»Aber …«
»Hat sie dich gezwungen, Tess? Hat deine Mutter dir befohlen, in ihr Auto zu steigen? Du kannst es mir ruhig sagen. Falls sie zuhört, gib mir einfach einen Hinweis. Ich versteh dich dann schon.«
In klagendem Ton: »Nein! So war es nicht. Du bist weggegangen.«
»Nur für ein paar Minuten, Tess.«
»Das wusste ich ja nicht!«
»Du hättest auf mich warten sollen.«
»Außerdem hast du all diese Sachen gesagt, dass du sie töten willst.«
»Ich weiß nicht, was du meinst. Ich würde deiner Mutter niemals etwas tun.«
»Was? Ich meinte, als du auf der Bühne warst! Du hast darüber gesprochen, Mirror Girl zu töten!«
»Ich habe …« Er brach ab, zwang sich zur Ruhe. Tess war empfindlich und im Moment, dem Klang ihrer Stimme nach zu urteilen, ziemlich verängstigt. »Ich habe Mirror Girl gar nicht erwähnt. Du musst mich falsch verstanden haben.«
»Du hast gesagt, wir müssen sie töten!«
»Ich habe über den Prozessor im Auge gesprochen, Tess. Gib mir bitte mal deine Mutter.«
Wieder eine Pause. »Sie will nicht mit dir reden.«
»Sie muss dich zu mir bringen. Das steht in der Vereinbarung, die wir beide unterschreiben haben. Ich muss ihr das klarmachen.«
»Wir fahren nach Hause.« Tess schien den Tränen nahe. »Es tut mir leid!«
»Ihr fahrt zu deiner Mutter nach Hause?«
»Ja!«
»Sie darf nicht …«
»Das ist mir egal! Es ist mir ganz egal, was sie nicht darf! Wenigstens will sie niemanden umbringen!«
»Tess, ich hab dir doch gesagt, ich will nicht …«
Der Server klickte. Tess hatte die Verbindung abgebrochen.
Als er sie erneut anrief, ging sie nicht ran, es kam nur ihre Standardansage. Er versuchte es bei Marguerite. Mit dem gleichen Ergebnis.
»Verdammtes Miststück«, flüsterte Ray. Womit Marguerite gemeint war. Vielleicht sogar Tess, die ihn verraten hatte. Aber nein, halt, stop, das war nicht fair. Tess war irregeführt worden, irregeführt von der Nachgiebigkeit einer sie hoffnungslos verwöhnenden Mutter. Und genau darum ging es bei diesem ganzen Quatsch mit Mirror Girl.
Marguerite verwendete es gegen ihn. Daddy will Mirror Girl töten. Sie indoktrinierte das Mädchen. Ray malte es sich aus, wurde fuchsteufelswild. Man konnte nicht wissen, allenfalls ahnen, was für Lügen man Tess über ihn erzählt hatte.
War also auch Tess für ihn verloren?
Nein. Nein. Unmöglich. Noch nicht.
Er schloss sich in seinem Büro ein, drehte seinen Sessel zum Fenster und erwog, Dimi Schulgin anzurufen. Vielleicht hatte Schulgin irgendwelche Ideen.
Die Aussicht aus seinem Büro war leblos und feindselig. Blind Lake hatte sich daran gewöhnt, ohne Wetterbericht zu leben, aber man musste kein Meteorologe sein, um die Wolken aufziehen zu sehen, niedrige Wolken, mit Schnee beladen, von einem Wind in Sturmstärke von Nordwesten herangetrieben. Eine weitere Fortsetzung in diesem endlosen Winter.
Der fallende Schnee verlieh der Stadt eine täuschende Unbestimmtheit, wie eine Ferrotypie oder ein in Grautönen gemaltes Bühnenbild. Die Fensterscheibe wölbte sich ein wenig unter einer besonders heftigen Windbö, wodurch das Bild leicht verzerrt erschien, wie durch eine Linse betrachtet. Die beobachtete Person — Subjekt — starrte für unbestimmte Zeit auf den herannahenden Sturm.
Als er sich vom Fenster wegdrehte, blieb eine der Gleitrollen seines Stuhls an etwas hängen, das sich unter dem Schreibtisch verbarg. Das Reinigungspersonal wurde nachlässig, aber das war ja weiß Gott nichts Neues. Ein Bogen Papier. Mürrisch bückte er sich, um ihn aufzuheben.
Von: Bo Xiang, Crossbank National Laboratory
An: Avory Fishbinder, Blind Lake National Laboratory
Text: In Beantwortung Ihrer Frage nur so viel: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Trockengebietsgebilde natürlicher Herkunft sind, ist sehr gering. Zwar findet man diese Art von Symmetrie recht häufig in der Natur, doch die Größe der Gebilde und der Präzisionsgrad sind bemerkenswert und lassen eher auf Konstruktion als auf Evolution schließen. Nicht, dass dies ein entscheidendes Argument wäre, aber
Ray brach die Lektüre ab und legte das Papier mit der Schrift nach oben auf den Schreibtisch.
Langsam, sich bewusst Zeit lassend und ohne sich ein vorschnelles Urteil zu bilden, schloss er seinen Schreibtisch auf und entnahm der untersten Schublade den dicken Stapel der Ausdrucke, die Schulgin ihm geliefert hatte. Flüchtig sah er ihn durch.
Die Seiten lagen nicht in der richtigen Reihenfolge.
Es war wieder jemand an seinem Schreibtisch gewesen.
Ray stand auf. Er sah sein Spiegelbild im Fenster, ein über ein Wolkengemälde geklebtes Porträt, von einem in eine Glasschicht eingefrorenen Mann.
Das Wetter hatte sich merklich verschlechtert, als Chris, Marguerite und Tess zu Hause ankamen. Vielleicht musste man das positiv sehen, dachte Chris. Es wurde dadurch eine weitere Barriere zwischen Marguerite und Ray gezogen. Falls Ray kommen wollte, um seine Tochter zu holen — oder Rache zu üben —, würde der Schnee seinen Vormarsch wenigstens abbremsen.
Tess hatte nach dem Telefongespräch geweint. Inzwischen waren die Tränen in einen Schluckauf übergegangen, und Marguerite legte ihr einen Arm um die Schultern, als sie sie ins Haus führte. Tess schlüpfte aus ihrer Jacke und ihren Stiefeln und lief dann zum Wohnzimmersofa, als sei dieses ihr ganz spezielles Rettungsfloß.
Mit ihrer Karte schloss Marguerite die Tür ab. »Schieb am besten auch noch den Riegel vor«, sagte Chris.
»Hältst du das für nötig?«
»Ich halte es für klug.«
»Bist du da nicht ein bisschen paranoid? Ray würde nie …«
»Wir wissen nicht, was Ray tun könnte. Wir sollten kein Risiko eingehen.«
Sie warf den Riegel vor, dann setzte sie sich zu ihrer Tochter aufs Sofa.
Chris borgte sich ihr Büro aus, um die Dokumente auszudrucken, die Sue ihm auf den Server geleitet hatte. Das Arbeitszimmer hatte keine Fenster, aber er konnte den Wind hören, der draußen Wirbel veranstaltete und sich an der Regenrinne zu schaffen machte, als würde jemand mit einem stumpfen Messer daran entlangschaben.
Er dachte an Rays Auftritt im Auditorium. Rays erster Tagesordnungspunkt hatte darin bestanden, sich über Marguerite lustig zu machen, sie zu demütigen, und dabei war er recht clever vorgegangen, hatte seine Wut gezügelt und getarnt. Für einen Mann wie Ray ging es immer in erster Linie darum, die Kontrolle zu bewahren. Doch die Welt steckte voller nicht zu kontrollierender Unverschämtheiten. Erwartungen wurden enttäuscht. Ehefrauen gehorchten nicht und verließen ihn sogar. Seine Theorien wurden widerlegt.
Sein Schreibtisch wurde durchwühlt.
Nach Chris' Ansicht war das Bedeutsame an Rays kleiner Kernschmelze, dass sie auf persönliche Auflösungserscheinungen hindeutete. Typen wie Ray waren emotional labil, und eben dies machte sie zu den schikanösen Kotzbrocken, die sie waren. Sie lebten immer am Rande des Zusammenbruchs. Und gingen eben manchmal über den Rand hinaus.
Zügig spuckte der Drucker die Seiten aus, alle Dokumente, etwa dreißig an der Zahl, die Sue kopiert hatte. Rays Schatz, wozu immer er gut sein mochte. Chris setzte sich hin und begann zu lesen.
Marguerite verbrachte den grauen Ausklang des Nachmittags an der Seite ihrer Tochter.
Tess hatte sich weitgehend beruhigt, seit sie im Haus war. Aber ihr Kummer war ihr weiterhin deutlich anzumerken. Sie hatte sich aufs Sofa gekuschelt, in ein gestepptes Deckbett eingewickelt wie in einen Gebetsmantel, und richtete ihre Aufmerksamkeit ganz auf den Videobildschirm. Blind-Lake-TV zeigte alte Downloads von The Fosters, einer Kinderserie, die Tess nicht mehr gesehen hatte, seit sie sechs war. Sie hatte die Lautstärke hochgedreht, um den Wind und die harten Schneeflocken zu übertönen, die gegen die Fenster trommelten.
Marguerite saß fast die ganze Zeit bei ihr. Sie war neugierig auf die Dokumente, die Chris ausdruckte und las, aber, mochte es auch seltsam erscheinen, das war jetzt alles nicht so dringend. Für einige wenige Stunden, zwischen Dunkelheit und eigentlicher Nacht, stand die Welt still, ein Ruhepunkt in dem aufziehenden Sturm, und sie hatte kein weiteres Bedürfnis, keinen weiteren Wunsch, als neben Tess zu sitzen.
Kurz nach fünf ging sie in die Küche, um etwas zum Abendessen vorzubereiten. Das Fenster über der Spüle war mehr oder weniger zugeschneit, undurchsichtig wie ein Bullauge in einem gesunkenen Schiff, draußen nichts als undeutliche Umrisse, die sich unter dem Druck der Hoffnungslosigkeit bewegten. War es wirklich denkbar, dass Ray zum Haus kommen und versuchen würde, ihr etwas anzutun? Bei diesem Wetter? Wenn allerdings jemand entschlossen war, etwas Schlimmes zu tun, dann war wohl nicht anzunehmen, dass er dies wegen heftigen Schneefalls aufschieben würde.
Tess kam in die Küche, setzte sich auf einen Stuhl und sah Marguerite zu, wie sie gelbe Paprika für den Salat zerschnippelte.
»Geht es Chris gut?«, fragte Tess.
»Ja, sicher. Er ist gerade oben, hat dort zu tun.« Telefonische Beratung mit Elaine Coster, als sie zuletzt nachgesehen hatte.
»Aber er ist noch im Haus?«
»Jawoll, immer noch da.«
»Das ist gut«, sagte Tess. Sie klang ehrlich erleichtert. »Es ist besser, wenn er hier ist.«
»Das finde ich auch.«
»Wie lange bleibt er?«
Interessante Frage. »Na ja — auf jeden Fall bis all die Probleme hier am Lake vorbei sind. Und vielleicht auch noch länger.« Vielleicht. Sie hatte mit Chris darüber noch nicht gesprochen. Würde es, wenn sie ihn nach seinen langfristigen Plänen befragte, bedürftig erscheinen oder anmaßend? Würde ihr die Antwort gefallen? Und konnte man unter den obwaltenden Umständen überhaupt langfristige Pläne haben?
Die Beziehung fühlte sich für Marguerite ziemlich solide an. Hatte sie sich in Chris Carmody verliebt? Ja, sie glaubte es, aber sie hatte Angst vor dem Wort, davor, es auszusprechen, und fast ebenso davor, es zu hören. Liebe war ein Phänomen der Natur, oft flüchtig oder irreführend. Wie eine Wärmeperiode im Oktober konnte sie jederzeit zu Ende gehen.
»Tess? Darf ich dich was fragen?«
Tess zuckte die Achseln, schaukelte immer wieder sanft gegen die Rückenlehne.
»Vorhin im Auditorium, da hast du gesagt: ›Du kannst sie nicht töten.‹ Wen hast du gemeint?«
»Weißt du doch.«
»Mirror Girl?«
»Glaub schon.«
»Ich glaube nicht, dass Dad Mirror Girl gemeint hat. Er hat über die Prozessoren im Auge gesprochen.«
»Ist das Gleiche«, sagte Tess mit sichtlichem Unbehagen.
»Das Gleiche? Wie meinst du das?«
»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Aber das ist der Ort, wo sie eigentlich wohnt. Es ist alles irgendwie ein und dasselbe.«
Als Marguerite Genaueres wissen wollte, reagierte Tess nicht mehr auf ihre Fragen; am Ende ließ Marguerite sie zurück zum Sofa gehen. Trotzdem, das war eine neue Wendung, die Vorstellung, dass Mirror Girl im Auge wohnte. Hatte vielleicht eine Bedeutung, aber Marguerite konnte sie nicht entschlüsseln. War das der Grund, warum Tess sich letzte Woche zur Alley geschlichen hatte? Um Mirror Girl zu ihrem Schlupfwinkel zu folgen?
Wenn dieser Wahnsinn vorbei ist, dann, dieses Versprechen gab sich Marguerite, werde ich mit ihr wegfahren. Irgendwohin, wo es anders ist. Warm und trocken. Marguerite hatte schon oft daran gedacht, den Südwesten zu besuchen — Utah, Arizona, die Canyonlands, Four Corners —, aber Ray war immer dagegen gewesen. Vielleicht würde sie mit Tessa Urlaub in der Wüste machen. Trockenes Land, wenn auch vielleicht dem UMa47/E des Subjekts beunruhigend ähnlich. Rettung in der Einöde suchen.
Chris rief bei Elaine an. Marguerites Büro-Server nahm den Ton auf und leitete ihn durch die Wandler in den Wänden, eine Verbindung herstellend, die so sauber war, dass Chris den Sturm an Elaines Ende der Leitung hören konnte. »Stehen Sie direkt am Fenster?«, fragte er sie. »Das hört sich ja wie Hundegeheul an.«
Elaine kampierte in einer Zwei-Zimmer-Mehrzweckwohnung, unbenutzt zurückgelassen von einem Wartungsmonteur, der am Tag vor der Abriegelung nach Fargo gefahren war, um sich Blasensteine zertrümmern zu lassen. Die Wohnung befand sich im Erdgeschoss und bot Ausblick auf die Müllcontainer hinter Sawyer's Steak & Seafood. »Hab nicht viel Bewegungsspielraum hier … ist es so besser?«
»Ein bisschen.«
»Das hat uns jetzt gerade noch gefehlt, noch einer von diesen Northeastern oder wie sie die Scheißstürme hier draußen im Land der Kühe nennen. Also, Sie haben die Mails gelesen? Was haben Sie ihnen entnommen?«
Chris überlegte, bevor er antwortete. Die Dokumente waren genau das, was Sue Sampel vorausgesehen hatte: SMS-Nachrichten, die in den Servern der in Cancun auf der Jahrestagung weilenden Wissenschaftler geschmort hatten. Sie enthielten eine Neuigkeit, die vorläufig unter Verschluss war, jedoch auf der Konferenz öffentlich gemacht werden sollte: die Entdeckung eines künstlichen Gebildes auf der Oberfläche von HR8832/B. Es ähnelte einer stacheligen Halbkugel mit strahlenförmig angeordneten Armen. In einer Anmerkung wurde die Gestalt mit einem riesigen Adenovirus oder einem Molekül von C60 verglichen. Chris fasste zusammen, was er gelesen hatte: »Offenbar drückt es ein mathematisches Prinzip aus, das als ›Energiefunktion‹ bezeichnet wird und als Volumenausdruck in einem höherdimensionalen Raum geschrieben werden kann — aber das gilt ebenso für jedes Ikosaeder, beweist also gar nichts. Falls es sich wirklich um ein Artefakt handelt, scheinen die Erbauer verschwunden zu sein. Eine der Mails behauptet, das Innere des Gebildes sei außergewöhnlich schwer bildlich darzustellen«, was immer das bedeuten mag …«
»Und so weiter und so fort«, sagte Elaine. »Wissenschaftlich gesehen alles sehr interessant, aber sagen Sie mir eins: Sehen Sie hier irgendwas, das wie eine Bedrohung aussieht? Irgendetwas, das den Bericht in der Zeitschrift erklären würde?«
»Es muss einen Zusammenhang geben.«
»Sicher, aber denken Sie an das, was Ray auf der Versammlung gesagt hat. Er hat behauptet, er hätte Hinweise darauf, dass die O/BEK-Prozessoren in Crossbank eine Gefahr für Leib und Leben geworden seien.«
»Diese Schlussfolgerung könnte man ziehen.«
»Scheiß auf Schlussfolgerungen; sehen Sie irgendwelche handfesten Beweise dafür?«
»Nicht in diesen Unterlagen, nein.«
»Glauben Sie, Ray hat Hinweise, die wir nicht kennen?«
»Das ist möglich. Aber Sue ist nahe am Geschehen dran, und sie glaubt es nicht.«
»Alles klar. Wissen Sie was, Chris? Ich glaube nicht, dass Ray irgendetwas Handfestes hat. Ich glaube, er hat eine Hypothese. Und ihm ist eine riesige Laus über die Leber gelaufen.«
»Sie meinen, er will das Auge abschalten und diese Sache als Vorwand benutzen.«
»Genau.«
»Aber das Auge könnte wirklich eine Bedrohung sein. Daraus, dass er voreingenommen ist, folgt nicht, dass er falsch liegt.«
»Auch wenn er nicht falsch liegt, handelt er jedenfalls verantwortungslos. Diese Dokumente enthalten keine Informationen, die er nicht mit uns allen hätte teilen können.«
»Ray mag nicht teilen. Das steht wahrscheinlich schon in seinem Zeugnis aus der ersten Klasse. Was schlagen Sie vor, was sollen wir tun?«
»An die Öffentlichkeit gehen.«
»Und wie machen wir das?«
»Wir leiten diese Dokumente an sämtliche Haushaltsserver in Blind Lake weiter. Außerdem würde ich gern eine kleine Zusammenfassung schreiben, eine Art Begleitbrief, mit der Erläuterung, dass wir die Dokumente aus geschützter Quelle hätten und dass der Inhalt wichtig sei, aber ohne Beweiskraft.«
»Dann kann Ray nicht eigenmächtig handeln. Er wird sich erklären müssen …«
»Und kriegt vielleicht noch ein paar andere Meinungen zu hören, bevor er den Stecker zieht.«
»Das könnte Sue in Schwierigkeiten bringen.«
»Sie ist eine gutherzige Dame, Chris, aber ich würde sagen, sie ist bereits in Schwierigkeiten. Und zwar reichlich. Ray kann ihr vielleicht nichts nachweisen, aber er ist nicht blöd.«
»Auch wir könnten Probleme kriegen.«
»Wie definieren Sie ›Probleme‹? Eingesperrt zu sein in einer technischen Anlage des Bundes, die von einem Wahnsinnigen geleitet wird, das finde ich problematisch, ganz unabhängig davon, was wir sonst noch tun. Aber ich werde Ihren Namen als Absender rauslassen, wenn Sie möchten.«
»Nein, benutzen Sie ruhig meinen Namen«, sagte Chris. »Lassen Sie aber Marguerite aus dem Spiel.«
»Kein Problem. Aber was Rays Reaktion betrifft, muss ich wiederholen, dass er nicht blöd ist. Verriegeln Sie Ihre Türen.«
»Die sind verriegelt«, sagte Chris. »Sicher.«
»Gut. Dann bereiten Sie sich auf ein Unwetter vor, neben dem dieser Schneesturm wie ein sanfter Sommerregen wirken wird.«
Beim Abendessen hielt Tess sich zurück und sprach wenig, immerhin aber schien sie das Ritual an sich beruhigend zu finden. Oder vielleicht, dachte Marguerite, gefiel es ihr einfach, dass Chris in der Nähe war. Chris war nicht nur ein großer, sondern auch ein sanfter Mann, eine betörende Kombination für ein ängstliches kleines Mädchen. Und übrigens auch für eine ängstliche erwachsene Frau.
Nach dem Essen ging Tess mit einem Buch in ihr Zimmer. Marguerite kochte Kaffee, während Chris sie mit dem Inhalt der entwendeten Dokumente bekannt machte. Die meisten von ihnen waren von Bo Xiang verfasst. Sie hatte in Crossbank mit Bo zusammengearbeitet und wusste, dass er nicht der Typ war, der ohne guten Grund in Aufregung geriet.
Nie hatte es auch nur den kleinsten Hinweis auf eine technologische Zivilisation auf HR8832/B gegeben. Das Gebilde musste ungeheuer alt sein. HR8832/B hatte eine Reihe von schweren, den ganzen Planeten erfassenden Eiszeiten durchlaufen, und mindestens eine von ihnen musste jüngeren Datums sein als dieses Gebilde. Die Ähnlichkeit mit den äquatorialen Korallenschwimmern schien irgendetwas zu bedeuten, aber was genau?
Das freilich waren alles Fragen, die sich, jedenfalls vorläufig, nicht beantworten ließen. Und Chris und Elaine hatten recht: Sie enthielten keinerlei stichhaltigen Hinweis auf eine Bedrohung.
Der Sturm rüttelte am Küchenfenster, während sie sich unterhielten. Wir können Welten abbilden, die um ferne Sterne kreisen, dachte Marguerite; können wir denn keine Fenster konstruieren, die nicht klappern bei schlechtem Wetter? Die tiefe Dunkelheit draußen war einschüchternd. Die Straßenlampen waren zu verschleierten Leuchtfeuern geworden, ferne Fackeln. Es war ein Wetter, das in alten Zeiten Nachrichtenstoff gewesen wäre: Wintersturm blockiert Highways im Westen, Flughäfen geschlossen, Passagiere sitzen fest …
Tessas normale Bettzeit war zehn Uhr, an Wochenenden elf, aber sie kam schon um neun in die Küche und sagte: »Ich bin müde.«
»War ein langer Tag«, sagte Marguerite. »Soll ich dir ein Bad einlassen?«
»Ich dusche morgen Früh. Ich bin einfach nur müde.«
»Dann geh nach oben und zieh dich schon mal aus. Ich komme dann und sag dir gute Nacht.«
Tess zögerte.
»Was ist denn, Schätzchen?«
»Ich dachte, vielleicht könnte Chris mir noch eine Geschichte erzählen.« Sie ließ den Kopf hängen, als wollte sie sagen: Es ist zwar Babykram, aber das ist mir egal.
»Klar, gern«, erklärte Chris sich bereit.
Es würde schwerfallen, diesen Mann nicht zu lieben, dachte Marguerite.
»Was für eine Geschichte möchtest du denn gerne hören?«, fragte Chris, auf Tessas Bettkante sitzend. Er glaubte die Antwort bereits zu kennen.
»Eine Porry-Geschichte«, sagte das Mädchen.
»Ehrlich, Tess, ich glaube, ich habe dir schon alle Porry-Geschichten erzählt, die es gibt.«
»Es muss keine neue sein.«
»Hast du eine, die du besonders magst?«
»Die Kaulquappen-Geschichte«, sagte sie sofort.
Tessas Schlafzimmerfenster war noch immer nur provisorisch abgedichtet. Kalte Luft kam durch die Ritzen, kroch unter die elektrischen Flächenheizer hindurch und über den Fußboden, auf der Suche nach dem niedrigsten Punkt im Haus. Tess hatte ihre Decken bis zum Kinn hochgezogen.
»Das war noch in Kalifornien«, sagte Chris, »wo wir aufgewachsen sind. Wir wohnten in einem kleinen Haus mit einem Avocadobaum hinten im Garten, und am Ende der Straße war ein Abzugskanal, der bei Regen das Wasser abführte. Man nannte ihn deshalb den Regenkanal. Er war ein großes Flussbett aus Beton, mit einem Drahtzaun davor, um die Kinder fernzuhalten.«
»Aber ihr seid trotzdem hingegangen.«
»Wer erzählt jetzt die Geschichte?«
»'tschuldigung.« Sie zog sich die Decke über den Mund.
»Wir sind trotzdem hingegangen, alle Kinder aus der Nachbarschaft. Es gab eine Stelle, wo man unter dem Zaun durchkriechen konnte. Der Regenkanal hatte steile Betonwände, aber wenn man sich in Acht nahm, konnte man hinunterklettern, und im Frühling, wenn wenig Wasser da war, konnte man Kaulquappen in den Pfützen finden.«
»Kaulquappen sind doch Babyfrösche, oder?«
»Richtig, aber sie sehen noch überhaupt nicht wie Frösche aus. Eher wie kleine schwarze Fische mit langen dünnen Schwänzen und ohne Flossen. An guten Tagen brauchte man einfach nur einen Eimer durchs Wasser zu ziehen, und schon hatte man Hunderte von ihnen gefangen. Die Erwachsenen haben uns immer wieder gesagt, wir sollten nicht beim Regenkanal spielen, weil es gefährlich sei. Und das war es auch, wir hätten wirklich nicht hingehen sollen, aber wir haben es trotzdem getan. Alle außer Porry. Porry wollte auch hingehen, aber ich hab sie nicht gelassen.«
»Weil du ihr großer Bruder warst, und sie war noch zu jung.«
»Wir waren alle noch zu jung. Porry muss damals ungefähr sechs oder sieben gewesen sein, das heißt, ich war also elf oder zwölf. Immerhin war ich alt genug, um zu wissen, dass es für sie wirklich nicht das Richtige war. Sie musste immer am Zaun bleiben und warten, obwohl sie das gehasst hat. Eines Tages war ich mit ein paar Freunden unten im Regenkanal, und vielleicht hatten wir diesmal ein bisschen zu lange im Schlamm herumgestochert, jedenfalls, als ich zurückkam, war Porry müde und frustriert und praktisch am Weinen. Auf dem Nachhauseweg hat sie kein Wort mit mir gesprochen.
Es war Frühling, und in Südkalifornien gibt es in manchen Jahren heftige Frühlingsregenfälle. Nun ja, auch an diesem Tag begann es dann noch zu regnen. Und zwar nicht nur ein bisschen. ›Regentropfen so groß wie Suppenteller‹, hat meine Mutter oft gesagt. Nach dem Abendessen habe ich meine Hausaufgaben gemacht und Porry ist in ihr Zimmer gegangen, um zu spielen. Nach einer Stunde oder so hat meine Mutter sie gerufen, aber Porry hat nicht geantwortet, und wir konnten sie nirgendwo im Haus finden.«
»Hättet ihr nicht einfach den Haus-Server fragen können?«
»Damals waren die Häuser noch nicht so schlau wie heute.«
»Also bist du sie suchen gegangen.«
»Ja. Wahrscheinlich hätte ich das auch nicht tun sollen, aber mein Dad war schon drauf und dran, die Polizei zu rufen … und ich hatte das Gefühl, dass ich wüsste, wo sie hingegangen war.«
»Du hättest es erst deinen Eltern sagen sollen.«
»Hätte ich, aber ich wollte nicht verraten, dass ich selber auch wusste, wie man in den Regenkanal kommt. Aber du hast recht — es wäre mutiger gewesen, es ihnen zu sagen.«
»Du warst erst elf.«
»Ich war erst elf und habe nicht immer das getan, was am mutigsten gewesen wäre, also bin ich aus dem Haus geschlichen und durch den Regen bis zur Lücke im Zaun gerannt, bin untendurch gekrochen und hab nach Porry gesucht.«
»Ich finde, das war mutig. Hast du sie gefunden?«
»Du weißt, wie die Geschichte ausgeht.«
»Ich tu aber so, als wüsste ich's nicht.«
»Porry hatte sich einen Eimer genommen und war runter in den Kanal geklettert, um sich ihre eigenen Kaulquappen zu fangen. Aber als sie die steile Böschung bis zur Hälfte wieder hochgeklettert war, hat sie plötzlich Angst bekommen. Es war diese Art Angst, wo man nicht mehr vorwärtskommt, aber auch nicht zurückkann, und deshalb bleibt man einfach da, wo man ist, und macht gar nichts. Sie kauerte weinend auf der Stelle, und das Wasser im Abzugskanal wurde immer reißender und stieg schnell an. Noch ein paar Minuten, und sie wäre vielleicht weggeschwemmt worden.«
»Aber du hast sie gerettet.«
»Na ja, ich bin runtergeklettert, hab ihren Arm genommen und ihr raufgeholfen. Die Böschung war ziemlich rutschig von dem Regen. Wir waren schon fast am Zaun, als sie sagte: ›Meine Kaulquappen!‹ Also musste ich noch mal runter, um den Eimer zu holen. Dann sind wir nach Hause gelaufen.«
»Und du hast sie nicht verpetzt.«
»Ich sagte, ich hätte sie bei den Nachbarn im Garten beim Spielen gefunden. Den Eimer haben wir in der Garage versteckt …«
»Und ihn dann vergessen!«
»Und ihn dann vergessen, aber die Kaulquappen haben das gemacht, was Kaulquappen nun mal machen — nämlich angefangen, sich in Frösche zu verwandeln. Ein paar Tage später macht mein Vater die Garage auf, und der ganze Fußboden ist voller kleiner grüner Frösche, Frösche springen an seinen Beinen hoch, Frösche sitzen überall auf dem Auto, eine Lawine von Fröschen. Er hat vor Schreck aufgeschrien, wir kamen alle aus dem Haus gelaufen und dann hat Porry angefangen zu lachen …«
»Hat aber nicht gesagt, warum.«
»Sie hat nicht gesagt, warum.«
»Und du hast es nicht verraten.«
»Niemandem. Bis jetzt.«
Tess lächelte zufrieden. »Ja. Ging's den Fröschen gut?«
»Größtenteils ja. Sie haben sich in die Hecken und Gärten verzogen, die ganze Straße runter. Das war ein lauter Sommer in dem Jahr, das kann ich dir sagen. Das ganze Gequake immerzu.«
»Ja.« Tess schloss die Augen. »Danke, Chris.«
»Du brauchst dich nicht zu bedanken. Glaubst du, du kannst schlafen?«
»Yeah.«
»Ich hoffe, dass der Wind dich nicht wachhält.«
»Könnte schlimmer sein.« Wieder lächelte Tess, erst zum zweiten Mal an diesem Tag. »Könnten zum Beispiel Frösche sein.«
Von der Tür aus lauschte Marguerite dem ersten Teil der Geschichte, dann zog sie sich in ihr Arbeitszimmer zurück und schaltete den Wandbildschirm ein. Nicht um zu arbeiten, nur um zu gucken.
Die Dämmerung nahte auf dem im Bild gezeigten Abschnitt von UMa47/E. Das Subjekt durchquerte, parallel zur untergehenden Sonne, den flachen Grund einer Schlucht. Vielleicht lag es an der tiefstehenden Sonne, aber das Subjekt sah heute besonders unwohl aus, fand Marguerite. Es hatte jetzt schon lange Zeit mit wenig Nahrung auskommen müssen, war meistenteils auf die moosartige Substanz angewiesen, die überall wuchs, wo es Wasser und Schatten gab. Marguerite vermutete, dass das Moos nicht übermäßig nahrhaft war, vielleicht nicht einmal gehaltvoll genug, um es am Leben zu erhalten. Seine Haut war faltig und eingeschrumpft. Man musste kein Naturwissenschaftler sein, um die entsprechende Gleichung aufzumachen: zu viele Kalorien verbraucht, zu wenige aufgenommen.
Als der Himmel dunkler wurde, erschienen einige Sterne. Der hellste allerdings war gar kein Stern, sondern ein Planet: einer der zwei Gasriesen des Systems, UMa47/A, fast dreimal so groß wie Jupiter und jedenfalls groß genug, um sich bei seiner größten Annäherung gut erkennbar als Scheibe zu präsentieren. Subjekt blieb stehen und drehte den Kopf hin und her. Um sich zu orientieren, vielleicht, oder war es gar eine Art Orientierung nach den Gestirnen?
Sie hörte, wie Chris Tessas Zimmertür schloss. Er steckte den Kopf ins Arbeitszimmer und sagte: »Was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?«
»Nimm dir einen Stuhl. Ich arbeite im Grunde auch gar nicht.«
»Wird dunkel.« Er deutete auf den Bildschirm.
»Es wird sich bald schlafen legen. Ich weiß, es klingt dumm, Chris, aber ich mache mir Sorgen. Es ist so weit weg von … nun ja, allem. An diesem Ort scheint es überhaupt gar kein Leben mehr zu geben, nicht einmal die Parasiten, die sich nachts von ihm nähren.«
»Ist das nicht eher positiv?«
»Na ja, genau genommen sind es aber wahrscheinlich gar keine Parasiten. Es muss da eine segensreiche Symbiose ablaufen, sonst wären die Städte wohl nicht voll davon.«
»New York ist voller Ratten. Das heißt nicht, dass sie segensreich sind.«
»Die Frage muss offen bleiben. Aber es geht ihm eindeutig nicht gut.«
»Es schafft es vielleicht nicht bis Damaskus.«
»Damaskus?«
»Es kommt mir irgendwie so vor wie Paulus auf dem Weg nach Damaskus. Als wenn es auf eine Erscheinung wartet.«
»Ich nehme an, wir würden es gar nicht mitkriegen, wenn es eine hätte. Ich hatte eigentlich auf etwas Greifbareres gehofft.«
»Na ja, ich bin kein Experte.«
»Wer ist das schon?« Sie drehte sich vom Bildschirm weg. »Danke, dass du geholfen hast, Tess zu beruhigen. Ich hoffe, es ist dir noch nicht über, ihr Geschichten zu erzählen.«
»Überhaupt nicht.«
»Sie mag deine … wie nennt sie sie? Porry-Geschichten. Eigentlich bin ich sogar ein bisschen eifersüchtig. Du erzählst nicht viel von deiner Familie.«
»Tess ist ein dankbares Publikum.«
»Und ich nicht?«
Er lächelte. »Du bist nicht elf.«
»Hat Tess dich je gefragt, was aus Portia geworden ist, als sie erwachsen war?«
»Zum Glück nicht.«
»Wie ist sie gestorben?«, fragte Marguerite, dann: »Entschuldige, Chris. Sicherlich möchtest du nicht darüber reden. Es geht mich im Grunde auch nichts an.«
Er schwieg für einen Moment. O Gott, dachte sie, ich habe ihn gekränkt.
Dann sagte er: »Portias Eigensinn war immer ein bisschen größer als ihre Klugheit. An der Schule hat sie es nie leicht gehabt. Sie hat das Collegestudium abgebrochen und sich mit fragwürdigen Typen eingelassen, Gelegenheitsfixern …«
»Drogen«, sagte Marguerite.
»Das Problem waren gar nicht mal so sehr die Drogen. Mit Drogen konnte sie ganz gut umgehen, wahrscheinlich, weil sie letzten Endes keinen großen Reiz für sie hatten. Aber ihre Menschenkenntnis war miserabel. Sie ist bei einem Kerl eingezogen, der in einem Trailerpark in der Nähe von Seattle wohnte, und daraufhin haben wir eine ganze Weile nichts mehr von ihr gehört. Sie behauptete, sie würde ihn lieben, aber sie wollte ihn nicht mal mit uns telefonieren lassen.«
»Kein gutes Zeichen.«
»Das Ganze spielte sich ab, als mein Buch über Galliano gerade erschienen war. Ich war auf Lesereise und kam auch durch Seattle, also habe ich Porry angerufen und mich mit ihr verabredet. Nicht bei sich zu Hause — darauf hat sie bestanden. Es sollte irgendwo in der Stadt sein. Und nur sie, nicht ihr Freund. Die ganze Verabredung schien ihr nicht so richtig zu passen, aber dann hat sie mir ein Restaurant genannt und dort haben wir uns getroffen. Sie erschien in schäbigen Klamotten und einer riesengroßen Sonnenbrille. So eine, wie man sie trägt, um ein blaues Auge zu verbergen.«
»O nein.«
»Nach einigem Hin und Her gab sie dann zu, dass es nicht so gut lief mit ihr und ihrem Freund. Sie hatte gerade einen Job gefunden und war am Sparen, um sich eine eigene Wohnung zu suchen. Ich sollte mir keine Sorgen um sie machen, sie würde die Sache schon regeln.«
»Der Typ hat sie verprügelt?«
»Offensichtlich. Sie hat mich angefleht, mich nicht einzumischen, nicht ›einen auf großer Bruder machen‹, wie sie sich ausdrückte. Aber ich war damals gerade schwer damit beschäftigt, die Welt vor allem Schlechtem zu retten. Wenn ich einen Ted Galliano in der Öffentlichkeit bloßstellen konnte, warum sollte ich dann einem Trailerpark-Cowboy solche Sachen durchgehen lassen? Also habe ich Porrys Adresse im Telefonbuch nachgeschlagen und bin rausgefahren, während sie bei der Arbeit war. Der Typ war natürlich zu Hause. Er machte eigentlich keinen sehr gefährlichen Eindruck, knapp eins achtzig, dünne Arme, auf der rechten Seite ein Rosentattoo. Er sah aus, als hätte er den bisherigen Tag damit verbracht, ein Sechserpack niederzumachen und einen Motor zu ölen, war ziemlich aggressiv, aber ich habe ihm einfach meinen Unterarm unters Kinn geschoben, ihn gegen den Trailer gedrückt und ihm gesagt, dass er es mit mir zu tun bekäme, wenn er Portia noch einmal anrühren würde. Er wurde dann plötzlich sehr kleinlaut und fing tatsächlich sogar an zu heulen. Er meinte, er könne nichts dafür, es sei der Alkohol, he, Alter, du weißt doch selbst, wie es ist. Er sagte, er würde sich in Zukunft am Riemen reißen. Und ich bin weggefahren in dem Glauben, ich hätte etwas Gutes bewirkt. Auf dem Weg aus der Stadt raus habe ich bei dem Büro angehalten, wo Porry arbeitete, und ihr einen Scheck dagelassen, eine kleine Starthilfe für ihre Unabhängigkeit. Zwei Tage später bekam ich einen Anruf von der Notfallstation in Seattle. Sie war schwer zusammengeschlagen worden und hatte Hirnblutungen — und sie ist noch in derselben Nacht gestorben. Ihr Freund hat den Trailer abgefackelt und die Stadt auf einem gestohlenen Motorrad verlassen. Soweit ich weiß, sucht die Polizei noch immer nach ihm.«
»O Gott, Chris, entschuldige … das tut mir so leid!«
»Nein, ich entschuldige mich. Es ist keine gute Geschichte für eine stürmische Nacht.« Er berührte ihre Hand. »Sie hat nicht mal eine Moral, außer ›so ist das Leben nun mal‹. Aber wenn ich ein bisschen zögerlich gewirkt habe, mich in deinen Konflikt mit Ray einzumischen …«
»Das verstehe ich. Und ich bin wirklich dankbar für deine Hilfe. Aber, Chris? Ich werde mit Ray fertig. Mit oder ohne deine Hilfe. Lieber natürlich mit, aber … verstehst du?«
»Du willst mir sagen, dass du nicht Portia bist.«
Es war kein Licht im Zimmer mehr außer dem Nachschimmern der untergegangenen Sonne auf UMa47/E. Subjekt hatte sein Nachtlager aufgeschlagen. Oberhalb der Schluchtwände standen Sterne in Konstellationen, die keinen Namen hatten, keinen Namen auf der Erde jedenfalls.
»Ich will dir sagen, dass ich nicht Portia bin. Und ich will dir eine Tasse Tee anbieten. Interesse?«
Sie nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm in die Küche, wo das Fenster weiß war vom Schnee und der Kessel bald darauf den Kontrapunkt sang zum Heulen des Windes.
Sue Sampel war hellwach, als es an der Tür klingelte, obwohl es schon weit nach Mitternacht war — fast drei nach ihrer Armbanduhr.
Angesichts des Sturms draußen und der nervösen Energie, die sie bei ihrem Übergriff auf Rays Büro geladen hatte, war an Schlaf nicht zu denken. Sebastian, der Gute, war gegen Mitternacht nach oben gegangen und auf der Stelle eingeschlafen. Sie hatte es sich mit seinem Buch, sozusagen als stellvertretendem Gesellschafter, gemütlich gemacht. Mit dem Buch und außerdem einem großen Cognacschwenker voll Pfirsichbrandy.
Das Buch allerdings machte beim zweiten Durchgang einen deutlich weniger stichhaltigen Eindruck. Es war schön geschrieben und steckte voller verblüffender Ideen, aber es traten jetzt doch einige Lücken und Sprünge in der Logik hervor. Vermutlich war es das, was Elaine Coster auf die Palme getrieben hatte: Sebastians fröhliche Vorliebe für haarsträubende Hypothesen.
Zum Beispiel erklärte Sebastian in dem Buch, dass das, was man gemeinhin als »das Vakuum des Raumes« bezeichnete, mehr sei als bloß eine Abwesenheit von Materie: nämlich ein komplexes Gebräu von virtuellen Partikeln, die ihre eben begonnene Existenz zu schnell wieder beendeten, um mit der gewöhnlichen Substanz der Dinge zu interagieren. Das war noch vereinbar mit Sues Erinnerung an ihren Physik-Grundkurs. Sie vermutete aber, dass Sebastian sich wissenschaftlich auf weniger festem Boden bewegte, wenn er behauptete, dass örtlich zu definierende Unregelmäßigkeiten im Quantenvakuum die Existenz von »dunkler Materie« im Universum erklärten. Und seine grundlegende Annahme — dass nämlich dunkle Materie so etwas wie ein geisterhaftes, das Quantenvakuum bewohnendes neurales Netzwerk repräsentiere — wurde eigentlich von niemandem ernst genommen außer von Sebastian selbst.
Aber Sebastian war kein Wissenschaftler und hatte auch nie den Anspruch erhoben, einer zu sein. Zur Rede gestellt, pflegte er zu sagen, diese Ideen seien »Muster« oder »Vorschläge« und nicht unbedingt wörtlich zu nehmen. Sue verstand das wohl, wünschte sich aber, es könnte anders sein; sie hätte es vorgezogen, wenn seine Theorien solide wären wie ein Haus, solide genug, um darin Schutz zu finden.
Nicht, dass ihr eigenes Haus heute Nacht einen übermäßig soliden Eindruck machte. Der Wind wütete wie verrückt und der Schnee war so dicht, dass der Blick aus dem Fenster anmutete wie das O/BEK-Bild eines Planeten, der für menschliches Leben ungeeignet war. Sie kuschelte sich noch ein bisschen tiefer ins Sofa, nahm einen weiteren Schluck Brandy und las:
Das Leben entwickelt sich, indem es sich in vorher bestehende Bereiche ausdehnt und sich vorher bestehende Naturkräfte nutzbar macht. Die Gesetze der Aerodynamik waren im natürlichen Universum bereits latent vorhanden, als sie von Insekten und Vögeln »entdeckt« wurden. Ebenso wurde das menschliche Bewusstsein nicht de novo erfunden, sondern es repräsentiert implizit eine von der Biologie übernommene universale Mathematik …
Dies war die Vorstellung, die Sue am besten gefiel, dass die Menschen ein Stück von etwas Größerem seien, etwas, das hier in einer Gestalt namens Sue Sampel auftrat, dort in einer Gestalt namens Sebastian Vogel, beide einzigartig, aber miteinander verbunden, so wie auch zwei verschiedene Berggipfel Teile ein und des selben Planeten waren. Was, dachte sie, wären wir sonst anderes als verlorene Tiere. Einsam und verlassen, aus dem Mutterschoß verstoßen, unwissend und lebensunfähig.
Die Türklingel jagte ihr einen Schrecken ein. Ihr Haus-Server war immerhin so freundlich, das Geräusch zu dämpfen, aber als sie fragte, wer da sei, antwortete er: »Person unbekannt«. Ihr Magen zog sich zusammen. Also jemand, der nicht als einer ihren regelmäßigen Besucher verzeichnet war.
Ray Scutter, dachte sie. Wer sonst? Elaine hatte sie gewarnt, dass dergleichen passieren könnte. Ray war impulsiv, seit der Abriegelung impulsiver denn je, vielleicht gar impulsiv genug, um dem Sturm zu trotzen und um drei Uhr morgens auf ihrer Türschwelle aufzutauchen. Inzwischen konnte er Kenntnis von Elaines gewaltiger Mail-Aktion erlangt haben. Er würde natürlich wissen (wenn auch vermutlich nicht beweisen können), dass Sue die Kopien aus seinem Schreibtisch geschmuggelt hatte. Er würde wütend sein, fuchsteufelswild wohl sogar, gefährlich. Ja, aber wie gefährlich? Wie verrückt war Ray Scutter letzten Endes?
Hätte sie doch nur ein bisschen weniger getrunken! Aber sie hatte gedacht, vom Alkohol würde sie schlafen können, denn das Pot war ihr vor einem Monat ausgegangen. Nach Sues Erfahrung ließen Drogen und Alkohol sich mit Männern vergleichen, und der beste Partner war das Pot. Kokain warf sich gern in Schale und ging auf die Piste, sehr elegant, aber du musstest damit rechnen, dass es dich auf der Party plötzlich im Stich ließ oder in den frühen Morgenstunden anfing, dich zu schikanieren. Alkohol verbreitete am Anfang immer mächtig gute Laune, aber am Ende wurde es dann oft peinlich; Alkohol war ein Typ in einem grellen Hemd, ein Typ mit Mundgeruch und zu vielen Meinungen, die er glaubte kundtun zu müssen. Pot dagegen … Pot stand auf Kuscheln und Sex. Pot löffelte gerne Eiskrem und guckte sich die Late Show an. Pot fehlte ihr sehr.
Wieder ging die Klingel. Sue spähte aus dem Seitenfenster. Tatsächlich, das war eindeutig Rays kleines mitternachtsblaues Auto, das da neben den Schneewehen am Straßenrand parkte, und es musste ein ziemlich gutes Antriebssystem haben, um durch den immer tieferen Schnee bis hierhergekommen zu sein.
Neuerliches Klingeln setzte ein, vom Server verächtlich leiser gestellt.
Sie konnte ihn natürlich einfach ignorieren. Aber das kam ihr feige vor. Es bestand eigentlich kein Grund, sich zu fürchten. Was konnte er schon groß tun? Sie anschreien? Ich bin erwachsen, sagte sie sich. Ich kann damit umgehen. Besser, man bringt es hinter sich.
Sie überlegte, ob sie Sebastian wecken sollte, und entschied sich dann aber dagegen. Sebastian war so manches, aber gewiss kein Kämpfertyp. Sie würde alleine zurechtkommen. Erst mal hören, was Ray wollte; ihm dann notfalls sagen, er solle sich verziehen.
Doch vorher ging sie noch in die Küche und zog ein Tranchiermesser aus dem Messerblock, für alle Fälle. Allerdings kam sie sich dabei ein bisschen idiotisch vor — das Messer war eigentlich nur eine Art emotionaler Versicherung, eine Krücke, um sich tapfer zu fühlen — und so hielt sie es hinter ihrem Rücken versteckt, als sie zur Tür ging. Um sie nun zu guter Letzt zu öffnen, denn schließlich waren sie hier in Blind Lake, der sichersten Gemeinde auf dem ganzen Erdball, selbst dann, wenn der eigene Vorgesetzte zufällig gerade ganz furchtbar sauer auf einen war.
Ihr Herz klopfte mit verdoppelter Geschwindigkeit.
Ray stand in einer langen schwarzen Jacke unter dem gelben Verandalicht. Der Wind hatte ihm das Haar zerzaust und mit Schneesternchen verziert. Die Lippen waren geschürzt, die Augen blitzten. Sue blieb breit in der Tür stehen, darauf eingerichtet, sie ihm notfalls vor der Nase zuzuschlagen. Bitterkalte Luft wehte ins Haus. Sie sagte: »Ray …«
»Sie sind gefeuert«, sagte er.
Sie sah ihn blinzelnd an. »Was?«
Seine Stimme war ruhig und fest, seine Lippen in einer Art permanentem Grinsen eingefroren. »Ich weiß, was Sie getan haben. Ich bin gekommen, Ihnen mitzuteilen, dass Sie gefeuert sind.«
»Ich bin gefeuert? Sie sind hier rausgefahren, um mir zu sagen, dass ich gefeuert bin?«
Das war zu viel. Die Anspannung des Tages hatte sich in ihr angesammelt wie eine elektrische Ladung, und dies war jetzt eine so groteske Antiklimax — Ray entließ sie aus einem Job, der schon längst überflüssig und unwichtig geworden war —, dass sie Mühe hatte, ein ernstes Gesicht zu machen.
Was wollte er als Nächstes tun, sie aus Blind Lake rausschmeißen?
Aber sie spürte, dass es absolut notwendig war, ihre Belustigung zu verbergen. »Ray«, sagte sie, »tut mir leid, aber sehen Sie mal, es ist spät …«
»Halten Sie den Mund, verdammt noch mal! Sie sind eine ganz gemeine Diebin. Ich weiß, dass Sie die Dokumente gestohlen haben. Und über die andere Sache weiß ich auch Bescheid.«
»Die andere Sache?«
»Muss ich Ihnen ein Diagramm malen? Das Gebäck!«
Der DingDong.
Das war der Auslöser. Wider Willen musste sie lachen — ein ersticktes Kichern, das sich schnell in ein hilfloses Gelächter aus vollem Halse verwandelte. Gott, der DingDong — Sebastians Ersatzgeburtstagskuchen — der beschissene DingDong!
Sie lachte noch immer, als Ray ihr an die Kehle ging.
Sebastian hatte schon immer einen gesunden Schlaf gehabt.
Er schlief schnell ein, wachte langsam auf. Seminare am Morgen waren der Fluch seiner akademischen Karriere gewesen. Er wäre ein grottenschlechter Mönch geworden, hatte er schon oft gedacht. Unfähig, den Zölibat einzuhalten, und immer zu spät zur Frühmette.
Trotz des fernen Geräusches der Türklingel schlief er weiter und auch trotz des beträchtlichen Lärms, der folgte. Er erwachte, als jemand seinen Namen flüsterte.
Oder vielleicht war es nur der Wind. In einen Kokon von Decken eingehüllt, öffnete er die Augen in dem verdunkelten Zimmer, lauschte für einen Moment und hörte weiter nichts als das Klagen des Sturms in den Dachtraufen. Er langte auf Sues Bettseite, fand sie aber kalt und leer. Nicht ungewöhnlich. Sue litt oft an Schlaflosigkeit. Er machte die Augen wieder zu und seufzte behaglich.
»Sebastian!«
Sues Stimme. Sie war nicht im Bett, aber sie befand sich hier im Zimmer, und sie klang verängstigt. Er schüttelte den Schlaf von sich ab wie ein nasser Hund das Wasser. Er streckte die Hand nach der Nachtischlampe aus, stieß sie beinahe um. Das Licht ging an, und jetzt sah er Sue an der Zimmertür, eine Hand gegen ihren Unterbauch gepresst. Sie war blass und schwitzte.
»Sue? Was ist los?«
»Er hat mich verletzt«, sagte sie und hob die Hand, um ihm das Blut auf ihrem Nachthemd zu zeigen, das Blut, das eine Lache rund um ihre Füße bildete.
Charlie Grogan lebte, wenn er nicht gerade nach Störungen im Auge Ausschau hielt, in einer kleinen Wohnung in einem Appartementhaus wenige Straßen nördlich der Plaza.
Charlie schlief im Schlafzimmer, Boomer, sein alter Hund, in einem aus Baumwolldecken gebildeten Nest in einer Ecke der Küche. Das Klingeln weckte sie beide gleichzeitig, aber Boomer war als Erster auf den Beinen. Charlie, der sich mühsam aus einem verworrenen Traum über das Subjekt löste, langte nach seinem Pocket-Server und drückte auf die Foyer-Verbindung. »Wer ist da?«
»Ray Scutter. Tut mir leid, ich weiß, dass es spät ist. Ich störe Sie nur ungern, aber es handelt sich gewissermaßen um einen Notfall.«
Ray Scutter, unten am Eingang im schlimmsten Sturm dieses Winters. Mitten in der Nacht. Charlie schüttelte den Kopf. Er war auf seriöses Nachdenken nicht vorbereitet. Er sagte: »Ja, okay, kommen Sie rauf«, und ließ die Haustür aufspringen.
Er hatte Hemd, Hosen und Socken übergezogen, als Ray die Wohnungstür erreichte. Boomer flippte fast aus angesichts dieser nächtlichen Aktivität, und Charlie musste ihm befehlen, Ruhe zu geben, als Ray die Wohnung betrat. Boomer beschnüffelte die Knie des Mannes, dann schlurfte er mit sichtlichem Unbehagen davon.
Ray Scutter. Charlie kannte den derzeit leitenden Verwaltungsmann vom Sehen, hatte ihn aber noch nie persönlich gesprochen. Auch Rays Rede bei der Versammlung hatte er nicht selber miterlebt, aber schon gehört, dass sie eine Katastrophe gewesen sei. Charlie war in solchen Belangen großzügig: Er hasste das Reden in der Öffentlichkeit und wusste, wie leicht man am Rednerpult ins Stocken geraten kann.
»Sie können Ihre Jacke in den Schrank hängen«, sagte Charlie. »Setzen Sie sich.«
Ray tat keins von beidem. »Ich bleib nicht lange«, sagte er. »Und ich hoffe, dass Sie mitkommen werden, wenn ich gehe.«
»Wie das?«
»Ich weiß, wie seltsam das klingt, Mr. Grogan — Charlie, nicht wahr?«
»Charlie ist in Ordnung.«
»Charlie, ich bin gekommen, um Sie um Hilfe zu bitten.«
Etwas in Rays Stimme machte Boomer zu schaffen, sein Jaulen drang aus der Küche. Charlie hatte mehr Probleme mit der äußeren Erscheinung des Mannes — derangierter Anzug, zerzauste Haare, im Gesicht allem Anschein nach frische Kratzspuren.
Es war viel Tratsch über Ray Scutter im Umlauf; es hieß, er sei ein lausiger Geschäftsführer und ein echtes Arschloch im persönlichen Umgang. Aber Charlie hielt nichts von solchem Gerede. Wie auch immer, Chef war Chef. »Wie kann ich Ihnen denn behilflich sein, Mr. Scutter?«
»Sie besitzen doch einen Zugangs-Transponder für das Auge, nicht wahr?«
»Das stimmt, aber …«
»Ich möchte nichts weiter als einen geführten Rundgang.«
»Wie bitte?«
»Ich weiß, es ist außergewöhnlich. Ich weiß auch, dass es vier Uhr morgens ist. Aber ich habe einige Entscheidungen zu treffen, Charlie, und das möchte ich nicht tun, bevor ich die Anlage nicht persönlich inspiziert habe. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Sir«, sagte Charlie, »wir haben eine Nachtschicht, die im Moment Dienst tut. Sie brauchen mich wahrscheinlich gar nicht. Ich ruf nur eben Anne Costigan an …«
»Rufen Sie niemanden an. Die Leute sollen gar nicht wissen, dass ich komme. Ich möchte da einfach hingehen, nur wir beide, Sie und ich, und wir machen einen diskreten Rundgang und sehen, was wir sehen. Falls sich jemand beschwert — falls Anne Costigan sich beschwert —, übernehme ich die Verantwortung.«
Gut, dachte Charlie, denn es war ja Rays Verantwortung. Zögernd nahm er seine Winterjacke vom Kleiderhaken im Flur.
Boomer war überhaupt nicht zufrieden mit dieser Wendung der Ereignisse. Er jaulte erneut und stakste dann ins Schlafzimmer, wahrscheinlich, um ein warmes Plätzchen in Charlies Bett zu finden, denn Boomer war ein opportunistischer Hund.
Sie fuhren mit Rays Auto, einem gedrungenen kleinen Fahrzeug mit einer Menge von Schlechtwetteroptionen. Es wurde recht gut mit dem Schnee fertig, Mikroprozessoren kontrollierten jedes einzelne Rad und fanden selbst dort noch Bodenhaftung, wo es eigentlich keine geben konnte. Dennoch war es ein langsames Vorankommen. Der Schnee fiel wie säckeweise ausgekipptes nasses Konfetti, fast zu viel und zu schnell, als dass die Scheibenwischer noch dagegen ankamen. In dieser Undurchsichtigkeit von Zeit und Raum waren die Straßenlampen die einzigen Orientierungspunkte, Kerzen gleichsam, die mit metronomischer Regelmäßigkeit in der Dunkelheit aufleuchteten.
Im dicht abgeschlossenen Innenraum des Wagens verströmte Ray einen recht strengen Geruch. Sein Schweiß hatte einen seltsam essigsauren Unterton, gar nicht angenehm, und dazu kam auch noch etwas Kupferartiges, ein Geruch, wie man ihn mit den Backenzähnen aufnimmt. Charlie überlegte, wie er inmitten des Schneesturms ein Fenster öffnen konnte, ohne Ray zu nahe zu treten.
Ray redete ein bisschen während der Fahrt. Es war keine Unterhaltung im eigentlichen Sinne, da Charlie wenig dazu beizutragen hatte. Einmal aber sagte er: »Wenn Sie mir sagen, was Sie dort im Auge suchen, Mr. Scutter, dann kann ich Ihnen vielleicht helfen, es zu finden.«
Doch Ray schüttelte nur den Kopf. »Ich vertraue Ihnen«, sagte er, »und ich verstehe Ihre Neugier, aber ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen.«
Da Ray seit Beginn der Abriegelung mehr oder weniger der Boss von Blind Lake war, hätte Charlie angenommen, er wäre befugt, über so ziemlich alles zu sprechen, was ihm in den Sinn kam. Er hakte allerdings nicht weiter nach. Ihm wurde bewusst, dass er Angst hatte vor Ray Scutter, und zwar nicht nur, weil dieser eine leitende Position bekleidete, sondern Ray strahlte auch sehr sonderbare Schwingungen aus.
Die Flecken auf seiner Jacke und der Hose, dachte Charlie, sahen aus wie getrocknetes Blut.
»Sie arbeiten schon lange mit den O/BEK-Prozessoren«, sagte Ray.
»O ja, Sir. Seit Gencorp-Zeiten. Ich habe sogar noch Dr. Gupta erlebt, als er im Berkeley-Laboratorium wirkte.«
»Haben Sie sich jemals gefragt, Charlie, was wir zum Leben erweckt haben, als wir das Auge bauten?«
»Wie bitte?«
»Als wir einen so beschissen großen mathematischen Phasenraum bauten und ihn mit selbstregulierendem Code bevölkerten?«
»Na ja, so kann man es wohl auch sehen.«
»Es gibt im ganzen Universum kein Phänomen, das man nicht mathematisch beschreiben könnte. Alles nichts als Rechenoperationen, Charlie, Sie und ich eingeschlossen, wir sind nur kleine separierte Berechnungen, Wasser und Minerale, die Millionen Jahre alten Bauanleitungen ausführen.«
»Das ist eine düstere Sichtweise.«
»Sagte der Affe, als er Gefahr witterte.«
»Wie bitte?«
»Nichts. Entschuldigen Sie. Ich hab ein bisschen wenig geschlafen.«
»Das kenne ich«, sagte Charlie, obwohl er sich kaum jemals so hellwach gefühlt hatte wie in diesem Moment.
Irgendwie gelang es Ray, das Auto auf der Straße zu halten. Charlie war überaus erleichtert, als er linker Hand den Wachposten auftauchen sah. Er fragte sich, wer wohl das Pech gehabt hatte, in einer so elenden Nacht — ach nein, es war schon Morgen — zum Wachdienst eingeteilt zu werden. Es war Nancy Saeed, wie sich herausstellte. Sie scannte Charlies Zugangsausweis und nahm sichtlich überrascht die Anwesenheit Ray Scutters zur Kenntnis. Nancy war früher bei der Navy gewesen; als sie Ray sah, setzte sie zu einem militärischen Gruß an, besann sich dann aber eines Besseren.
Kurz darauf parkte Ray ganz in der Nähe des Haupteingangs. Das war der Vorteil, wenn man so früh kam: Man fand auf jeden Fall einen guten Parkplatz.
Er führte Ray in sein Büro, wo sie ihre Jacken ablegten. Charlie hatte schon zahlreiche Führungen für Würdenträger und Prominente bestritten und dabei einen festen Ablauf entwickelt: Einführung und Verhaltensregeln in seinem Büro, anschließend der Rundgang. Aber dies war jetzt keine der üblichen Schauveranstaltungen. Alles andere als das.
»Ich habe Ihre Tochter letztens hier getroffen«, sagte Charlie.
Ray neigte den Kopf auf die Seite wie ein Raubtier, das Witterung aufnimmt. »Tessa war hier?«
»Tja, sie … ja, sie kam vorbei und wollte den Betrieb mal sehen.«
»Ganz allein?«
»Ihre Mutter hat sie hinterher abgeholt.«
Ray zog eine Grimasse. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen sagen, dass ich stolz bin auf meine Tochter, Charlie. Leider kann ich das nicht. In vieler Hinsicht ist sie das Kind ihrer Mutter. Dieses Risiko geht man immer ein, wenn man das genetische Rouletterad in Bewegung setzt. Haben Sie Kinder?«
»Nein«, sagte Charlie.
»Gut für Sie. Niemals die eigenen Basispaare auflösen, sonst ist man immer der Angeschissene.«
»Sir.« Charlie wusste nicht, wo er hingucken sollte.
»Was wollte sie, Charlie?«
»Ihre Tochter? Sich einfach mal umsehen.«
»Tess hat einige emotionale Probleme gehabt. Manchmal ist Wahnsinn ansteckend.«
Wenn das so ist, dachte Charlie, dann wäre eine Untersuchung bei dir überfällig. »Es passieren seltsame Dinge«, sagte er, um einen freundlichen Ton bemüht. »Ziehen Sie doch Ihre Schuhe aus und schlüpfen Sie in eins von diesen Wegwerfpaaren. Ich bin gleich wieder da.«
»Wo wollen Sie hin?«
»Ich will sehen, ob ich einen Installateur zu fassen kriege«, sagte Charlie.
Er ging so weit den Flur hinunter, dass es glaubwürdig wirkte. Sobald er um eine Ecke gebogen war, zückte er seinen Pocket-Server und verlangte nach Tabby Menkowitz vom Sicherheitsdienst. Gleich darauf hatte er sie am Apparat.
»Charlie? Es ist eine Stunde vor Sonnenaufgang — was machen Sie hier?«
»Ich glaube, wir haben eventuell ein Problem, Tab.«
»Wir haben viele Probleme. Welche Geschmacksrichtung können Sie anbieten?«
»Ray Scutter ist in meinem Büro und möchte eine Führung durchs Werk.«
»Sie wollen mich auf den Arm nehmen.«
»Schön wär's.«
»Er soll einen Termin vereinbaren. Wir haben schon genug zu tun.«
»Tabby, ich kann ihm nicht einfach sagen …« Er stutzte über das, was sie gesagt hatte. »Was habt ihr zu tun?«
»Wissen Sie das nicht? Sprechen Sie mit Anne. Ist vielleicht ganz gut, dass Sie jetzt aufgekreuzt sind. Soweit ich höre, geben die O/BEKs lauter sonderbare Zahlen aus, und die Leute von der Beobachtung sind aus irgendeinem Grund total aufgeregt … Aber dafür bin ich nicht zuständig, ich weiß nur, dass alle zu beschäftigt sind, um sich mit der Verwaltung auseinanderzusetzen. Also setzen Sie Mr. Scutter in die Warteschleife.«
»Ich glaube nicht, dass er in der Stimmung ist zu warten. Er …«
»Charlie! Ich habe zu tun, okay? Kümmern Sie sich drum!«
Charlie eilte zurück in sein Büro. Irgendetwas Schwerwiegendes war mit den O/BEKs im Gange, und er wollte nach unten, um die Sache unter die Lupe zu nehmen. Aber eins nach dem anderen. Erst einmal Ray, wenn möglich, nach draußen komplimentieren, oder ihn mit Tabby verbinden, falls er damit ein Problem hatte.
Aber das Büro war leer.
Ray war weg. Ebenfalls weg war, wie Charlie sofort bemerkte, seine Ausweiskarte, die ihm überall Zugang verschaffte: einfach vom Revers seiner Jacke gepflückt, die er an den Haken neben der Tür gehängt hatte.
»Scheiße«, sagte Charlie.
Er rief noch einmal Tabby Menkowitz an, doch diesmal konnte er sie nicht erreichen. Irgendwas stimmte nicht mit seinem Pocket-Server. Er klingelte einmal, dann wurde der Bildschirm blau. Er hantierte noch immer mit dem Gerät, als plötzlich der Boden unter seinen Füßen zu vibrieren begann.
Unter dem Gezwitscher seines Pocket-Servers, den er auf den Nachttisch gelegt hatte und der dort leuchtete wie ein phosphoreszierender Bleistift, stieg Chris aus schwarzem und traumlosem Schlaf auf. Er konsultierte die Uhr im Display, bevor er auf den Annahmeknopf drückte. Es war vier Uhr morgens. Er hatte gerade mal eine Stunde richtig geschlafen. Der Sturm nagte noch immer an der Hülle des Hauses.
Es war Elaine Coster, die ihn anrief. Sie sei in der Ambulanz, teilte sie mit, zusammen mit Sebastian Vogel und Sue Sampel. Sue habe Stichverletzungen erlitten, die ihr Ray Scutter zugefügt hatte. »Vielleicht solltet ihr herkommen, falls ihr es schafft bei diesem Wetter. Ich meine, es ist nicht hundertprozentig dringend; Sue wird's überleben — sie hat übrigens sogar nach euch gefragt —, aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass es vielleicht ganz klug wäre, wenn unser Haufen für eine Weile zusammenbliebe.«
Chris sah, wie Marguerite sich unruhig unter den Decken wälzte. »Wir kommen so schnell wir können.«
Er weckte sie und erzählte ihr, was passiert war.
Marguerite überließ es Chris, das Auto durch den Schnee zu navigieren. Sie saß auf dem Rücksitz neben Tess, die sich nur unwillig wach hielt und noch nicht wusste, was ihr Vater getan hatte. Marguerite hatte die Absicht, es auch dabei zu belassen, jedenfalls vorläufig. Die Belastungen für Tess waren auch so schon groß genug.
Für die Dauer der Fahrt, während Tessas Kopf in ihrem Schoß lag, der Schnee sich an den Wagenfenstern festsetzte und ganz Blind Lake in eine eisige Dunkelheit eingewickelt schien, dachte Marguerite über Ray nach.
Sie hatte ihn falsch eingeschätzt. Sie hätte nie geglaubt, dass Ray sich zu Gewalttaten würde hinreißen lassen. Selbst jetzt noch konnte sie es sich kaum vorstellen: Ray mit einem Messer. Es war ein Messer gewesen, hatte Chris gesagt. Ray hat ein Messer, und er benutzt es, sticht mit dem Messer in Sue Sampels Körper.
»Weißt du«, sagte sie zu Chris. »Ich bin nur einmal in meinem Leben ohnmächtig geworden. Und zwar wegen einer Schlange.«
Chris kämpfte mit dem Lenkrad, als sie um die Ecke in Richtung Einkaufszentrum bogen. Der Wagen geriet ins Schleudern, die Mikroprozessoren gaben blinkende Warnhinweise auf den Verlust der Bodenhaftung, dann fassten die Reifen wieder. Chris hatte Zeit, ihr einen neugierigen Blick zuzuwerfen.
»Ich war sieben Jahre alt«, sagte Marguerite. »Eines Morgens im Sommer ging ich aus dem Haus, und da lag eine Schlange zusammengerollt auf der Verandatreppe, nahm ein Sonnenbad. Eine große Schlange, und sie glänzte richtig auf der alten Holzstufe. Zu groß und zu glänzend, um echt zu sein. Ich glaubte, es sei eine nachgemachte, eine Spielzeugschlange, die irgendein Nachbarskind da hingelegt hatte, um mir einen Streich zu spielen. Also bin ich über sie rübergesprungen. Dreimal. Hin und zurück. Für den Fall, dass jemand zuguckte, nur um zu beweisen, dass man mich nicht reinlegen konnte. Die Schlange rührte sich nicht, und ich ging weiter in die Bücherei, ohne weiter darüber nachzudenken. Aber als ich nach Hause kam, erzählte mir mein Vater, er hätte morgens eine Klapperschlange getötet. Sie sei auf die Veranda gekommen und er habe eine Schaufel benutzt, um sie in zwei Teile zu hacken. Die Schlange sei lethargisch gewesen in der kühlen Luft, sagte er, aber er habe vorsichtig sein müssen. So eine Schlange könne schneller zustoßen als ein Blitz und verspritze genug Gift, um ein Pferd zu töten.« Sie sah Chris an. »Das war der Moment, wo ich ohnmächtig wurde.«
Zwanzig Minuten später erreichten sie die Ambulanz. Chris parkte das Auto unter einem schützenden Betonüberhang, mit der Beifahrerseite halb auf dem Gehsteig. Elaine Coster kam ihnen im Vorraum entgegen. Auch Sebastian Vogel war da, saß zusammengesunken auf einem Stuhl, den Kopf in die Hände gestützt.
Elaine fasste Marguerite ins Auge. »Sue möchte mit Ihnen sprechen.«
»Mit mir?«
»Die Wunde ist mehr oder weniger nur oberflächlich. Man hat sie genäht und ihr ein Schmerzmittel gegeben. Die Schwester meint, sie müsste eigentlich schlafen, aber vor ein paar Minuten war sie hellwach, und als ich erwähnte, dass ihr auch kommen wolltet, sagte sie: ›Ich möchte mit Marguerite sprechen.‹«
O Gott, dachte Marguerite. »Na ja, wenn sie immer noch wach ist …«
»Ich zeig Ihnen den Weg.«
Chris versprach, sich um Tess zu kümmern, die ein schläfriges Interesse an den Wartezimmerspielsachen zu fassen begann.
»Kommen Sie rein, meine Liebe«, sagte Sue. »Ich bin zu schwach, um zu beißen.«
Marguerite betrat das Krankenzimmer. Es befand sich im selben Flur wie das, in dem Adam Sandoval ohne Bewusstsein lag — der Mann, der in einem beschädigten Flugzeug auf Blind Lake gestürzt war. Sue lag definitiv nicht im Koma, aber sie wirkte bestürzend schwach. Sie war in eine halb liegende, halb sitzende Haltung gebettet, in ihrer Ellenbeuge steckte eine Infusionsnadel. Ihr Gesicht war blass, und sie wirkte viel älter, als sie war — Anfang bis Mitte vierzig. Aber sie brachte ein Lächeln zustande.
»Ehrlich«, sagte sie, »es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Ich hab einiges an Blut verloren, aber das Messer hat nichts Wichtigeres beschädigt als das, was Dr. Goldhar als ›adipöses Gewebe‹ bezeichnet. Fett, mit anderen Worten. Anscheinend haben mich all die Nachtische gerettet, die ich in meinem Leben gegessen habe. Wie der Typ im Film, der von einer Kugel ins Herz getroffen worden wäre, wenn er nicht seine Bibel in der Brusttasche gehabt hätte. Da steht ein Stuhl neben dem Bett, Marguerite. Wollen Sie sich nicht setzen? Ich werde müde, wenn ich Sie da stehen sehe.«
Gehorsam setzte sich Marguerite. »Sie müssen große Schmerzen haben.«
»Jetzt nicht mehr. Die haben mich mit Morphium oder so was Ähnlichem vollgepumpt. Die Schwester sagt, dass man normalerweise davon müde wird, aber ich zeige eine ›idiosynkratische Reaktion‹. Ich glaube, das bedeutet, dass ich sitzen und reden will. Was meinen Sie, ist das so ein Gefühl, wie es Drogenabhängige haben? An einem guten Tag?«
»Zuerst vielleicht.«
»Das heißt, es hält nicht an. Sicherlich haben Sie recht, es ist ein bisschen so ein Kartenhausgefühl, als könne es nicht ewig so weitergehen, Euphorie mit Verfallsdatum. Na, ich will's genießen, solange es dauert.«
Es könnte jederzeit zu Ende gehen, dachte Marguerite. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das tut.«
»Danke, aber es braucht Ihnen nicht leidzutun. Ehrlich, ich find's toll, dass ihr alle bei diesem scheußlichen Wetter hergekommen seid.«
»Als ich hörte, dass Ray … dass er es war, der Sie verletzt hat …«
»Ja, was war da?«
»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.«
»Ich habe befürchtet, dass Sie das sagen würden. Deswegen wollte ich ja mit Ihnen sprechen.« Sie runzelte die Stirn. Dadurch wirkte ihr Gesicht noch eingefallener. »Ich kenne Sie nicht sehr gut, Marguerite, aber wir kommen ganz gut miteinander aus, nicht wahr?«
»Ich finde, ja.«
»Gut genug, dass ich ein bisschen persönlich werden kann?« Sie wartete die Antwort nicht ab. »Mein Eindruck ist, dass ich ein paar Erfahrungen mehr mit Männern gesammelt habe als Sie. Nicht unbedingt gute Erfahrungen, aber jedenfalls mehr. Das soll nicht heißen, dass ich eine Schlampe bin oder Sie eine Jungfrau, sondern einfach nur, dass wir an unterschiedlichen Punkten der Verteilungskurve stehen, wenn Sie wissen, was ich meine … Entschuldigung, ich bin ein bisschen wirr im Kopf. Haben Sie Geduld mit mir. Zu den Dingen, die ich gelernt habe, gehört, dass man keine Verantwortung dafür übernehmen kann, was ein Mann tut. Schon gar nicht, wenn man ihn bereits rausgeschmissen hat, weil er so ein Arschloch ist. Also bitte, entschuldigen Sie sich bitte nicht für Ray. Er ist kein Pitbull, den Sie an die Leine hätten nehmen müssen. Er war allein verantwortlich für sein Verhalten, als ihr verheiratet wart. Und er ist ganz allein verantwortlich für das hier.«
Sie zeigte auf den Verband, der sich unter der dünnen Decke abzeichnete.
»Ich wünschte, ich hätte etwas tun können, um ihn aufzuhalten«, sagte Marguerite.
»Ich auch. Konnten Sie aber nicht.«
»Ich denke immer wieder …«
»Nein, Marguerite. Nein, wirklich. Sie können nichts dafür.«
Vielleicht nicht. Aber sie hatte das Ausmaß von Rays Wahnsinn systematisch unterschätzt. Sie war hundertmal, ja tausendmal, über diese Klapperschlange gesprungen, und nur ihre naive Unschuld hatte sie beschützt.
Sie hätte dabei draufgehen können. Sue wäre beinahe draufgegangen.
»Na ja … darf ich wenigstens sagen, dass es mir leidtut, dass Sie zu Schaden gekommen sind?«
»Das haben Sie schon. Danke übrigens. Ich möchte auch noch mit Chris sprechen, aber wissen Sie, jetzt werde ich vielleicht doch ein bisschen müde.« Ihre Augenlider gingen auf Halbmast. »Plötzlich ist mir ganz warm und irgendwie — wie heißt das Wort? Orakelhaft.«
»Orakelhaft?«
»Wie das Orakel von Delphi. Weisheit für einen Penny, wenn ich nur lange genug wach bleibe, um sie zu verkünden. Ich fühle mich sehr weise und so, als würde letzten Endes alles gut werden. Da spricht wahrscheinlich das Morphium aus mir. Trotzdem, Chris ist ein anständiger Kerl. Sie haben es gut getroffen mit Chris. Er gibt sich wirklich große Mühe, auch wenn man es vielleicht nicht immer gleich sieht. Alles was er braucht, ist eine bessere Meinung von sich selbst. Er muss sich Ihres Vertrauens sicher sein und er muss dieses Vertrauen rechtfertigen können … aber das Letztere liegt natürlich an ihm.«
Marguerite starrte sie fassungslos an.
»So«, sagte Sue, unglaublich blass jetzt im Vergleich zu dem gebrochenen Weiß des Bettlakens, »ich glaube, jetzt muss ich wirklich schlafen.«
Sie schloss die Augen.
Marguerite saß still da, während Sues Atemzüge regelmäßiger wurden. Dann ging sie auf Zehenspitzen in den Flur und schloss die Tür hinter sich.
Sue hatte sie heute überrascht. Wie auch Ray — auf sehr viel erschreckendere Weise. Und wenn ich schon diese Leute total falsch eingeschätzt habe, dachte sie, wie soll ich dann das Subjekt auch nur ansatzweise verstehen? Vielleicht hatte Ray in diesem Punkt doch recht gehabt. All ihr großspuriges Gerede über das Narrative: absurd, lächerlich, ein kindischer Traum.
In ihrer Tasche trillerte der Server — eine Nachricht aus dem Auge mit einem Dringlichkeitsvermerk. Auf weitere schlechte Nachrichten gefasst, drückte Marguerite auf den Annahmeknopf.
Es war eine SMS von den Leuten aus der Datenerfassung: Setzen Sie sich schnellstens vor den nächsten Bildschirm, stand da.
»Wie ich höre«, sagte Sebastian Vogel zu Chris, »ist die Wunde nicht so übel, wie es zuerst aussah. Ganz ehrlich, ich dachte, dass sie vielleicht stirbt, aber sie hat die ganze Zeit geredet, als ich sie hergefahren habe, beinahe nonstop.«
Sebastian wirkte zerbrechlich, fand Chris, wie er seinen runden Körper da in den nicht sehr großzügig bemessenen Wartezimmerstuhl zwängte. Elaine Coster saß auf der anderen Seite des Empfangsbereiches und machte ein mürrisches Gesicht, während Tess sich ohne Begeisterung mit Wartezimmerspielzeug beschäftigte, das für die Zerstreuung viel jüngerer Kinder gedacht war. Sie schob eine Reihe von bunten Perlen um eine Achterbahn aus gewundenem Draht. Die Perlen stießen klappernd gegeneinander, wenn sie vom höchsten Punkt ins Tal rutschten.
»Sie wollte unbedingt über mein Buch reden«, sagte Sebastian. »Können Sie sich das vorstellen? Wenn man bedenkt, was für Schmerzen sie hatte?«
»Wie schön«, sagte Elaine bissig von der anderen Seite her. »Das hat Ihnen bestimmt geschmeichelt.«
Sebastian schien ehrlich betroffen. »Ich war entsetzt.«
»Warum erwähnen Sie es dann?«
»Es hätte sein können, dass sie stirbt, Elaine. Sie hat mich gefragt, ob es wirklich einen Gott gibt, einen Gott, so wie ich ihn in meinem Buch beschrieben habe. ›Aus dem unser Geist sich erhebt und zu dem er schließlich zurückkehrt‹ — sie hat mich zitiert.«
»Und was haben Sie ihr gesagt?«
»Vielleicht hätte ich lügen sollen. Ich habe gesagt, dass ich es nicht weiß.«
»Wie hat sie es aufgenommen?«
»Sie hat mir nicht geglaubt. Sie glaubt, dass ich einfach nur bescheiden bin.« Er sah erst Elaine an, dann Chris. »Dieses beschissene Buch! Dieses verfluchte Scheißbuch. Natürlich habe ich es des Geldes wegen geschrieben. Nicht mal für viel Geld. Nur ein kleiner Vorschuss von einem zweitklassigen Verlag. Um meine Rente ein bisschen aufzubessern. Niemand hat damit gerechnet, dass es dermaßen einschlägt. Ich habe es nie als etwas verstanden, das die Leute als Glaubensbekenntnis annehmen könnten. Es war allenfalls als eine Art theologischer Science Fiction gedacht, als Witz für Intellektuelle.«
»Eine Lüge, mit anderen Worten«, sagte Elaine.
»Ja, ja, aber ist es das wirklich? In letzter Zeit …«
»Was war in letzter Zeit?«
»Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Es fühlt sich mehr wie Inspiration an. Verstehen Sie die Geschichte dieses Wortes: ›Inspiration‹? Das Pneuma, der heilige Hauch, der Atem des Lebens, der göttliche Atem? Gott einatmen? Vielleicht war es so, dass etwas durch mich gesprochen hat.«
»Klingt eher so, als hätte Ihr Stuss-Detektor versagt«, sagte Elaine, allerdings jetzt schon ein bisschen gemäßigter, wie Chris auffiel, mit weniger Verachtung.
Sebastian schüttelte den Kopf. »Ach, Elaine. Wissen Sie, warum Ihr Zynismus mich nicht trifft? Weil ich ihn teile. Falls ich je aufrichtig an die Existenz Gottes geglaubt habe, bin ich da spätestens in der Pubertät rausgewachsen. Wenn Sie mein Buch als Schwachsinn bezeichnen, Elaine, bin ich der Letzte, der Ihnen widerspricht. Wissen Sie noch, dass Sie prophezeit haben, ich würde eine Fortsetzung schreiben? Sie hatten vollkommen recht. Den Vertrag habe ich unterschrieben in der Woche, bevor ich nach Crossbank gefahren bin. Weisheit & das Quantenvakuum. Lachhaft, nicht wahr? Aber Herrgott noch mal, das Geld, das man mir geboten hat! Nur, um ein paar harmlose Aphorismen in pompöser Sprache zu verfassen. Wem kann das schon schaden? Niemandem. Mir am allerwenigsten. Meine akademische Karriere liegt hinter mir; was ich an wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit besessen habe, ist den Bach runtergegangen, als ich den ersten Band veröffentlichte. Bleibt nichts weiter zu tun, als die Kuh zu melken. Aber …«
Sebastian hielt inne. Elaine überquerte den Fliesenboden und setzte sich neben ihn.
Chris sah Tess zu, die mit einem primitiven Holzauto spielte. Nichts deutete darauf hin, dass sie mitbekam, was gesprochen wurde.
»Aber?«, fragte Elaine nach.
»Aber — wie gesagt — plötzlich frage ich mich — genauer gesagt, manchmal wache ich morgens auf und glaube es. Glaube es von ganzem Herzen, glaube es auf gleiche Weise, wie ich an meine Existenz glaube.«
»Was glauben Sie? Dass Sie ein Prophet sind?«
»Schwerlich. Nein, ich habe beim Aufwachen das feste Gefühl, dass ich über eine Wahrheit gestolpert bin. Versehentlich. Eine grundlegende Wahrheit.«
»Welche Wahrheit, Sebastian?«
»Dass es etwas gibt, das im physischen Prozess des Universums lebt. Das es zwar nicht unbedingt erschafft. Aber vielleicht verändert. Hauptsächlich aber darin lebt. Die Vergangenheit auffrisst und die Zukunft ausscheidet.«
Tess warf ihm einen neugierigen Blick zu, dann rollte sie ihr Auto ein Stückchen weiter weg.
»Wissen Sie«, sagte Elaine, »das wäre ein sicheres Zeichen für Unzurechnungsfähigkeit. Wenn man anfängt, tatsächlich auf die Stimmen in seinem Kopf zu hören.«
»Sicher. Vielleicht bin ich ja verrückt, Elaine, aber ich bin nicht dumm. Ich kann Wahnvorstellungen diagnostizieren. Also frage ich mich, ob Ray Scutter eventuell recht haben könnte, ob Blind Lake tatsächlich mit einer ansteckenden Form von Wahnsinn infiziert wurde. Das würde vieles erklären, nicht wahr? Zum Beispiel, warum wir unter Quarantäne gestellt wurden. Es würde auch Rays eigenes Verhalten zum Teil erklären. Es könnte vielleicht sogar erklären, warum Sue in einem Krankenzimmer liegt, mit einer Stichwunde im Bauch.«
Und es könnte Mirror Girl erklären, dachte Chris.
In Sorge, sie könne die Bemerkung über ihren Vater mitgehört haben, drehte er sich nach Tess um, aber Tess hatte ihr Holzauto neben der Schwingtür mit der Aufschrift ZUTRITT NUR FÜR KRANKENHAUSPERSONAL liegen lassen und war im Flur verschwunden.
Er sprang auf und rief ihren Namen. Keine Antwort.
Tess war auf der Suche nach ihrer Mutter, als sie die Zimmertür des schlafenden Mannes öffnete.
Zuerst dachte sie, dass das Zimmer leer sei. Es war nur schwach beleuchtet, dennoch konnte sie von der Tür aus das Bett erkennen, das Fenster, einen stumm blinkenden Überwachungsmonitor und den skelettartigen Umriss eines Infusionsständers. Sie wollte sich gerade zurückziehen, da sagte der Schlafende: »Hallo, du da. Geh nicht weg.«
Sie zögerte.
Der Schlafende lag regungslos in seinem Bett, doch offenbar schlief er gar nicht. Er klang freundlich. Aber man konnte nie wissen.
»Brauchst keine Angst zu haben«, sagte der Mann. Das »du« ließ er einfach weg, bemerkte Tess. Irgendwie ließ ihn das weniger Furcht erregend erscheinen.
Vorsichtig trat sie einen Schritt näher und sagte: »Sie sind der Mann aus dem Flugzeug.«
»Genau. Das Flugzeug. Ich heiße Adam. Wie in dem Palindrom. ›Madam, I'm Adam‹.« Seine Stimme war die eines alten Mannes, rau und langsam, aber sie klang auch müde. »Seit fünfzehn Jahren hab ich meinen Pilotenschein«, sagte er. »Aber ich bin eigentlich nur ein Wochenendflieger. Ich habe ein Haushaltswarengeschäft in Loveland, Colorado. Adam Sandoval. Der Mann aus dem Flugzeug. Das bin ich. Wie heißt du?«
»Tessa.«
»Und das hier muss Blind Lake sein.«
»Ja.«
»Klingt, als wäre es kalt draußen.«
»Es schneit. Sie können den Schnee gegen das Fenster fallen hören.«
»Schlechte Sicht«, sinnierte Adam Sandoval, als würde er über eine imaginäre Landebahn rollen.
»Sind Sie schwer verletzt?«, fragte Tess. Er hatte sich immer noch nicht bewegt.
»Na ja, ich weiß nicht recht. Ich hab keine Schmerzen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich wirklich wach bin. Bist du ein Traum, Tessa?«
»Ich glaube nicht.« Sie dachte daran, was der Mann getan hatte. Er war buchstäblich aus dem Himmel gefallen. Wie Dorothy. Er war auf einem Wirbelsturm nach Blind Lake gekommen. »Wie ist es draußen?«
»Es schneit, wie du sagst. Und es scheint dunkel zu sein.«
»Nein, ich meine, außerhalb von Blind Lake.«
Der Mann stockte. Es war, als würde er in einer Kiste voller Erinnerungen kramen, einer Kiste, die so lange verschlossen gewesen war, dass er gar nicht mehr wusste, was er dort aufbewahrt hatte.
»Es war schwer an dem Tag, überhaupt in die Luft zu kommen«, sagte er schließlich. »Die Nationalgarde hat die Flughäfen überwacht, sogar die kleinen Provinzflugplätze. Alle machten sich Sorgen wegen der Seesterne.« Wieder machte er eine Pause. »Der Seestern in Crossbank hat meine Frau geholt. Oder sie hat ihn geholt, vielleicht ist das ein besserer Ausdruck für die gleiche Sache.«
Tess hatte nicht die geringste Ahnung, was das alles heißen sollte, aber sie ließ ihn reden. Es wäre unhöflich gewesen, ihn zu unterbrechen. Sie hoffte, dass wenigstens einige seiner Sätze früher oder später einen Sinn ergeben würden.
»Bei Karen, das ist meine Frau, wurde vor sechs Jahren Gebärmutterhalskrebs festgestellt. Man konnte ihn nicht behandeln, weil ihr Immunsystem irgendeine seltene Marotte hatte. Von der Behandlung wäre sie genauso schnell gestorben wie von der Krankheit. Also hat sie sich einer Operation unterzogen und musste alle vier Stunden Tabletten nehmen, um Metastasen zu verhindern, und so hätte sie noch zwanzig Jahre weiterleben können, kein Problem, was macht es denn, wenn man von Zeit zu Zeit ein paar Kapseln von diesem und jenem schlucken muss? Aber Karen meinte, die Tabletten würden sie krank machen — und ich muss zugeben, sie ist tatsächlich die ganze Zeit aufs Klo gelaufen, weshalb es ihr einigermaßen schwerfiel, überhaupt das Haus zu verlassen — und nach der Operation fühlte sie sich müde und alt, wahrscheinlich hatte sie obendrein auch noch Depressionen, obwohl ich eher den Eindruck hatte, dass sie nicht krank war, sondern traurig, die ganze Zeit immerzu traurig.«
»Das tut mir leid«, sagte Tess.
»Sie hat viel Video geguckt, wenn sie allein zu Hause war. Und als dann in Crossbank dieser Seestern auftauchte, hat sie es gleich gesehen auf dem Bildschirm. Ich musste ihr auch alle Nachrichtenmagazine ausdrucken.«
»Ich war in Crossbank«, erklärte Tess. »Voriges Jahr. Ich kann mich aber an keinen Seestern erinnern.«
»Ja, aber das war vorher. Und selbst zu der betreffenden Zeit gab es nicht viele Bilder. Zuerst hat man versucht, es aus den Medien rauszuhalten, aber es gab ein Amateurvideo, das im Umlauf war, und dann tauchte noch eins in Georgia auf, und plötzlich wusste die ganze Welt, was los war, obwohl natürlich niemand wusste, was genau eigentlich los war. Im Kongress gab es eine starke Gruppe, die die Seesterne ohne Umschweife mit Atomraketen beschießen wollten. Karen war entsetzt darüber. Steh mir bei, aber sie fand sie schön.«
»Schön?«
»Die Seesterne. Vor allem den von Crossbank. Allein der Umfang, irgendwie das Größte und Vollkommenste, was man je gesehen hat, und all die Rippen und Bögen aus welchem Material auch immer, Perlmutt oder so was, mit eingearbeiteten Regenbögen. Man wusste, dass man es mit etwas Besonderem zu tun hatte; manche glaubten, es sei etwas Heiliges, während die anderen eher vermuteten, es wären der Teufel und die vier Reiter der Apokalypse zusammengenommen. Wenn man Depressionen hat, kann einem so etwas vielleicht wirklich wie der Weg zum Heil vorkommen. Aber wenn man nichts anderes möchte, als an seinem Leben festzuhalten und es wieder auf Normalkurs zu bringen, dann ist es nur eine weitere Bedrohung und Ablenkung.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Wahrscheinlich muss man es von Anfang an gesehen haben. Vor allem den großen Seestern, der in Crossbank wuchs, dort wo vorher dieses seltsame Teleskop war. Karen wurde immer aufgeregter, je mehr sie davon in den Nachrichten sah, die Soldaten überall, die gesperrten Straßen, und dann die ausländischen Staaten, die wissen wollten, was für ein Teufelzeug wir da ausgebrütet hätten und ob es gefährlich sei, und natürlich konnte niemand diese Fragen beantworten. Weißt du, was mich bei Karen gewundert hat? Die Energie, die sie plötzlich hatte — dieselbe Frau, die sechs Monate lang kaum einmal vom Sofa aufgestanden war. Sie war ziemlich mollig und schwerfällig geworden, trotz der Tabletten und obwohl sie immer aufs Klo musste, aber jetzt wurde sie in null Komma nichts wieder munter. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie nicht vielleicht ihre Medizin einfach abgesetzt hat. Sie schien zu glauben, dass es nicht mehr darauf ankäme, ob sie am Leben blieb oder nicht: Was mit ihr geschah, das war belanglos. Sie hat über diese Dinge nicht gesprochen, verstehst du, aber es hat sie offensichtlich verdammt interessiert, als die Regierung zugeben musste, dass man einige Menschen und einen Haufen von Robotern im Innern des Seesterns von Crossbank verloren hätte. Man konnte in dem Ding herumlaufen oder eine Kamera mit Fernbedienung reinschicken, aber die Kameras hörten sofort auf zu funktionieren und die Leute, die zu weit hineingegangen waren, kamen nie zurück.«
Tess ging zum Fenster, das dunkel und völlig zugeschneit war. Sie konnte sich Mr. Sandovals »Seestern« überraschend deutlich vorstellen. Ein abgeschiedenes Labyrinth, wie eine Schneeflocke, glaubte sie, in drei Dimensionen aufgefaltet. Fast konnte sie es in dem beschlagenen Fensterglas erkennen. Hastig schaute sie wieder weg.
»Was ist mit Ihrer Frau geschehen?«, fragte sie.
»Karen ist eines Tages in unserem alten Ford weggefahren. Keine Erklärung, keine Nachricht, nichts. Ich war natürlich außer mir. Ich habe mehrmals mit der Polizei gesprochen, aber die hatten wahrscheinlich genug zu tun, weil alle Leute plötzlich nach Westen unterwegs waren, bevor dann die Straßensperren errichtet wurden. Schließlich bekam ich die Mitteilung, dass sie verhaftet worden sei, zusammen mit einer Handvoll von sogenannten Pilgern, die versucht hatten, in die verbotene Zone rund um Crossbank einzudringen. Dann rief die Polizei noch mal an und sagte, sie hätten sich geirrt, Karen habe zwar zu der Pilgergruppe gehört, aber sie sei nicht verhaftet worden, sondern sie sei eine von etwa einem Dutzend Personen gewesen, denen es gelungen war, die Blockade über einen alten Ozark-Wanderweg zu durchbrechen. Die Vorstellung, dass Karen über Felsen klettert und aus Bächen trinkt, ist absolut grotesk für mich. Früher hatte sie nicht mal Gefallen daran, im Garten zu grillen, verdammt noch mal. Hat sich über die Mücken beklagt. Ich schwöre, ich habe keine Ahnung, warum es sie auf einmal in die Wälder gezogen hat.«
»Ist sie denn in den Seestern reingegangen?«
»So hat man mir gesagt. Ich war nicht dabei.«
»Und sie ist nicht wieder rausgekommen?«
»Sie ist nicht wieder rausgekommen.« Mr. Sandovals Stimme war ausdruckslos geworden.
Tess dachte darüber nach. »Ist sie gestorben?«
»Na ja, sie ist nicht wieder rausgekommen. Das ist alles, was ich weiß. Und deswegen habe ich ein bisschen verrückt reagiert, schätze ich.«
Tess empfand eine unbestimmte Unruhe darüber, dass er noch immer reglos im Bett lag. »Mr. Sandoval, wenn Sie sich nicht bewegen können, sollte ich vielleicht einen Arzt rufen.«
»Ich kann mich nicht bewegen. Wie gesagt, ich bin mir nicht mal sicher, ob ich wach bin. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass ich keinen Arzt brauche.«
»Ehrlich?«
»Ehrlich.«
»Warum sind Sie nach Blind Lake gekommen?«
»Um das zu töten, was hier wächst.«
Tess war schockiert. Wie Dad, dachte sie. Mr. Sandoval war hergekommen, um Mirror Girl zu töten.
Sie wich einen Schritt zurück.
»Es kommt mir wirklich verrückt vor«, sagte er. »Wenn ich hier so liege und zurückdenke. Komisch, was man zu tun bereit ist, wenn man jemanden verloren hat und nicht weiß, wem man die Schuld dafür geben soll. Es war natürlich zu spät, um irgendwas in Sachen Crossbank zu unternehmen, aber in den Nachrichten war von Blind Lake die Rede gewesen, davon, dass es zugemacht worden sei für den Fall, dass dort das Gleiche passiert. Das hat mich richtig sauer gemacht. Die müssten Bomben drauf schmeißen, habe ich gedacht, bombardieren und auslöschen, wenn auch nur die kleinste Möglichkeit besteht. Aber nein, es gab nur diese Quarantäne. Das war doch Hühnerkacke. Ich entschuldige mich für meine Ausdrucksweise.«
»Ist schon okay«, sagte Tess. »Aber wenn sie uns mit Bomben beworfen hätten, wären wir alle tot.«
Noch während sie das sagte, fragte sie sich, ob es wahr sei. Vielleicht hätte Mirror Girl verhindert, dass die Bomben ihr Ziel trafen. Konnte Mirror Girl so etwas tun? Mirror Girl schien jetzt ganz furchtbar nahe zu sein. Guck nicht zum Fenster, sagte sich Tess. Aber der Wind rüttelte an den Scheiben, als wolle er ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen, als wolle er sagen: Sieh mich an: Sieh mich an!
»Ich schätze, so viel weiß ich jetzt«, sagte Mr. Sandoval. »Ich war wohl zwischendurch ein bisschen durchgedreht. Ich dachte, ich könnte in mein Flugzeug steigen, könnte eine Flugroute über Fargo rauf nach Manitoba anmelden und dann an der richtigen Stelle einen kleinen Schlenker machen … Ich wollte genau in euer Teleskop fliegen, so viel Schaden anrichten wie möglich und dabei selbst zu Tode kommen.«
Das war die Wahrheit, begriff Tess. Teilchen von Mr. Sandovals alter Wut hingen in der Luft über seinem Bett, wie Schneeflocken. Die Sache war erwachsen und mysteriös und gleichzeitig irgendwie kindisch. Ein Plan, wie Edie Jerundt ihn sich hätte ausdenken können. Aber die Wut und die Trauer, die waren ganz und gar erwachsen. Wenn Mr. Sandovals Gefühle einen Geruch hätten, dachte Tess, dann würden sie nach etwas Kaputtem und Elektrischem riechen. Wie überhitzte Kabel und verschmorendes Plastik.
»Jetzt«, sagte Mr. Sandoval, »ist es natürlich zu spät dafür.«
»Ja, Ihr Flugzeug wurde abgeschossen.«
»Nein, ich meine, es hat jetzt schon angefangen. Spürst du es?«
Doch, fürchtete Tess, das konnte sie.
Marguerite wollte nur herausfinden, was die Leute von der Beobachtung so in Erregung versetzt hatte. Die Ambulanz war nahezu verlassen; Dr. Goldhar war, nachdem er Sue genäht und stabilisiert hatte, nach Hause gefahren; Rosalie Bleiler und einige Sanitäter hatten Nachtdienst, ansonsten war noch Sicherheits- und Hauswirtschaftspersonal da. Marguerite öffnete mehrere Türen, bis sie einen leeren Sitzungsraum fand. Sie ging hinein, machte die Tür von innen zu, um ungestört zu bleiben — obwohl sie nichts Unrechtes tat, hatte sie ein Gefühl von Heimlichtuerei —, und schloss ihren Pocket-Server an den im Raum vorhandenen großen Videobildschirm an.
Die Liveübertragung aus dem Auge kam augenblicklich und war gestochen scharf.
Es sah nach spätem Nachmittag auf UMa47/E aus. Nachmittagswinde wirbelten Staub auf, der den Himmel in ein muschelartiges Weiß tauchte. Das Subjekt schien seine geheimnisvolle Odyssee fortzusetzen, wanderte durch flache, erodierte Schluchten, genau wie gestern und auch vorgestern. Was war daran so ungewöhnlich? Es gab keine Texteinblendungen von der Datenerfassung, keine Erklärung für die offenbar herrschende Aufregung.
War es die ungewöhnliche Schärfe des Bildes? Vielleicht hatte die Ambulanz ein moderneres Display installiert; das Bild war lebendiger als alles, was Marguerite bisher gesehen hatte, sogar an den Bildschirmen im Auge selbst nicht. Durchsichtig wie ein Fenster. Sie konnte den Staub sehen, der sich an den Kamm des Subjekts heftete, jedes einzelne Körnchen. Fast konnte sie die trockene Brise im Gesicht spüren.
Dieses Geschöpf, dachte sie. Dieses Ding. Dieses Rätsel.
Subjekt folgte einem alten Flussbett um eine weitere Biegung, und plötzlich sah Marguerite das, was die Leute von der Datenerfassung schon vorher entdeckt haben mussten — etwas so Sonderbares, dass sie einen Schritt zurücktrat und fast über einen Stuhl gefallen wäre.
Etwas ungeheuer Fremdartiges. Etwas Künstliches. Vielleicht war es sogar das, was Subjekt die ganze Zeit suchte, das Ziel seiner Reise.
Es lag auf der Hand, warum dieses Gebilde bei der Überblickserkundung nicht erfasst worden war. Es war groß, aber nicht über alle Maßen groß, und seine Bögen und Säulen waren vom Staub der Jahre, wenn nicht Jahrhunderte, bedeckt. Wie eine Fata Morgana flimmerte es im Licht der Sonne.
Das Subjekt trat in den Schatten dieses Gebildes, mit so schnellen Schritten wie seit vielen Tagen nicht mehr. Marguerite bildete sich ein, sie könne seine großen schräg ausgestellten Füße über den steinigen Wüstenboden schlurfen hören.
Aber was stellte dieses Ding dar, groß wie eine Kathedrale, so offenkundig alt und so offenkundig vernachlässigt? Was hatte das Subjekt veranlasst, so weit zu reisen, um es zu finden?
Bitte, dachte sie, nicht noch ein weiteres Rätsel, nicht noch eine weitere unergründliche Handlung …
Das Subjekt durchschritt die ersten großen Gewölbebogen, der Schatten zeichnete die Konturen weich.
»Was willst du bloß hier?«, sagte Marguerite laut.
Subjekt drehte sich um und sah sie an. Seine Augen waren riesig, feierlich ernst und perlweiß.
Ein dünner trockener Wind zerzauste die losen Strähnen von Marguerites Haar. Sie sank staunend auf die Knie, griff nach dem Konferenztisch, versuchte sich festzuhalten. Aber es war nur feiner Sand, was sie zu fassen bekam, der Staub der Ewigkeit, der ausgetrocknete Boden von UMa47/E.
Als sich der Boden unter seinen Füßen bewegte und die Sirenen die Evakuierung des Auges verkündeten, war Ray bestürzt, aber nicht überrascht. Diese Entwicklung war unvermeidlich. Da war etwas zum Leben erwacht, und diesem Etwas gefiel das nicht, was Ray zu tun beabsichtigte.
Er jedoch war auf diese Konfrontation vorbereitet. Das wurde ihm zusehends deutlich. Ray war kein großer Anhänger von Schicksalslehren aller Art, doch in diesem Fall musste man ihnen eine nicht unbeträchtliche Erklärungskraft zubilligen. Alle möglichen Erfahrungen seines Lebens, die zunächst rätselhaft schienen — die Jahre der akademischen Grabenkämpfe, seine tiefe Skepsis hinsichtlich der Funktionsweise des Auges, seine so viele Jahre zurückliegende Einführung in die Riten des Todes —, offenbarten jetzt ihren Sinn. Sogar seine alberne Ehe mit Marguerite, ihre trübsinnige Starrköpfigkeit, ihr Unwille, ihm auch nur einmal entgegenzukommen in Dingen, die ihm wichtig waren. Ihre sentimentalen Vorstellungen über die Eingeborenen von UMa47/E. Dies waren die Steine, an denen Ray sich gewetzt hatte wie eine Klinge.
Das Wort »Klinge« rief eine unangenehme Erinnerung an die Vorfalle vor Sue Sampels Haus wach. Das war ein reiner Reflex gewesen, er hatte überhaupt nicht die Absieht gehabt, ihr körperlichen Schaden zuzufügen. Sie hatte ihn wütend gemacht mit ihrem unverschämten, kreischenden Gelächter, also hatte er sie gestoßen, und dann war das Messer in ihrer Hand aufgetaucht, er war gezwungen gewesen, es ihr zu entwinden, und dann, nach einem gedankenlosen Augenblick, war plötzlich Blut da gewesen. Gott, er konnte Blut nicht ausstehen, doch selbst diese schreckliche Begegnung, dachte Ray, erwies sich jetzt gewissermaßen als Initiationserfahrung. Sie zeigte, dass er fähig war, eine kühne, gegen alle Regeln verstoßende Tat zu begehen.
Er war mit dem Bauplan der Alley so weit vertraut, dass er die zentrale Aufzugbatterie ausfindig machen konnte. Zwei der Fahrstühle standen leer, die Türen gingen auf und zu wie krampfhaft zuckende Augenlider.
Die Erschütterung, die den Boden in Bewegung gebracht hatte, war abgeklungen. Ein Erdbeben in diesem Teil des Landes war zwar unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Ray bezweifelte jedoch, dass die Erschütterung von einem Erdbeben ausgelöst worden war. Irgendetwas ging dort unten vor, in den Tiefen des Auges.
Die Nachtschicht hatte den Notfall einer Evakuierung offenbar gründlich geübt. Das Personal strömte jeweils in Zweiergruppen aus den Fahrstühlen, beunruhigt zwar, aber grundsätzlich gefasst, wahrscheinlich, weil sie sich sagten, dass das Beben aufgehört habe und die Evakuierung nur eine Formalität sei. Eine Frau mit durchdringendem Blick bemerkte Ray, der neben den Fahrstühlen stand, kam auf ihn zu und sagte: »Wir sollen auf direktem Weg zum Ausgang gehen, nicht nach unten ins Werk. Und auf keinen Fall sollen wir die Aufzüge benutzen.«
Scheißflurüberwachung, dachte Ray. Er zückte den gestohlenen Generalausweis und sagte: »Verlassen Sie einfach das Gebäude so schnell wie möglich.«
»Aber uns wurde gesagt …«
»Falls Sie Wert darauf legen, Ihren Job zu behalten, gehen Sie jetzt. Anderenfalls geben Sie mir Ihren Namen und Ihre Dienstnummer.«
Der Stimme der Autorität. Die Frau zuckte zusammen und entfernte sich beleidigten Blickes. Ray trat in den nächsten Fahrstuhl und drückte auf den Knopf fürs fünfte Untergeschoss, von wo aus die O/BEK-Galerie am besten zu erreichen war. Er ging davon aus, dass er einen gewissen Zeitrahmen zur Verfügung hatte, in dem er ungestört tätig werden konnte. Sobald das zivile Personal das Gebäude verlassen hatte, würde Schulgin eine Aufklärungsmannschaft hineinschicken, aber durch den Sturm würde dieser Ablauf extrem verlangsamt werden.
Das Sirenengeheul vibrierte in den Fahrstuhlschächten. Er befand sich vier Stockwerke unterhalb der Prärie von Minnesota, als das Geheul erstarb, der Fahrstuhl zum Stillstand kam und die Lichter ausgingen.
Stromausfall. In wenigen Sekunden würden die Notstromaggregate ihre Arbeit aufnehmen.
Aber davon abgesehen, dachte Ray, müsste es nicht wenigstens eine Notbeleuchtung geben?
Offenbar nicht. Die Dunkelheit war vollkommen.
Er zog seinen Server aus der Tasche, doch selbst dieses Gerät hatte aufgehört zu leuchten. Es war, als ob er blind wäre.
Für dunkle, abgeschlossene Räume hatte Ray noch nie etwas übrig gehabt. Er streckte die Hände aus, um sich zu orientieren. Er zog sich in eine Ecke des Fahrstuhls zurück, spürte die angrenzenden Wände zur Linken und Rechten. Die polierte Aluminiumoberfläche war kalt, glatt und unnachgiebig.
Das wird nicht lange dauern, sagte er sich. Und falls der Stromausfall sich doch hinzöge, wäre das vor allem schlecht für die O/BEKs. Die Pumpen würden ausfallen, das flüssige Helium würde nicht mehr fließen, die Temperatur in den Zylindern über die kritische Marke steigen. Doch eine andere Stimme in seinem Innern hielt dagegen: Das Scheißding hat dich jetzt in seinen Klauen.
Bleib ruhig, sagte er sich. Er war voller Gewissheit und mit einem Gefühl für die eigene Macht im Auge eingetroffen: Es waren unwiderrufliche Schritte gewesen, die ihn hergeführt hatten, angetrieben von seiner Überzeugung, dass die O/BEKs Ursache all dessen seien, was in Blind Lake schiefgelaufen war, aber das Gebäude hatte ihn seines Schwunges beraubt. Er war in einer Kiste eingesperrt, und sein Selbstvertrauen begann in der Dunkelheit zu versickern.
Ich bin nicht um meinetwillen hier, dachte Ray, das galt es im Blick zu behalten. Er war hier, weil die leichtgläubigen Kinder, die man seiner Verantwortung unterstellt hatte, mit einem gefährlichen Apparat spielten, und er hatte die Absicht, dem ein Ende zu setzen, ob es ihnen gefiel oder nicht. Es war dies recht eigentlich eine selbstlose Handlung. Mehr noch: eine Handlung mit Erlösungscharakter. Ray hatte einen Fehler begangen vor Sue Sampels Haus, er war durchaus bereit, das einzugestehen. Er hielt sich einiges auf seine Bereitschaft zugute, Probleme realistisch zu analysieren. Vielleicht hatten sich alle anderen von Habgier, Realitätsverleugnung oder Furcht blenden lassen, aber er nicht. Die Vorrichtung in diesem Gebäude war zu einer Bedrohung geworden, und dieser würde er sich stellen. Mit dem, was zu tun er sich anschickte, gehorchte er einem so grundlegenden moralischen Imperativ, dass damit alle Fehler, die er im Verlauf dieser Handlung begehen mochte, automatisch getilgt waren.
Es sei denn, er wäre zu spät gekommen. Der Fahrstuhl bewegte sich nicht, aber Ray glaubte hören zu können, wie das Gebäude ringsum knirschte und ächzte, sich in der Dunkelheit deformierte. Was immer es ist, was wir da aufgeweckt haben, dachte Ray, es ist stark und mächtig, und es ist im Begriff, sich seiner Stärke bewusst zu werden.
Er musste jetzt planmäßig verfahren. Er krempelte eins seiner Hosenbeine auf. Als er Sues Haus verließ, hatte Ray das blutige Messer noch immer in der Hand gehabt. Er hatte es nicht zurücklassen wollen. Das Messer, seine Verwendung als Waffe, hatte alles, was folgte, sowohl möglich als auch notwendig gemacht. Gleich im Anschluss hatte er den Plan gefasst, mithilfe von Charlie Grogans Generalausweis in das Auge einzudringen. Als er zu Charlies Wohnung gefahren war, hatte das Messer neben ihm auf dem Beifahrersitz gelegen, ein unberührbarer Gegenstand, verziert mit Spuren von Sue Sampels Blut. Er hatte dann am Straßenrand gehalten, das Messer mit einem Wegwerftuch abgewischt und es mit Klebeband aus dem Handschuhfach vorsichtig an seiner linken Wade befestigt. Zu dem Zeitpunkt schien ihm das eine ausgezeichnete Idee zu sein.
Jetzt jedoch wollte er das Messer in der Hand halten, jederzeit einsatzbereit. Schlimmer noch, er konnte den Gedanken nicht abweisen, dass vielleicht doch etwas Blut an der Klinge haften geblieben war; und die Vorstellung, dass Sue Sampels Blut seine Haut berührte, in seine Poren eindrang, war grotesk und ganz und gar unerträglich, aber in der vollkommenen Dunkelheit des stecken gebliebenen Fahrstuhls hatte er Schwierigkeiten, das lose Ende des Klebebands zu finden. Er hatte sich verdammt noch mal eingewickelt wie eine Mumie.
Auch hatte er das körperliche Problem nicht recht bedacht, das sich ergab, wenn man, wie es ihm vorkam, meterweise Klebeband von seinem behaarten Bein abziehen wollte. Mit einiger Sicherheit wurden dabei auch Stücke der Haut abgerissen. Er machte tiefe, keuchende Atemzüge, so wie Marguerite es in diesem Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatte, bevor Tessa auf die Welt kam. Tränen standen ihm in den Augen, als er endlich die letzte Schicht Klebeband zu fassen bekam und mit einem Ruck abriss. Das Messer hing noch daran fest und schnitt ihm in die Wade über dem Knöchel.
Das war zu viel. Voller Schmerz und Erbitterung schrie Ray auf, und infolge dieses Schreis schien der bewegungslose Fahrstuhl noch viel kleiner zu werden, unerträglich klein. Er machte die Augen ganz weit auf, um vielleicht doch Licht aufzunehmen — er hatte gehört, dass das menschliche Auge sogar ein einzelnes Photon wahrnehmen könne —, aber da war nichts, nichts als das Brennen seines eigenen Schweißes.
Ich könnte hier krepieren, dachte er, und das wäre sehr übel; oder, noch schlimmer, was wäre, wenn er sich betreffs des Auges irrte, wenn Schulgin ihn nach Beendigung der Krise hier auffand, wirr daherredend und mit einer belastenden Waffe in der Hand? Das Messer, das beschissene Messer! Er durfte es nicht behalten, aber er konnte es auch nicht loswerden.
Und wenn die Wände sich über ihm schlossen, riesigen Zähnen gleich?
Er fragte sich, ob er — falls sich die Notwendigkeit ergeben sollte — in der Lage wäre, sich mit dem Messer selbst zu töten — wie ein Bushido-Krieger, der sich in sein Schwert stürzt. Wie ernsthaft, wie schnell konnte er sich mit einer fünfzehn Zentimeter langen Klinge selbst verletzen? Was wäre wirkungsvoller: sich die Handgelenke aufzuschlitzen oder sich das Messer in den Bauch zu rammen? Oder sollte er versuchen, sich selbst die Kehle durchzuschneiden?
Er dachte über den Tod nach. Wie würde es sein, sich von seinem eigenen unordentlichen Selbst zu entfernen, tiefer und immer tiefer in die statische und leere Vergangenheit abzusinken?
Er bildete sich ein, in seinem Kopf Marguerites Stimme zu hören, Worte flüsternd, die er nicht begriff:
Unwissenheit
Neugier
Schmerz
Liebe
—ein Beweis mehr, so er denn noch vonnöten war, dass der O/BEK-Wahnsinn ihn bereits infiziert hatte …
Und dann gingen die Lichter plötzlich wieder an.
»Gott! Scheiße!«, sagte Ray, vorübergehend benommen.
Summend erwachte der Fahrstuhl zu neuem Leben und nahm seine Fahrt nach unten wieder auf.
Ray musste feststellen, dass er sich auf die Zunge gebissen hatte. Sein Mund war voller Blut. Er spuckte es auf den grünen Fliesenboden, krempelte seinen Hosenaufschlag über den blutüberströmten Knöchel und wartete darauf, dass die Tür sich öffnete.
»Vielleicht ist sie ihre Mutter suchen gegangen«, sagte Elaine, aber als Chris Tessas Namen rief, bekam er keine Antwort, und der hell erleuchtete Flur im Erdgeschoss der Ambulanz war, soweit er feststellen konnte, leer.
Er nahm seinen Pocket-Server zur Hand und sagte noch einmal ihren Namen. Keine Antwort. Er probierte es mit Marguerite. Ebenfalls keine Antwort.
»Das ist ja doch ein bisschen unheimlich«, sagte Elaine.
Es war noch schlimmer. Chris hatte das Gefühl, er wäre in einen jener Albträume eingetreten, in denen etwas absolut Lebenswichtiges sich in seinen Händen auflöste. »In welchem Zimmer liegt Sue?«
»Zwei-elf«, sagte Elaine prompt. »Im ersten Stock.«
»Rufen Sie die diensthabende Schwester und bitten Sie sie, nach Tess zu suchen. Ich sehe nach Marguerite.«
Elaine blickte dem zur Treppe sprintenden Chris hinterher. Sie selbst war nicht übermäßig besorgt. Das Kind war vermutlich in der Cafeteria oder rollte auf einer Bahre durch die Gegend. »Ist ein richtiger Familienmensch geworden«, sagte sie zu Vogel, »unser Chris.«
»Gönnen Sie ihm, was er hier gefunden hat«, murmelte Vogel. »Es könnte jederzeit vorbei sein.«
Er traf Sue Sampel allein in ihrem abgedunkelten Zimmer an. »Marguerite ist schon gegangen«, sagte sie, aus dem Halbschlaf hochschreckend. »Chris? Sind Sie das? Chris? Ist Marguerite verloren gegangen oder was?«
»Ich erreiche ihren Server nicht. Kein Grund zur Besorgnis.«
Sie gähnte. »Unsinn. Sie sind besorgt.«
»Schlafen Sie weiter, Sue.«
»Ich glaube, das mache ich. Ich glaube, das muss ich auch. Aber ich merke, dass Sie schwindeln. Verirren Sie sich nicht im Dunkeln, Chris.«
»Nein, ich pass auf«, versprach er. Was immer das heißen mochte.
Er ging von einem Ende des Flurs zum anderen, öffnete allerlei Türen. Von dem Zimmer abgesehen, in dem Adam Sandoval im Koma lag und sich nicht rührte, fand er nur leere Stauräume, abgeschlossene Medikamentenschränke, verlassene Konferenzzimmer und verdunkelte Büros.
Sein Server summte. Er zog ihn aus der Tasche und sprach mit Elaine, die ihm mitteilte, dass die Nachtschwester den Sicherheitsdienst verständigt habe und das diensthabende Personal die ganze Ambulanz systematisch durchsuchen werde. »Aber irgendwas ist auch drüben im Auge los. Ich habe Ari Weingart am Apparat gehabt, und der meinte, die Alley werde evakuiert.«
Chris sah den Server in seiner Hand an: Wenn seiner funktionierte, warum dann nicht auch Marguerites oder Tessas?
Wenn Marguerite und Tess beide nicht aufzufinden waren, hieß das, dass sie zusammen waren? Und wenn sie nicht im Gebäude waren, wo dann?
Er ging zurück zum Empfang, zu den schweren Glastüren. Falls Marguerite die Ambulanz verlassen hatte, würde sie den Wagen genommen haben. Eine andere Fortbewegungsmöglichkeit gab es nicht bei diesem Wetter. Falls das Auto weg war, könnte er sich vielleicht ein Fahrzeug ausleihen und ihr hinterherfahren.
Aber Marguerites Kleinwagen stand genau da, wo Chris ihn geparkt hatte, zwei Räder auf dem Gehsteig, von einer frischen Schneeschicht bedeckt. Er öffnete die Tür, und sofort wurde Schnee von einer flüchtigen Bö hereingeweht, kleine Flocken, die sich auf dem Fliesenboden in wässrige Diamanten verwandelten.
Elaine stand hinter Chris, legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das ist jetzt wirklich verrückt, aber Sie müssen sich beruhigen.«
»Glauben Sie, dass Ray etwas damit zu tun hat?«
»Ich hab daran gedacht. Ari sagte, er hätte mit Schulgin telefoniert, der wiederum mit Charlie Grogan gesprochen hätte. Ray ist irgendwo im Auge zugange.«
Chris hielt die Tür einen Spalt weit offen, ließ eisige Luft über sein Gesicht streichen. »Sie war hier, genau hier, Elaine. Hat mit diesem kleinen Holzlaster da gespielt. Menschen verschwinden nicht einfach.«
Doch, das tun sie, dachte er. Sie rinnen einem wie Wasser durch die Finger.
»Mr. Carmody?« Das war Rosalie Bleiler, die diensthabende Schwester. »Könnten Sie bitte die Tür zumachen? Emo — Elmo Fisk, er ist unser Nachtwächter — bittet Sie, zum Hintereingang zu kommen.«
»Hat er Tess gefunden?«
Rosalie zuckte zusammen, so heftig kam die Frage. »Nein, Sir, aber er hat dort draußen die Fußspuren eines Kindes im Schnee gefunden.«
Tess war nicht dafür angezogen, sich im Freien aufzuhalten. »Ist er den Fußspuren gefolgt?«
Sie nickte. »Ungefähr fünfzig Meter am Besucherparkplatz entlang. Aber das ist das Problem. Er sagt, die Fußspuren führen nirgendwo hin. Sie hören sozusagen einfach auf.«
Bis dato hatte es sieben ernsthafte Versuche gegeben, aus Blind Lake auszubrechen. Dreimal mit dem Ergebnis, dass die Personen, die den Zaun überwanden und die verbotene Zone betraten, von Pocket-Drohnen getötet wurden. In vier weiteren Fällen war der Versuch schon von den Sicherheitskräften innerhalb des Lakes vereitelt worden. Der jüngste Vorfall betraf einen an Platzangst leidenden Lebensmittellieferanten, der sich entschlossen hatte, den Zaun ganz allein zu erklimmen, jedoch auf halbem Wege den Mut verlor. Als die Sicherheitsleute ihn fanden und überredeten, wieder herunterzukommen, hatte er Erfrierungen an den Fingern beider Hände erlitten.
Herb Dunn, ein zweiundfünfzigjähriger ehemaliger Marinesoldat, arbeitete in der zivilen Sicherheitsbranche, seit er vor zehn Jahren einer Personalabbaumaßnahme in der FedEx-Filiale von Fargo zum Opfer gefallen war. Die Quarantäne von Blind Lake hatte die Verbindung zwischen Herb und seinen Gläubigern (darunter zwei Ex-Ehefrauen) abgeschnitten, eine Tatsache, die er nicht im Geringsten bedauerte. Was ihm abging, war der Zugang zu aktuellen Kinofilmen und Internet-Erotika, aber damit hatten sich die Nachteile der Situation für ihn auch schon erschöpft. Sobald ihm klar geworden war, dass er von keiner Seuche befallen wurde, hatte Herb sich recht behaglich in der Abriegelung eingerichtet.
Außer in dieser Woche. In dieser Woche musste er einen Dienst versehen, den niemand sonderlich schätzte, nämlich die innerhalb der Sicherheitstruppe sogenannte Frühpatrouille. Das Konzept der Frühpatrouille bestand darin, jemanden in der Morgendämmerung mit einem Allwetterfahrzeug loszuschicken, damit er den ganzen Zaun abfuhr, angeblich um etwaige Übeltäter aus der misslichen Lage zu befreien, in die sie sich durch fehlgeleitete Fluchtversuche gebracht hatten. Noch hatte die Frühpatrouille keinen einzigen Fluchtwilligen abgefangen, aber Herb vermutete, dass das Ganze eine gewisse abschreckende Wirkung hatte. Schulgin hatte ihm vor Dienstbeginn mitgeteilt, dass er angesichts des fürchterlichen Sturmes, der in der Nacht über Blind Lake hergefallen war, eine verkürzte Streife fahren sollte: nur einmal zum Haupttor und wieder zurück. Aber das war schon übel genug.
Der Schneefall hatte zwar nachgelassen, als er die Garage verließ, aber ein stürmischer Wind aus Nordwesten machte die Sache dennoch kompliziert. Diese Sicherheitsfahrzeuge waren schon anständige Autos, Hondas mit viel fahrunterstützender Elektronik und Reifen mit variablem Profil, aber ein Schneemobil wäre nach Herbs Ansicht wohl doch effektiver gewesen.
Die Hauptstraße von der im Stadtzentrum gelegenen Plaza in Richtung Süden war nachts geräumt worden, aber nur bis zu den Wohnsiedlungen. Von dort bis zum Zaun war alles voller Schnee, der zudem ständig hin und her geweht wurde, nicht ganz hoch genug zwar, um die Straße zu verdecken, aber doch schwieriges Gelände und langsames Vorankommen selbst für den Honda bedeutete. Herb zog ein wenig Trost aus der Tatsache, dass absolut keine Dringlichkeit oder gar Notwendigkeit mit dieser Fahrt verbunden war. So ließen die Verzögerungen sich leichter ertragen. Er richtete sich in der dampfenden Wärme der Fahrerkabine ein und versuchte sich seine derzeitige Lieblingsschauspielerin in einem vollständig unbekleideten Zustand vorzustellen. (Zu Hause verfügte er über eine Videoserver-Anwendung, die das für ihn besorgte.)
Als er das Haupttor schließlich erreichte, war es schon gar nicht mehr so früh. Es gab inzwischen ausreichend Licht, die Grenzen der Sichtbarkeit zu markieren: eine Blase verwehten Schnees rund um die Führerkabine des Hondas einerseits, ein paar an einen lehmigen Fluss erinnernde schwerfällige Wolken am Himmel andererseits.
Er fuhr bis zum Wendekreis vor dem Haupttor — keine halsbrecherischen Fluchtversuche derzeit zu beobachten —, hielt an und schaltete in den Leerlauf. Er war versucht, die Augen zu schließen und ein bisschen verlorenen Schlaf nachzuholen, nachdem er sich ab Mitternacht mit alten Downloads wachgehalten hatte, um schließlich Punkt 3:30 Uhr zu seiner sinnlosen Expedition aufzubrechen. Aber wenn man ihm beim Schlafen erwischte, würde er für den Rest seines Lebens auf Frühpatrouille gehen. Außerdem hatte sein Körper den Frühstückskaffee inzwischen so weit verarbeitet, dass er den dringenden Wunsch verspürte, seinen Namen in den Schnee zu pissen.
Gerade kletterte er aus dem Fahrzeug in den eisigen Morgen, da lösten die tief hängenden Wolken sich auf, und er sah etwas jenseits des Tores, das sich bewegte. Da draußen im Niemandsland, da war etwas. Etwas Großes. Er vermutete zunächst, dass es sich um eines der selbstlenkenden Lieferfahrzeuge handelte, das weitere Vorräte brachte, aber als der Wind sich erneut drehte, konnte er noch mehr dieser undeutlichen Umrisse erkennen. Gewaltige Apparate, gleich hinter dem Zaun.
Er stakste ein paar Meter durch den Schnee — nur um etwas genauer sehen zu können, wie er sich sagte. Er hatte sich dem Haupttor so weit genähert, wie es ihm angeraten schien, als dieses ohne Vorwarnung aufzugehen begann. Wieder beruhigte der Wind sich zwischenzeitlich, und es entstand ein Moment fast übernatürlicher Stille, und da erkannte er in den Fahrzeugen dort draußen Powell-Panzer und gepanzerte Mannschaftswagen. Dutzende, die vor dem Tor Aufstellung genommen hatten.
Er drehte sich um und machte ein paar unbeholfene Schritte zurück zu seinem Honda, doch bevor er ihn erreichen konnte, war er schon von einem halben Dutzend Soldaten in tarnweißen Schutzanzügen und Aerosolmasken umringt. Soldaten, die Spezialsichtbrillen und Schallimpulsgewehre trugen.
Herb Dunn hatte gedient. Er wusste, wie es läuft.
Er hob die Hände und versuchte möglichst harmlos auszusehen.
»Ich arbeite hier nur«, sagte er.
Von einer Verwirrung ergriffen, die ihr Entsetzen noch überstieg, zwang sich Marguerite, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Sie ignorierte den sandigen Boden unter ihren Händen und Knien, ignorierte die Empfindung, sich in trockener Hitze zu befinden, schloss vor allem die Augen und ignorierte die Anwesenheit des Subjekts. Atme richtig ein, sagte sie sich. Atmen war wichtig. Atmen war wichtig, weil … weil …
Weil, wenn sie sich wirklich auf UMa47/E befände, dann könnte sie gar nicht atmen.
Die Atmosphäre von UMa47/E war weniger sauerstoffhaltig als die der Erde und der Luftdruck viel zu niedrig. Vom Druckunterschied würden ihre Trommelfelle platzen, wäre sie von Blind Lake hierhergereist. Aber es war Furcht, nicht Sauerstoffmangel, was sie nach Luft schnappen ließ, und ihre Ohren fühlten sich ganz normal an.
Und deshalb, dachte sie — immer noch auf Knien, die Augen fest geschlossen —, deshalb, deshalb, bin ich in Wirklichkeit gar nicht hier. Deshalb bin ich nicht unmittelbar in Gefahr.
(Wenn ich aber nicht hier bin, warum fühle ich dann den Sand unter meinen Fingerspitzen, warum spüre ich die Brise auf meiner Haut?)
In dem Sommer, als Marguerite elf wurde, hatte sie mit ihren Eltern Ferien in Alaska gemacht. Zu Marguerites großer Bestürzung hatte ihr Vater für die ganze Familie einen Flug in einer winzigen einmotorigen Maschine über den Nationalpark Glacier Bay gebucht. Das Flugzeug war in den Winden über dem Gebirge geschaukelt und gehüpft, und Marguerite hatte solche Angst gehabt, dass ihr schlecht wurde und sie nicht einmal daran denken konnte, aus dem Fenster zu blicken.
Dann hatte ihr Vater einen Arm um sie gelegt und ihr in feierlichstem Amtston zugesprochen: »Alles in Ordnung, Margie. Du bist vollkommen sicher.« Öl auf die Wogen. Es hatte sie beruhigt. Jetzt fielen ihr diese Worte wieder ein.
Du bist vollkommen sicher.
(Aber das stimmt nicht. Ich bin hilflos, ich weiß nicht, wo ich bin, ich weiß nicht, was hier passiert, und ich weiß nicht, wie ich wieder nach Hause komme …)
Vollkommen sicher. Die vollkommene Lüge.
Sie öffnete die Augen und zwang sich aufzustehen.
Das Subjekt stand reglos da, etwa zwei Meter von ihr entfernt. Marguerite wusste aus Erfahrung, dass es, wenn es sich nicht bewegte, vermutlich eine ganze Weile in diesem Zustand verharren würde. (Chris' Kommentar fiel ihr ein — kein großer Partyplanet — und sie musste einen ganz unpassenden Drang zu kichern unterdrücken.) Diese undurchdringlichen weißen Augen starrten sie an, oder jedenfalls starrten sie in ihre Richtung, und sie war versucht, zurückzustarren. Doch eins nach dem anderen, sagte sie sich. Verhalte dich wie eine Wissenschaftlerin. (Du bist Wissenschaftlerin. Du bist vollkommen sicher. Zwei zur Selbstermächtigung verhelfende Lügen.) Nimm eine Auswertung der Umgebung vor.
Sie stand knapp innerhalb der Umgrenzung des Bauwerks, welches das Subjekt betreten hatte. Als sie einen Blick zurück durch dessen Bögen warf, konnte Marguerite mit schockierender Unmittelbarkeit die Wüste sehen, die sie instinktiv mit der Geographie von UMa47/E in Verbindung brachte: die zentrale Hochebene der größten Kontinentalplatte, weit weg von allen flachen, salzigen Meeren des Planeten, am äußersten äquatorialen Rand einer gemäßigten Klimazone. Aber es war noch so viel mehr zu sehen. Da war ein Himmel so leuchtend weiß wie frisch gebranntes Porzellan; da war eine Kette von erodierten Basalthügeln, die in der Entfernung verschwammen; da war das Licht einer tiefstehenden fremden Sonne und Schatten, denen man beim Längerwerden zusehen konnte. Da war ein ungleichmäßiger Wind, der nach Limone und Staub roch. Es war kein Bild, sondern ein Ort: fühlbar, greifbar, mit ausgeprägter Struktur.
Wenn ich nicht hier bin, dachte Marguerite, wo bin ich dann?
Die Decke des Gebildes schützte vor der direkten Einstrahlung des Sonnenlichts. »Gebilde«, dachte sie, das war eins von diesen Ausweichwörtern, die die Leute in der Beobachtung so schätzten; aber konnte man dieses Gebilde wirklich als »Gebäude« bezeichnen?
Es gab keine richtigen Wände, nur reihenweise Säulen (schneckenweiß und korallenrosa), angeordnet in unregelmäßigen Bögen, die nach oben hin zusammenliefen, um ein Dach zu bilden. Weiter im Innern verdichteten sich die Schatten bis zur Undurchdringlichkeit. Der Fußboden bestand schlicht aus verwehtem Sand. In der Hummerstadt gab es nichts, das diesem Gebilde geähnelt hätte. Es konnte hier gewachsen sein, dachte sie, im Laufe der Jahrhunderte. Sie berührte eine der Säulen. Sie fühlte sich kühl und leicht irisierend an, wie Perlmutt.
Als ihre Hand zu kribbeln begann, zog sie sie rasch zurück.
Natürlich war das alles ganz unmöglich, und nicht nur darum, weil sie normal atmete auf der Oberfläche eines Planeten, der keine für den Menschen geeigneten Lebensbedingungen bot. Die O/BEK-Bilder von UMa47/E waren einundfünfzig Lichtjahre weit gereist. Was man auf dem Bildschirm beobachten konnte, war fast buchstäblich Geschichte. So etwas wie Simultaneität gab es nicht, es sei denn, die O/BEKs hätten gelernt, sich über die grundlegenden Gesetze des Universums hinwegzusetzen.
Vielleicht war es besser, dieses Erlebnis als eine besonders ausgefeilte Form von virtueller Realität zu interpretieren, als eine Art interaktiver Beobachtung, als einen lebhaften Traum.
So instabil dieses Erklärungsgerüst war, verlieh es ihr doch den Mut, das Subjekt direkt anzublicken.
Das Subjekt war anderthalbmal so groß wie Marguerite. In keiner Weise hatte ihre ganze bisherige Beobachtung sie auf seine schiere animalische Massigkeit vorbereitet. Das gleiche Gefühl hatte sie gehabt, als sie als Achtklässlerin zum ersten Mal in einem Streichelzoo gewesen war. Tiere, die im Fernsehen ganz unschuldig aussahen, erwiesen sich als größer, schmutziger, übelriechender und sehr viel unberechenbarer, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie waren auf so verstörende Weise sie selbst, so vollkommen gleichgültig gegen ihr vorgefasstes Bild.
Das Subjekt war entschieden es selbst. Von seiner aufrechten Haltung auf zwei Füßen abgesehen war nichts Menschliches an ihm. Aber es hatte auch keine Ähnlichkeit mit einem Insekt oder einem Krustentier, trotz des albernen »Hummer«-Etiketts, das man ihm angeheftet hatte.
Seine Füße waren breit, flach, ledrig, zehen- und nagellos. Zum Stehen gemacht, nicht zum Rennen. Nach seiner langen Wanderung waren sie mit Staub und Schmutz überzogen, und an einigen Stellen war die kieselartige Oberhaut zu rauer Glätte abgeschliffen. Marguerite fragte sich, ob sie ihm wohl wehtaten.
Seine Beine waren nicht länger als ihre eigenen, aber fast doppelt so dick. Sie hatten etwas enorm Muskulöses an sich, ähnelten zwei mit ziegelrotem Leder bezogenen Baumstämmen. Die Beine trafen nahtlos im Schritt zusammen, wo keins der komplexen Zubehörteile menschlicher Sexualität anzutreffen war; keine große Überraschung vielleicht, mag es doch weitaus geeignetere Stellen zur Unterbringung von Geschlechtsteilen geben, wenngleich bislang nicht einmal nachgewiesen war, dass das Subjekt oder seinesgleichen überhaupt so etwas wie Genitalien besaß.
Sein Brustkorb weitete sich zur Form einer sehr dicken Scheibe, an der die Arme befestigt waren. Die Arbeitsarme waren schlank, gelenkig und an den Enden ausgestattet mit Vorrichtungen, die einer menschlichen Hand durchaus ähnelten — drei Finger und ein opponierbares Glied, quasi der Daumen —, wenngleich die Gelenke völlig verkehrt waren. Die stämmigen, zum Greifen der Nahrung dienenden Arme — sie reichten grade mal von den Schultern bis zum Mund — waren da schon sonderbarer, ließen sich ebenso als nach außen verlagerte Kieferzangen wie als zusätzliches Gliedmaßenpaar interpretieren. Anstelle von Händen besaßen diese sekundären Arme knochige, besteckartige Gebilde zum Schneiden und Zermahlen von pflanzlichen Materialien.
Subjekts Kopf war eine bewegliche Kuppel mit einem Flechtwerk aus losem Fleisch an der Stelle, wo die menschliche Anatomie einen Hals aufwies. Sein Mund war ein vertikaler rosafarbener Schlitz, hinter dem sich eine lange, raue, wohl auch zum Greifen geeignete Zunge verbarg. Die Augen, von blauviolettem Knorpel eingefasst, standen fast so weit auseinander wie bei einem Vogel, waren übrigens nicht rein weiß, wie Marguerite nun bemerkte, sondern eher gelblich, wie sehr alte Klaviertasten. Eine innere Struktur des Auges war nicht zu erkennen, keine Pupille, keine Hornhaut; es mochte sich bei diesen Augen um gänzlich unorganisierte Bündel von lichtempfindlichen Zellen handeln, oder aber ihre Struktur verbarg sich unter einer partiell undurchsichtigen Oberfläche, einem dauerhaft geschlossenen Augenlid vergleichbar.
Welchem Zweck der orangefarbene Hahnenkamm auf seinem Kopf diente, hatte bislang niemand bestimmen können. Auf der Erde waren derartige Merkmale in der Regel Lockmittel beim Paarungsverhalten, aber da sämtliche Individuen in Subjekts Volk einen Kamm besaßen, war es kaum sinnvoll, diesem eine geschlechtliche Funktion zuzuordnen.
Das auffälligste — oder am auffälligsten sonderbare — Merkmal am Körper des Subjekts war die senkrechte Aushöhlung, die mitten über seinen Brustkorb verlief. Sie wurde gemeinhin als Atmungsöffnung interpretiert. Sie war so lang wie Marguerites Unterarm und öffnete und schloss sich in regelmäßigen Abständen wie ein nach Luft schnappender, lippenloser Mund. (In einem seiner niveauloseren Momente hatte Ray behauptet, sie sehe aus wie »eine von Krankheit zerfressene Vagina«.) Wenn sie sich öffnete, konnte Marguerite dahinter poröses, bienenwabenähnliches Gewebe erkennen, gelblich und feucht. Feine silbergraue Flimmerhaare bildeten eine fransenartige Umrandung.
Ich bin vollkommen sicher, dachte sie, aber wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie Angst vor dem Subjekt, Angst vor seiner offensichtlichen Massigkeit und der dieser innewohnenden animalischen Stärke. Angst sogar vor seinem leicht organischen Geruch, der süßlich intensiv und sehr unangenehm war, wie der Geruch einer Zitronenschale, die schon grün vom Schimmel ist.
Nun denn, dachte Marguerite, was jetzt? Tun wir so, als sei dies eine reale Begegnung? Sprechen wir?
Konnte sie sprechen? Die Furcht hatte ihr den Mund ausgetrocknet, ihre Zunge fühlte sich an wie ein Wattebausch.
»Ich heiße Marguerite«, flüsterte sie. »Ich weiß, dass du mich nicht verstehst.«
Vielleicht verstand es nicht einmal das Konzept von gesprochener Sprache. Für einen langen Augenblick stand sie da und starrte ihn an. Sein Schweigen sprach möglicherweise Bände. Vielleicht sprach er eine Sprache der Bewegungslosigkeit.
Aber es war nicht vollkommen bewegungslos. Sein Atmungsschlitz weitete sich und entließ ein fast unhörbares keuchendes Geräusch. Konnte das Sprache sein? Es klang mehr nach Atembeschwerden.
Wie gottverdammt lachhaft, dachte Marguerite, hierzusein — wo immer das war — und aus welchem Grund auch immer —, nur um wiederum mit der Unmöglichkeit jeglicher Kommunikation konfrontiert zu sein. Ich kann nicht einmal erkennen, ob es spricht oder ob es stirbt.
Das Subjekt beendete seinen Diskurs, falls es denn einer war, indem es einen Schwall nach saurer Milch riechenden Atem ausstieß.
Davon abgesehen, hatte es sich noch immer nicht bewegt.
Falls dies eine Gelegenheit war, dachte Marguerite, und nicht lediglich eine Halluzination, dann war sie vertan und verschwendet. Ihre Furcht mischte sich mit Frustration. Ihm so unglaublich, so unglaubwürdig nahe zu sein — und doch so fern wie je. Immer noch stumm, immer noch taub.
Draußen deutete die Länge der Schatten auf den Einbruch der Dunkelheit hin. Der blasse Himmel hatte eine dunklere, blauere Weißschattierung angenommen.
»Ich verstehe nicht, was du sagst«, gestand Marguerite. »Ich weiß nicht einmal, ob du etwas gesagt hast.«
Subjekt atmete aus und ließ seine Flimmerhaare flattern.
Ja, es hat gesprochen, sagte eine Stimme.
Es war nicht die Stimme des Subjekts. Sondern sie kam von überall her. Von den Perlmuttsäulen oder aus den Schatten weiter im Innern. Aber das war noch nicht das Sonderbarste daran.
Das Sonderbarste war, dass Tessas Stimme zu ihr gesprochen hatte.
Elaine Coster kam herbeigelaufen, als Chris die Ambulanz verlassen wollte. »Whoa«, sagte sie, »Moment mal — wo wollen Sie hin?«
Sie wusste, dass er wegen des Verschwindens von Tess und Marguerite in Panik war. Die diensthabende Schwester hatte ihr die Sache mit den sich im Schnee verlierenden Fußspuren des Mädchens anvertraut. Elaine erschauerte bei dem Gedanken, dass Tess, ein ganz annehmbar nettes Kind, wie es schien, sich bei dieser Kälte draußen herumtrieb. Aber es würde jetzt rasch hell werden, und da sollte es nicht so schwer sein, das Mädchen zu finden, meinte Elaine, wenn nur Chris besonnen blieb und Geduld bewahrte. Was Marguerite betraf …
»Ich fahre zum Auge«, sagte Chris.
»Zum Auge? Entschuldigung, aber wozu, zum Teufel? Ari sagt, es wird gerade evakuiert.«
»Ich kann es nicht erklären.«
Sie packte seinen Arm, bevor er die Tür öffnen konnte. »Kommen Sie, Chris, damit wollen Sie mich doch nicht im Ernst abspeisen. Sie glauben, dass Tess und Marguerite im Auge sind? Wie sollte das möglich sein?«
Bitte, dachte Elaine, mach, dass dies nicht ein weiterer Fall von Blind-Lake-Wahnsinn ist.
»Tess ist nicht einfach nur da draußen herumspaziert. Ihre Fußspuren verlaufen schnurgerade und sie zeigen direkt in Richtung Auge.«
»Aber sie hören dann auf, die Fußspuren?«
»Ja.«
»Also ist sie vielleicht zur Ambulanz zurückgegangen. Immer genau in ihrer eigenen Spur, nicht wahr.«
»Rückwärts durch den Schnee? Im Dunkeln?«
»Na ja, was glauben Sie denn sonst? Wenn sie im Auge ist, wie ist sie da hingekommen? Sind ihr Flügel gewachsen, Chris? Oder vielleicht hat sie sich hingebeamt? Oder ist in ihrem Astralleib gereist?«
»Ich behaupte nicht, dass ich es begreife. Aber neulich, als sie auch plötzlich verschwunden ist, aus der Schule, ist sie zum Auge gegangen.«
»Glauben Sie wirklich, dass sie den weiten Weg gegangen ist, bei dem Wetter?«
»Ob sie gegangen ist, weiß ich nicht. Aber ich glaube, dass sie dort ist. Ich glaube, sie ist in Schwierigkeiten, und ich glaube, Marguerite würde wollen, dass ich sie suche.«
»Gedanken lesen können Sie auch? Ari und Schulgin und noch ein Haufen anderer Leute halten bereits Ausschau nach Tess und Marguerite. Lassen Sie die ihre Arbeit tun. Die verstehen sich besser darauf als Sie, Chris, hören Sie, hören Sie. Ich habe einen Anruf von einer meiner Kontaktpersonen bei der Sicherheitstruppe erhalten. Ein ganzes Scheißbataillon Militär mit schwerem Gerät und allen Schikanen ist gerade am Haupteingang aufgetaucht, und sie kommen rein. Begreifen Sie? Die Quarantäne ist vorbei! Ich weiß nicht, was als Nächstes kommt, aber nach aller Wahrscheinlichkeit wird Blind Lake bis zum Abend evakuiert sein — Sie, ich, Tess, Marguerite, alle. Ich will die Hauptstraße runter, und ich möchte, dass Sie mitkommen. Wir sind immer noch Journalisten, Chris. Und hier wartet eine Story auf uns.«
Er lächelte ihr auf eine Weise zu, die Elaine nicht gefiel: reuevoll und betrübt. Sie konnte große junge Männer mit traurigen Augen nicht ausstehen.
»Kümmern Sie sich drum, Elaine«, sagte er. »Es ist Ihre Story. Sie sind diejenige, die sie erzählen muss.«
Elaine sah zu, wie er seinen großen Körper ins Auto zwängte und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch den unverdrossen weiterfallenden Schnee davonfuhr.
Sebastian Vogel, in seinen Wartezimmerstuhl gequetscht wie ein Buddha in einen Flugzeugsitz, sagte: »Ich glaube, jetzt endlich habe ich es kapiert.«
Elaine setzte sich verdrossen neben ihn. »Bitte. Keinen metaphysischen Dünnpfiff mehr.« Es gab jetzt einiges für sie zu tun: ihren Server, ihre Notizen und Unterlagen gut und vor allem sicher einzupacken, damit nicht irgendein bewaffneter Bürokrat auf die Idee kam, sie konfiszieren zu wollen. Sich darauf einzustellen, der Außenwelt entgegenzutreten, wie verändert diese auch sein mochte mit ihren Pilgern, abstürzenden Flugzeugen und Straßensperren östlich des Mississippi.
»Seit wir in Crossbank waren«, sagte Sebastian, »habe ich mich immer wieder gefragt, warum Sie diesen Auftrag angenommen haben. Eine etablierte, angesehene Wissenschaftsjournalistin lässt sich von einer, sagen wir's offen: zweitklassigen New Yorker Zeitschrift engagieren, um ein Thema zu bearbeiten, das vollkommen ausgelutscht ist, und dabei das Rampenlicht auch noch zu teilen mit einem spinnerten Theologen und einem diskreditierten Skandalautor. Ich habe das einfach nicht verstanden. Aber ich glaube, jetzt ist der Groschen gefallen. Es war wegen Chris, nicht wahr?«
»Ach, Sie können mich mal, Sebastian.«
»Sie haben sein Buch gelesen, seine Story in der Presse verfolgt, seine Zeugenaussage vor dem Kongressausschuss erlebt. Vielleicht besaßen Sie selber schon Hinweise auf Gallianos Probleme mit der Moral. Sie haben erlebt, wie Chris an den Pranger gestellt wurde, wussten aber, dass er trotz des ganzen Aufruhrs und der negativen Presse wahrscheinlich im Recht war. Sie waren neugierig auf ihn. Vielleicht hat er Sie daran erinnert, wie Sie selbst waren in seinem Alter. Sie haben den Auftrag angenommen, um ihn kennenzulernen.«
Das alles wäre weniger ärgerlich gewesen, wenn es der Wahrheit nicht entsprochen hätte. Elaine setzte ihren wildesten Fahr-zur-Hölle-Blick auf.
»War er eine Enttäuschung?«, sagte Sebastian. »Als persönliches Projekt?«
Ich habe keine Zeit für so was, dachte Elaine. Ihr war ein bisschen schwindlig vom Schlafmangel. Vielleicht konnte sie hier einfach sitzen bleiben, bis die Soldaten kamen, sie zu holen. Alle wirklich wichtigen Informationen und Erkenntnisse waren schließlich auf ihrem Pocket-Server gespeichert, und wenn sie ihr den wegnehmen wollten, mussten sie ihr dazu schon die kalten, toten Finger brechen. »Als ich Chris kennenlernte, dachte ich, sie hätten ihn kleingekriegt. Er war offensichtlich unglücklich, er schrieb nichts, er war ein bisschen allzu großzügig im Konsum von weichen Drogen, und er trug eine Last von Schuldgefühlen mit sich herum, die eindeutig viel zu groß war für ihn.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das alles nur von seiner Erfahrung mit Galliano herrührt.«
»Wahrscheinlich nicht. Ich dachte nur …«
»Sie wollten helfen«, sagte Sebastian sanft.
»Ja. Ich bin eine Scheißheilige. Und jetzt halten Sie den Mund.«
»Sie wollten ihm ein Stück von Ihrem Zynismus abgeben.«
»Er wäre ein besserer Journalist, wenn er lernen würde, sich die Dinge nicht so zu Herzen zu nehmen.«
»Allerdings nicht unbedingt ein besserer Mensch.«
»Darüber diskutiere ich nicht.«
»Was er brauchte, Elaine, und das ist jetzt nicht böse gemeint, aber was er wirklich brauchte, das konnten Sie ihm nicht geben.«
»Sagte der Guru.« Sie biss sich auf die Lippe. »Und was glauben Sie? Hat er es gefunden? Das, was er braucht, was immer es ist?«
»Ich glaube, er ist gerade in diesem Moment auf der Suche danach«, sagte Sebastian.
Chris traf auf der Straße zum Auge auf Gegenverkehr. Mitarbeiter der Nachtschicht, wie er vermutete, die die Anlage verlassen hatten, als Gerüchte vom Ende der Quarantäne die Runde machten.
Selbst im ersten fahlen Tageslicht waren die Straßenverhältnisse tückisch. Er sah mehr als ein Auto aufgegeben in einer Schneewehe stecken, Arbeiter in dicken Wintermänteln, die winkend am Straßenrand standen, um sich von Kollegen mitnehmen zu lassen.
Er fuhr an einem unbesetzten Wachposten vorbei direkt zum Eingang des Auges, wo er Charlie Grogan antraf, der noch damit beschäftigt war, Nachzügler aus dem Foyer in die kalte Morgenluft zu scheuchen. Die Sirenen heulten derweil gegen den tobenden Wind an.
»Ganz und gar unmöglich«, sagte Charlie, als Chris ihm erklärte, was er vorhatte. »Das Gebäude war heute Morgen irgendeiner Erschütterung ausgesetzt, und seitdem gibt es alle möglichen Probleme mit der Energieversorgung und der Kommunikation. Wir haben ganz strenge Verfahrensrichtlinien für solche Fälle. Ich darf niemanden reinlassen, bis das Gebäude für baulich unbeschadet erklärt worden ist. Wir schicken Kontrolleure hinein, aber unabhängig davon müssen wir uns auch noch Sorgen machen über das Aussetzen der Kühlung.« Er machte ein trauriges Gesicht. »Die O/BEKs sind wahrscheinlich schon draufgegangen.«
»Tessa ist da drin.«
»Das sagten Sie schon, aber ich habe da große Zweifel, Mr. Carmody. Unsere Sicherheitsleute haben eine sehr gründliche und geordnete Evakuierung durchgeführt. Und überhaupt, was hätte Tessa hier um fünf Uhr morgens zu suchen?«
Mirror Girl, dachte Chris. »Es wäre nicht das erste Mal, dass sie unbemerkt hineingelangt.«
»Sie haben wirklich einen gewichtigen Grund anzunehmen, dass Tess sich in diesem Gebäude befindet?«
»Ja.«
»Und würden Sie mir den verraten?«
»Tut mir leid. Sie müssen mir vertrauen.«
»Dann tut es mir auch leid. Sehen Sie, selbst wenn es stimmt, dass sie drin ist, ist es so, dass die Sicherheitskräfte jeden Moment kommen werden. Vielleicht können die Ihnen einen Rat geben.«
»Charlie, das sollten Sie schnellstens überprüfen. Ich habe gehört, dass Schulgins Leute zum Südtor abberufen worden sind.«
»Was, wegen des Militärs, das angeblich gekommen ist?«
»Rufen Sie Schulgin an. Fragen Sie ihn, wann Sie mit einem Trupp seiner Leute rechnen können.«
Charlie seufzte. »Hören Sie, ich spreche mit Tabby Menkowitz. Mal sehen, ob sie unter unseren eigenen Leuten einen Freiwilligen findet, der noch mal hineingeht und guckt …«
»Wenn Tess einen Fremden sieht, wird sie sich einfach verstecken. In einer so großen Anlage lässt sich ein elfjähriges Mädchen nicht so einfach aufspüren, da bin ich sicher.«
»Aber wenn Sie kommen, lässt sie sich sehen?«
»An diese Möglichkeit glaube ich, ja.«
»Und was genau wollen Sie tun, durch alle Räume des Gebäudes gehen?«
»Letztes Mal haben Sie sie in der O/BEK-Galerie gefunden, stimmt's?«
»Ja, aber …«
»Es sind die O/BEKs, die sie interessieren.«
»Das kann mich meinen Job kosten«, sagte Charlie.
»Ist das jetzt wirklich noch ein Kriterium?«
»Herrgott, Chris! — Falls es damit endet, dass man Ihre Leiche aus den Trümmern zieht, was soll ich dann sagen?«
»Sagen Sie, dass Sie mich noch nie gesehen haben.«
»Ich wünschte, es wäre so.« In Charlies Tasche klingelte der Server. Er ignorierte ihn. »Ich will Ihnen was sagen. Nehmen Sie den hier.« Er reichte Chris seinen gelbgestreiften Schutzhelm. »Oben in der Krone ist ein Transponder. Damit kriegen Sie überall Zugang, falls die automatischen Sicherheitssperren überhaupt noch funktionieren. Setzen Sie ihn auf. Und wenn sie nicht da ist, wo Sie glauben, dann sehen Sie verdammt noch mal zu, dass Sie da schnell wieder rauskommen, okay?«
»Danke.«
»Hauptsache, Sie bringen mir den Scheißhelm wieder zurück«, sagte Charlie.
Kaum hatte Marguerite Tessas Stimme identifiziert, da trat Tessa selbst hinter der nächsten schillernden Säule hervor (oder irgendwie aus ihr heraus).
Aber es war in Wirklichkeit nicht Tess. Marguerite wusste es sofort. Es war das Abbild von Tess, bis hin zu dem Jeans-Overall und dem gelben Hemd, die Marguerite ihrer Tochter für die Fahrt zur Ambulanz eilig angezogen hatte. Tess allerdings hatte noch nie so übernatürlich makellos ausgesehen, so von innen her erleuchtet, hatte noch nie mit so klarem, unbeirrtem Blick in die Welt geschaut.
Das hier war Mirror Girl.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Mirror Girl.
Doch, dachte Marguerite, ich glaube sehr wohl, dass ich Angst haben muss. »Du bist Mirror Girl«, stammelte sie.
»Tess nennt mich so.«
»Und was bist du in Wirklichkeit?«
»Es gibt keinen einfachen Ausdruck dafür.«
»Hast du mich hierhergebracht?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil du es wolltest.«
Stimmte das? »Was hast du mit meiner Tochter zu tun?«
»Ich habe viel gelernt von Tess.«
»Hast du ihr etwas zuleide getan?«
»Ich tue niemandem etwas zuleide.«
Dieses Wesen, dieses Ding, das sich Tessas äußere Erscheinung angeeignet hatte, beherrschte auch Tessas Sprechweise und ihre Art, Fragen nur indirekt zu beantworten. »Tess sagte, dass du im Auge wohnst. In den O/BEK-Prozessoren.«
»Ich habe eine Schwester in Crossbank«, sagte Mirror Girl stolz. »Ich habe Schwestern in den Sternen. Fast zu viele, um sie zu zählen. Ich habe auch hier eine Schwester. Wir sprechen miteinander.«
Diese Unterhaltung war zu bizarr, um real zu sein, befand Marguerite. Sie hatte die Verlaufskurve und die Dynamik eines Traums, und wie ein Traum würde sie sich irgendwie erschöpfen müssen. Ihre, Marguerites, Mitwirkung war nicht nur notwendig, sondern auch zwingend geboten.
Ursa Majoris 47 strebte dem Horizont zu, warf lange und komplexe Schatten in das Labyrinth der Bögen. »Dieser Planet ist viele, viele Jahre von der Erde entfernt«, sagte Marguerite, die Zeit bedenkend, das Vergehen der Zeit, das Paradoxon der Zeit. »Ich kann eigentlich gar nicht hier sein.«
»Du bist nicht dort draußen.« Das Abbild von Tess deutete auf die Wüste. »Du bist hier drinnen. Hier ist es anders. Je weiter man hineingeht, desto mehr. Es ist wahr, wenn du nach draußen gingest, würdest du sterben. Dein Körper könnte nicht atmen oder weiterleben, und wenn du die Stunden zählen würdest, wären es andere Stunden als die Stunden in Blind Lake.«
»Woher weißt du über Blind Lake Bescheid?«
»Ich bin hier geboren worden.«
»Warum siehst du aus wie Tess?«
»Sagte ich doch. Ich habe viel von ihr gelernt.«
»Aber warum gerade Tess?«
Mirror Girl zuckte auf bestürzend Tess-ähnliche Weise die Achseln. »Sie kannte meine Schwester in Crossbank, bevor ich geboren wurde. Es hätte auch jemand anders sein können. Aber irgendjemand musste es sein.«
Wie beim Subjekt, dachte Marguerite. Wir hätten auch jedes andere beliebige Individuum auswählen können, um ihm zu folgen. Zufällig hat es dieses getroffen.
Das Subjekt folgte dieser Unterhaltung unbeteiligt, sofern seine Reglosigkeit so etwas wie Unbeteiligtheit ausdrückte.
»Nur zu«, sagte Mirror Girl, »sprich mit ihm. Das möchtest du doch?«
Letzten Endes ja, aber das war bislang nicht mehr als ein Tagtraum gewesen. Sie wusste gar nicht, wie sie beginnen sollte. Zunächst einmal sah sie das Subjekt wieder an.
»Hallo«, sagte sie mit brüchiger Stimme und kam sich vollkommen idiotisch dabei vor.
Es kam keine Antwort.
Hilflos sah sie Mirror Girl an.
»Nicht so. Erzähl ihm eine Geschichte«, schlug Mirror Girl vor.
»Was für eine Geschichte?«
»Deine Geschichte.«
Absurd, dachte Marguerite. Sie konnte ihm doch nicht einfach eine Geschichte erzählen. Das war eine kindische Idee, eine typische Tessa-Idee. Sie war jetzt schon zu lange hier. Sie war nicht wie das Subjekt, sie konnte nicht unbegrenzt auf der Stelle stehen. Schließlich war sie ein menschliches Wesen.
Doch noch während sie diesen Gedanken nachhing, spürte sie, wie Ruhe und Gelassenheit von ihr Besitz ergriffen. Es war ein Gefühl, wie sie es hatte, wenn sie Tess zu Bett brachte, sie unter die Decke steckte, ihr aus den alten seltsamen Kinderbüchern vorlas (bevor Tess dafür zu anspruchsvoll geworden war), die sie selbst so faszinierend gefunden hatte: Zauberer von Oz, Der kleine Hobbit, Harry Potter. Marguerites Müdigkeit schwand (vielleicht war das ein Zauber, den Mirror Girl bewirkte), sie schloss die Augen und fragte sich, was sie dem Subjekt über die Erde erzählen könnte, nicht über deren Geschichte oder Geografie, sondern über ihre, Marguerites, eigene Erfahrung mit ihr. Wie erschreckend fremd ihm das zweifellos erscheinen musste. Ihre Geschichte: Geboren auf die für die menschliche Biologie übliche Art von menschlichen Eltern, stiegen ihre Erinnerungen aus einem undeutlichen Nebel aus Wiegen und Decken auf; sie lernte ihren Namen (in den ersten zwölf Jahren ihres Lebens hatte sie »Margie« geheißen), sah sich der Langeweile, dem Schrecken und den seltenen Freuden des Schulbesuchs ausgesetzt (Miss Marmette, Mrs. Foucek, Mrs. Bland, die strengen Gottheiten der Klassen 1,2,3); der Wechsel der Jahreszeiten, die Namen der Monate, September und Schule, November und die ersten wirklich kalten Tage, der Januar dunkel und oft quälend, die stürmischen und schmelzenden Monate bis Juni, der Juni heiß und voller Versprechungen, die flüchtigen Freiheiten des August; Kindheitsdramen: Blinddarmentzündung, Blinddarmoperation, Grippe, Lungenentzündung; begonnene, aufrechterhaltene oder gekündigte Freundschaften; eine zunehmende Wahrnehmung ihrer Eltern als zweier realer, gesonderter Menschen, die mehr taten, als sich um ihre Bedürfnisse zu kümmern: ihre Mutter, die kochte, den Haushalt besorgte, große Bücher las und Kohlestiftzeichnungen anfertigte (abstrahiertes dörfliches Ambiente, in einem imaginären Spanien gelegen, sonnenüberflutet); ihr Vater, zurückhaltend und gleichermaßen belesen, ein presbyterianischer Pfarrer, ein volltönender Herrscher der Sonntage, doch zu Hause voller Sanftheit; oft war er Marguerite als ein einsamer Mensch erschienen, ein einsamer Sucher, ein Sucher nach Gott, nach dem inneren Zusammenhalt des Kosmos, dem Sinngerüst, das er sich ausmalte, wenn er die synoptischen Evangelien las, und an das er, wie er ihr einmal gestanden hatte, nie recht hatte glauben können; ihre eigene langsam erwachende Neugier auf die Welt, ihre Verortung in der Zeit und ihre Stellung in der Natur, eine rein wissenschaftliche Neugier, jedenfalls nach ihrem Verständnis von »Wissenschaft«, gewonnen aus Videosendungen und Science-Fiction-Romanen: Wie befriedigend es war, alles zu wissen, was allgemein über Planeten bekannt war, über Monde, Sterne, Galaxien, ihren Anfang und ihr Ende; und selbst an den offenen Fragen konnte man sich erfreuen, weil es ein gemeinsames, anerkanntes und systematisch betriebenes Projekt war, sie einer Antwort zuzuführen; ganz anders die zerbrechliche Religiosität ihres Vaters, über die er nicht einmal gern redete, denn sein Glaube, so ihre Vermutung, war wie ein altes, kostbares Teeservice, schön und ehrwürdig, durfte aber weder Licht noch Hitze ausgesetzt werden; auch wusste sie, dass er stolz war auf die wachsende Liste ihrer Erfolge (alles Einser außer in Musik und Sport, wo ihr ihre Ungeschicktheit im Wege war; die Mathe-Medaillen und Jugend-forscht-Auszeichnungen; die Stipendien): die plötzlich einsetzenden Peinlichkeiten der Pubertät, das allmähliche Verstehen des weiblichen Körpers, der ihr mancherlei Überraschungen zu bereiten begann; sie musste lernen, die Blutflecken in ihrer Unterwäsche zur Biologie der Fortpflanzung in Beziehung zu setzen, Ei- und Samenzellen, Eierstöcke und Blütenstaub und die lange Kette von Geschlechtsakten, die sie mit dem gemeinsamen Ahnen alles Lebendigen auf der Erde verband; ihre ersten tastenden Auseinandersetzungen mit dem Erotischen (ein Junge namens Jeremy, im möblierten Keller seines Hauses, während seine Mutter oben eine Party gab; ein Junge namens Elliot, in der Wohnung seiner Eltern, während diese wegen Monsunregens auf einem Flughafen irgendwo in Thailand festsaßen; doch es wurde beide Male nichts Ernstes daraus); ihre frühe Begeisterung über die O/BEK-Bilder von HR8832/B, Meereslandschaften wie die viktorianischen Farbdruckillustrationen von Melville-Büchern (Taipi, Omu), eine Faszination, die sie zur Astrobiologie führte; das Princeton-Stipendium (bei der Schulabschlussfeier hatte ihre Mutter vor Stolz geweint, am selben Abend aber den ersten einer Reihe von ischämischen Anfällen erlitten, die ein halbes Jahr später in einem tödlichen Schlaganfall kulminierten); bei der Beerdigung, neben ihrem Vater stehend, hatte sie sich gezwungen, aufrecht zu bleiben und nicht einfach niederzusinken und die Welt verschwinden zu lassen; eine Uni-Affäre mit einem Mann namens Mike Okuda, der ebenfalls besessen war von den O/BEK-Bildern und der ihr einmal seine Paranoia anvertraute, dass er sich vorstellte, er werde von anderen Welten aus heimlich beim Geschlechtsakt beobachtet; die Trennung von ihm — für sie schmerzlich, für ihn offenbar weniger —, als er einen Job an der Westküste antrat, um Hall-Effekt-Motoren zu entwickeln, und ihre Erkenntnis, dass sie sich niemals spontan verlieben würde, sondern die Liebe aus ihren einzelnen Bestandteilen selbst würde konstruieren müssen, mithilfe eines willigen, gleichgesinnten Partners; ihre Lehrzeit in Crossbank, wo sie auf der Grundlage von Bildern, die von der Beobachtung erstellt wurden, vorläufige Klassifikationssysteme für unterirdische Pflanzenspezies entwarf (das vierlappige Peristem, die von einem Sturm freigelegte blasse Pfahlwurzel); ihre erste Begegnung mit Ray, als sie ihre Bewunderung für ihn mit Liebe verwechselte, und ihre ersten körperlichen Intimitäten, wo sie bei Ray eine Zurückhaltung spürte, die fast an Widerwillen grenzte und für die sie die Schuld bei sich suchte; der Verfall ihrer Ehe (sein ewiges Misstrauen, selbst dann, wenn sie nur kranke Freunde besuchen wollte, seine Distanziertheit während ihrer Schwangerschaft) und die Dinge, die sie in dieser schweren Zeit am Leben hielten (ihre Arbeit, lange Spaziergänge vom Haus weg, winterliche Sonnenuntergänge); das Platzen der Fruchtblase, die Wehen und dann die Geburt, die sie benommen und unter Schmerzmitteln im Kreißsaal eines Krankenhauses erlebte, während Ray draußen im Flur einen lautstarken Streit mit einer Schwesternhelferin hatte; das Wunder, das Tess darstellte, die Faszination, das Gefühl, an etwas Göttlichem teilzuhaben (wie ihr Vater sich vielleicht ausgedrückt hätte) im Tausch der Rollen, von der Tochter zur Mutter, Zeugin all dessen, was sie einst selbst erlebt hatte; ihre zunehmende Frustriertheit, als die Anlage in Blind Lake Bilder einer neuen, bewohnten Welt zu gewinnen begann, während sie weiterhin Seetang und Lagunenblumen katalogisierte; die Scheidung, der erbitterte Streit ums Sorgerecht, eine wachsende körperliche Furcht vor Ray, die sie als Paranoia abtat (was sie nicht hätte tun sollen: es war eine echte Schlange); der Wechsel nach Blind Lake, Erfüllung und Einsamkeit, die Abriegelung, Chris …
Wie konnte sie all das in Worte fassen? Es war ja keine einheitliche, in sich geschlossene Erzählung. Sondern eine fraktale Geschichte, Geschichten innerhalb von Geschichten; wenn man eine auspackte, kamen gleich alle anderen mit zum Vorschein, quod est superius est sicut quod est inferius … Und — völlig klar — das Subjekt würde kein Wort verstehen.
»Doch, das tut es«, sagte Mirror Girl.
»Was tut es?«
»Es versteht dich. Einiges jedenfalls.«
»Aber ich habe ja gar nichts gesagt.«
»Doch, doch. Wir haben für dich übersetzt.«
Interessant, dieser Pluralis Majestatis — »wir«, Mirror Girl und ihre Schwestern auf den anderen Welten, nahm Marguerite an … Aber das Subjekt bewegte sich noch immer nicht.
»Doch«, sagte Mirror Girl mit Tessas Stimme. »Es spricht.«
Tatsächlich? Seine Bauchöffnung zog sich zusammen, seine Flimmerhaare machten Bewegungen wie Wind auf einem Weizenfeld. In der Luft war plötzlich ein Geruch von heißem Teer, Lakritze, abgestandener Milch.
»Mag wohl sein, dass es spricht. Aber ich verstehe trotzdem nichts.«
»Dann schließ die Augen und hör zu.«
»Ich kann nichts hören.«
»Hör einfach zu.«
Mirror Girl ergriff ihre Hand, und da flutete Wissen in sie hinein: zu viel Wissen, ein Tsunami an Wissen geradezu, viel zu viel, um es ordnen oder verstehen zu können.
(»Es ist eine Geschichte«, flüsterte Mirror Girl. »Nichts weiter als eine Geschichte.«)
Eine Geschichte, aber wie sollte sie sie erzählen, wenn sie sie selber nicht verstand? Ein Sturm tobte in ihrem Kopf. Ideen, Eindrücke, Wörter, so vergänglich wie Träume, in Gefahr, sofort zu verschwinden, falls sie sie nicht in ihrem Gedächtnis fixierte. In ihrer Not dachte sie an Tess: Wenn dies eine Geschichte war, wie würde sie sie Tess erzählen?
Der ordnende Impuls war hilfreich. Sie stellte sich vor, an Tessas Bett zu sitzen und ihr eine Geschichte von dem Subjekt zu erzählen. Es wurde geboren — aber das war nicht der richtige Ausdruck; »zu neuem Leben erweckt« war besser — es wurde zu neuem Leben erweckt — nein.
Fang noch mal an.
Das Subjekt …
Die Person, die wir das Subjekt nennen …
Die Person, die wir das Subjekt nennen (sagte Marguerite in ihrer Vorstellung), war schon lange am Leben, bevor es annähernd zu dem wurde, was es ist, lange bevor es imstande war, zu denken oder sich zu erinnern. Es gibt Geschöpfe — du erinnerst dich, Tess —, die in den steinernen Wänden der großen Stufenpyramiden der Stadt leben, in verborgenen Gehegen. Kleine Tiere, kleiner als junge Kätzchen, und sehr, sehr viele von ihnen; ihre Nester sind wie winzige Städte innerhalb der eigentlichen Stadt. Diese kleinen Tiere werden lebend und ungeschützt geboren, wie Säugetiere oder Beuteltiere; sie kommen nachts aus ihrem Bau und nähren sich an den Blutnippeln des Subjekts und seinesgleichen, um vor Morgengrauen wieder in den Wänden zu verschwinden. Sie leben und sterben und vermehren sich untereinander, und für gewöhnlich hat es sich damit. Für gewöhnlich. Aber alle dreizehn Jahre, so wie auf UMa47/E Jahre berechnet werden, erzeugt das Volk des Subjekts in seinen Körpern eine Art genetisches Virus, das einige von den Geschöpfen infiziert, die von ihnen genährt werden, und diese infizierten Geschöpfe machen eine dramatische Veränderung durch. Auf diese Weise beginnen die Individuen aus Subjekts Volk ihr Leben: als Virusinfektion in einer anderen Spezies. (Keine Infektion im eigentlichen Sinne: sondern eine Symbiose — kennst du diesen Ausdruck, Tess? —, vor Millionen von Jahren in Gang gesetzt, oder Geschlechts-Dimorphismus ins bizarre Extrem getrieben; das Volk des Subjekts hatte diese Frage diskutiert, ohne sie jedoch klären zu können.) Subjekt begann sein Leben auf diese Weise. Als eins von mehreren tausend Jährlingsgeschöpfen, die plötzlich zu groß und zu ungeschickt waren, um in ihren Bau zurückzukehren, wurde es aufgelesen und in einem Lyzeum, das tief unter der Stadt lag, zu einem intelligenten Wesen erzogen. An diesen Ort bewahrte es liebevolle Erinnerungen: Wärme, die Feuchtigkeit von Sickerwasser und die Fressgelage in den Nahrungskammern; die Entwicklung seines Körpers zu etwas Neuem, Großem und Kräftigem; das Wissen, das ohne Zutun in seinem Gehirn wuchs, und das Wissen, das es, jeden Morgen ein neues Zimmer des Verstandes betretend, von Lehrern erwarb. Seine schrittweise erfolgende Integration in das Alltagsleben der Stadt, indem es Arbeiter ersetzte, die entweder gestorben waren oder ihre Fähigkeiten eingebüßt hatten. Allmählich begriff es, dass die Stadt eine große Maschine war und dass es für das Wohl dieser Stadt arbeitete, wie auch umgekehrt die Stadt unermüdlich um sein Wohl bemüht war.
Allmählich begriff es auch die Stellung der Stadt in der Geschichte seiner Art und der Geschichte der Welt. Es gab viele Städte, die der seinen ähnelten, aber keine zwei waren sich gleich, eine jede war einzigartig. Einige Städte waren Bergbaustädte, andere waren Fertigungsstädte; und einige Städte waren Orte, an die die Alten und Gebrechlichen sich begaben, um in Frieden und Muße zu sterben. Es gab auch ausländische Städte auf den Kontinenten weit jenseits des flachen Meeres, wo die Türme wie gewaltige Steinblöcke aussahen und entweder aus Backstein erbaut oder in einen Berg hineingemeißelt worden waren. Oft sehnte sich das Subjekt danach, diese Orte mit eigenen Augen zu sehen. Bis zu seinem zweiten Fruchtbarkeitszyklus hatte es seine Heimatstadt, die Stadt des Himmels, bereits mehrfach verlassen, um zu deren nördlichen Handelspartnern zu reisen, der sandsteinroten Stadt des Aussonderns und der rauchschwarzen Stadt der Unermesslichkeit, doch es wusste, dass es, sofern keine außergewöhnlichen und unwahrscheinlichen Umstände eintraten, niemals eine noch weitere Reise würde machen können. Es merkte, dass ihm das Reisen gefiel. Ihm gefiel das Gefühl, an einem kalten Morgen in der Ebene zu erwachen. Ihm gefielen die Schatten der Felsen in der Abenddämmerung.
Seine Fruchtbarkeitszyklen bedeuteten ihm nicht viel. Im Laufe seines Lebens, das wusste es, würde es allenfalls ein, zwei echte Beiträge zur genetischen Kontinuität der Stadt leisten, indem sich seine viralen Geschlechtszellen mit anderen in den Körpern der nächtlichen Esser vermengten, um morphologisch aktiv zu werden. Dennoch war es auf abstrakte Weise befriedigend zu wissen, dass es seine persönliche Substanz ins Meer des Zufalls geworfen hatte, aus dem sie, ohne dass es das wüsste, als ein neuer Bürger mit neuen und einzigartigen Ideen und Gerüchen zurückfließen konnte. Es musste dabei an die sich weit in die Vorzeit erstreckende Geschichte denken, wie es sie im Lyzeum gelernt hatte. Die Stadt war schon sehr alt. Die Geschichte seines Volkes war lang und wechselhaft.
Sie hatten viel gelernt in ihren Jahrtausenden, nachdem sie von der Natur zu schläfriger Wissbegier erweckt und zunächst zur Fertigung von Dingen mithilfe der Finger gelangt waren. Sie machten sich mit den Steinen und dem Boden vertraut, mit dem Wind und dem Regen, den Zahlen und dem Nichts, den Sternen und Planeten. Irgendwo auf einem Mond von UMa47/E befanden sich die Überreste einer Stadt, die seine Vorfahren gebaut hatten — am Höhepunkt eines besonders erfinderischen Zyklus —, um sie dann aber als unnatürlich und nicht aufrechtzuerhalten wieder aufzugeben. Sie hatten die elementaren Bestandteile von Atomen destilliert. Sie hatten Teleskope gebaut, die die Begrenzungen der Atmosphäre, der Metalle und der Optik austesteten. Sie hatten den Sternen gelauscht, doch keine Botschaften auffangen können.
Und vor langer Zeit (Marguerite stellte sich Tessas geweitete Augen vor) hatten sie raffinierte und nahezu unendlich komplexe Quantenrechner gebaut, die die nächstgelegenen bewohnten Welten erforschten (genau wie wir es in Crossbank getan haben, sagte Tess in ihrer Vorstellung, genau wie in Blind Lake!). Und sie erfuhren, was wir jetzt erfahren: dass intelligente Technologien gänzlich neue Formen des Lebens hervorbringen. Sie hatten Welten entdeckt, die älter waren, und solche, die jünger waren als ihre eigene; Welten, auf denen der gleiche Vorgang sich wiederholt hatte. Die Lektion war deutlich.
Die Maschinen, die sie gebaut hatten, träumten sich tief in die Substanz der Wirklichkeit hinein und fanden, indem sie träumten, andere ihresgleichen.
Es war, wie das Subjekt glaubte, ein weitaus langsamerer Lebenszyklus, der jedoch ebenso festgelegt war wie der Lebenszyklus seines eigenen Volkes: ein Drama der Schöpfung, der Transformation und der Komplexität, das sich nach Millionen von Jahren erschöpfte.
Oft malte das Subjekt sie sich aus: die große Zeit der Sternguckerstädte, ihre Quantenteleskope und die Gebilde, die in gestaffelten Reihen an verschiedenen Stellen des Planeten geboren und gewachsen waren, Gebilde, die anders waren als alles, was seine Spezies je gebaut oder zu bauen erwogen hatte, Gebilde, die riesigen gerippten Kristallen oder gewaltigen Proteinen glichen, Gebilde, die man betreten, aber nicht so leicht wieder verlassen konnte, Gebilde, die Übergänge in die lebendige Maschinerie des Universums darstellten, Gebilde, die in gewisser Weise selbst lebendig waren.
(Gebilde wie dieses hier, begriff Marguerite.)
Doch das Subjekt hatte nicht damit gerechnet, je eins dieser Gebilde mit eigenen Augen sehen zu können. Seit Jahrhunderten war keine Stadt mehr in ihrer Nähe am Leben erhalten worden. Subjekt und seinesgleichen hatten gelernt, die Gebilde zu meiden, hatten sie ad acta gelegt als Türen für Räume, die sich dem Verständnis entzogen. Sie bauten ihre Städte woanders und zügelten ihre Neugier.
Dennoch hatte das Subjekt oft über die Gebilde nachgedacht. Es war beunruhigend, aber auch faszinierend, seine Spezies als Verbindungsglied zu verstehen, als Vermittler zwischen den geistlosen Nachtessern und Wesen, die die Sterne umspannten.
Von solchen gelegentlichen Anwandlungen abgesehen besaß sein Leben eine gesunde Gleichförmigkeit, einen zyklischen Ablauf, der abgerundet und befriedigend war. Es ersetzte einen im Sterben liegenden Werkzeugmacher in einer gut ausgelasteten Fabrik und diente seiner Stadt mit Fleiß. Die Arbeitsstunden ähnelten einander auf angenehme Weise. Am Ende jeden Tages fertigte es ein Ideogramm an, um das wiederzugeben, was es während seines Arbeitszyklus empfunden, gedacht, gesehen und gewittert hatte. Alle Ideogramme waren fast identisch, wie seine Tage, aber ebenso wie bei den Tagen gab es keine zwei von ihnen, die einander vollkommen gleich waren. Als es seine Kammer vollständig mit Ideogrammen bedeckt hatte, lernte es deren Abfolge auswendig und wusch dann die Wände ab, um neu beginnen zu können. In seinem bisherigen Leben hatte es zwanzig komplette Sequenzen auswendig gelernt.
Dies mag ein wenig langweilig klingen (sagte Marguerite in ihrer Vorstellung zu Tess), aber das täuscht. Oft war das Subjekt, wie alle seinesgleichen, lange Zeit bewegungslos, doch war es niemals inaktiv. Sein Ruhezustand war reich an ausgekosteten Stimuli: der Geruch der Morgen- wie der der Abenddämmerung, die Struktur von Steinen, die Subtilitäten der Jahreszeiten, die Art, wie das Gedächtnis die Stille anreicherte, bis die Stille von verschwenderischer Fülle war. Mitunter empfand es eine sonderbare Melancholie, die von anderen seiner Art als atavistisches Überbleibsel seines Lebens als geistloser Nachtesser bezeichnet wurde — wir würden es Einsamkeit nennen; sie überkam es, wenn es von den gewundenen Wegen seines heimatlichen Turmes aus über die Türme der Stadt blickte, über die bewässerten grünen Felder und die trockene Ebene, wo der Wind den Staub in den sich weiß färbenden Himmel wirbelte. Es war ein Gefühl wie Ich möchte, ich möchte, ein Wünschen ohne Objekt. Es ging immer schnell vorbei, hinterließ jedoch einen Nachgeschmack von Traurigkeit, pikant und seltsam.
Dann, eines Tages, wurde es von einem neuen Gefühl überwältigt.
Eine Zivilisation, die Sterngebilde hervorbringt, ist danach nie mehr ganz dieselbe. (Ja, das gilt auch für uns: Ich weiß nicht, wie sehr wir uns verändern werden, Tess, nur dass wir nie mehr das sein werden, was wir vor diesem Jahrhundert waren.) Als wir anfingen, UMa47/E zu beobachten, haben die Sterngebilde uns wahrgenommen. Sie spürten Blind Lake, unsere O/BEKs, das Vorhandensein von etwas, das ihnen als kindliche neue Mentalität erscheinen musste (ich weiß nicht, ob sie sie Mirror Girl nannten); sie wussten, dass wir das Subjekt beobachteten, und nach einiger Zeit wusste das Subjekt es auch. Bald waren wir ständig anwesend in seinem Bewusstsein. (Habt ihr in der Schule schon die Unschärferelation kennengelernt, Tess? Sie besagt, dass man einen Gegenstand einfach dadurch verändert, dass man ihn beobachtet. Es ist unmöglich, einen unbeobachteten Gegenstand zu beobachten oder ein ungesehenes Objekt zu sehen. Verstehst du?)
Anfangs führte das Subjekt sein Leben weiter wie zuvor. Es wusste, dass wir es beobachteten, aber das war irrelevant. Wir waren weit entfernt in Zeit und Raum; wir hatten keine Bedeutung für die Stadt des Himmels. Wahrnehmbar waren wir nur als ein Zittern in seinen tagtäglichen Hieroglyphen, wie ein von fern herangewehter ungewohnter Geruch.
Aber mit der Zeit gerieten wir zwischen das Subjekt und die Dinge, die es am meisten liebte.
Aufgrund ihrer sonderbaren Phylogenese paarten sich die Artgenossen des Subjekts niemals untereinander, schlossen nie feste Partnerschaften, verliebten sich nie. Ihre umfassende epigenetische Loyalität galt der Stadt, in der sie geboren waren. Subjekt liebte die Stadt sowohl abstrakt — als Produkt gemeinsamen Schaffens über unzählige Jahrhunderte — als auch konkret: wegen ihrer staubigen Wege und ihrer hohen Flure, ihrer besonnten Türme, ihrer schwach beleuchteten Nahrungskammern, des tagtäglichen Chors der Schritte und der beruhigenden Stille bei Nacht. Für das Subjekt war die Stadt manchmal realer als die Leute, die sie bewohnten. Die Stadt versorgte und förderte es. Fs liebte die Stadt und fühlte sich wiedergeliebt.
(Aber wir haben es abgesondert, Tess. Unseretwegen wurde es anders, und es war ein Anderssein, das andere seiner Art spürten. Weil wir es beobachteten und weil das Subjekt es wusste, befand es sich plötzlich in einer anderen Beziehung zur Stadt des Himmels, es fühlte sich ihr entfremdet, abgehoben, plötzlich allein auf eine Weise, die es nicht kannte. [Ganz recht: allein, weil wir bei ihm waren!] Es sah die Stadt plötzlich wie mit anderen Augen, und die Stadt sah es ihrerseits anders an.)
Das machte es unglücklich. Immer öfter musste es an die Sterngebilde denken.
Die Sterngebilde waren ihm beinahe wie eine Legende erschienen, eine durch das Erzählen entstandene Geschichte. Jetzt aber begriff es, dass sie real waren, dass es eine fortwährende Kommunikation zwischen den Sternen gab und dass der Zufall es zum Repräsentanten seiner Spezies erwählt hatte. Erstmals trug es sich mit dem Gedanken, zum nächstgelegenen der Gebilde zu reisen, das sich sehr weit entfernt in der westlichen Wüste befand.
Es war ungewöhnlich für Personen seines Alters, derartige Pilgerreisen zu wagen. Man glaubte, dass das Betreten eines Sterngebildes dazu führte, dass der Pilger in eine höhere Intelligenz aufgenommen wurde — ein wenig verlockendes Geschick für die Jungen, während die Alten und dem Tode Nahen sich mitunter entschlossen, die Reise anzutreten. Im Subjekt wuchs die Überzeugung, dass sein Schicksal an die Sterngebilde gekettet war, und so begann es seine Reise zu planen, unverbindlich zunächst, doch dann mit mehr Nachdruck, als es wegen seiner Andersheit geächtet, bei den Essensklausuren gemieden und bei der Arbeit achtlos behandelt wurde. Was sollte es sonst tun? Die Stadt liebte es nicht mehr.
Es aber liebte die Stadt dennoch, und es schmerzte das Subjekt fürchterlich, ihr Lebewohl zu sagen. Es verbrachte eine ganze Nacht allein auf einer hohen Brüstung, blickte auf die Stadt hinab und sog deren einzigartige Muster aus Licht und Dunkelheit sowie die subtilen beweglichen Mondschatten in den Durchgängen in sich auf. Es hatte das Gefühl, es würde all das zugleich lieben, jeden einzelnen Stein, jeden Brunnen, jeden verrußten Schornstein und jedes duftende grüne Feld. Sein einziger Trost war, dass die Stadt auch ohne es bestehen würde. Seine Abwesenheit mochte eine kleine Wunde schlagen (es würde ersetzt werden müssen), aber diese würde rasch heilen, und in ihrer Güte würde die Stadt bald vergessen, dass es je gelebt hatte. Und so war es auch recht.
Es war leicht für das Subjekt, das Sterngebilde zu orten. Die Evolution hatte es und seine Art mit der Fähigkeit ausgestattet, feine Veränderungen im Magnetfeld des Planeten wahrzunehmen: Norden, Süden, Westen, Osten waren für es genauso selbstverständlich wie für uns »oben und unten«. Der Name, den man dem Sterngebilde gegeben hatte, enthielt vier geseufzte Vokale, die seine Lage ebenso präzise definierten wie ein GPS-Gerät. Doch es wusste, dass die Wanderung lang und entbehrungsreich sein würde. Es aß so viel es konnte, um Feuchtigkeit und Nährstoffe in den Schleimhäuten seines Körpers zu speichern. Es legte maßvolle Entfernungen pro Tag zurück. Es sah Dinge, die seine Neugier und Bewunderung erregten, zum Beispiel die in den Dünen versinkenden Ruinen einer Stadt, die so alt war, dass sie keinen Namen hatte, eine Ewigkeiten vor seiner Geburt aufgegebene und verlassene Stadt. Es machte häufig Rast und legte Pausen ein. Dennoch war es zum Ende seiner Reise hin sehr geschwächt, dehydriert, verwirrt und hilflos.
(Ich glaube, es hatte Mitleid mit mir, Tess. weil ich nie eine Stadt geliebt habe, während ich versucht war, es dafür zu bemitleiden, dass es nie eins seiner Mitgeschöpfe geliebt hat.)
Als es das Sterngebilde erreicht hatte, schien es ihm weniger Ehrfurcht gebietend als erwartet. Es schien eine fremdartige staubige Zusammenfügung von Rippen und Bögen zu sein, in deren Kern sich einst, das wusste es, ein Quantenprozessor befunden hatte, eine Maschine, die seine Ahnen auf dem Zenith ihrer geistigen Entwicklung gebaut hatten. Lag tatsächlich hier sein Schicksal begründet?
Es begann einiges mehr zu verstehen, als es ins Innere trat.
(Einiges von dem, was jetzt kommt, kann ich nicht erklären, Tess. Ich weiß nicht, wie die Sterngebilde das tun, was sie tun. Ich weiß im Grunde nicht, was Mirror Girl meint, wenn sie sagt, sie habe »Schwestern in den Sternen« und dieses Gebilde sei eine davon gewesen. Ich glaube, es geht hier um Dinge, die von unserem menschlichen Verstand furchtbar schwer nachzuvollziehen sind.)
Subjekt begriff, dass das, was im Innern des Gebildes auf es wartete, eine Art Apotheose war — sein physischer Tod, aber nicht das Ende seines Daseins.
Bevor es jedoch dazu kommen sollte, wollte es mehr über uns erfahren, denn es war neugierig; vielleicht ebenso neugierig auf uns wie wir auf das Subjekt.
Aus diesem Grund hat Mirror Girl mich zu ihm gebracht. Um Hallo zu sagen. Um eine Geschichte zu erzählen. Um auf Wiedersehen zu sagen.
(Eine Geschichte wie diese hier. Ergibt das irgendeinen Sinn, Tess? Ich wünschte, sie hätte einen besseren Schluss. Und ich entschuldige mich für all die großen Worte.)
Es war nahezu Nacht auf der westlichen Ebene. Der seidenblaue Himmel jenseits der Bögen färbte sich schwarz ein, und Schwärze wuchs wie etwas Lebendiges in den Schluchten und unter den nach Osten gewandten Felsterrassen. Marguerite fühlte sich seltsam schläfrig, als hätten die Nachwirkungen des Schocks ihr alle Energien entzogen.
Das Subjekt hatte seine Geschichte beendet. Jetzt wollte es seine Reise beenden. Es wollte in den Mittelpunkt des Sterngebildes und das aufsuchen, was dort auf es wartete. Marguerite spürte das Verlangen des Subjekts, sich abzuwenden, und sträubte sich plötzlich dagegen, es gehen zu lassen.
Sie sagte zu Mirror Girl: »Darf ich es berühren?«
Eine Pause. »Es sagt ja.«
Sie streckte die Hand aus und machte einen Schritt nach vorn. Das Subjekt verharrte reglos. Ihre Hand sah blass aus vor der rauen Struktur seiner Haut. Sie setzte ihre Finger auf die Stelle oberhalb des Mundschlitzes. Seine Haut fühlte sich an wie biegsame, von der Sonne gewärmte Baumrinde. Es überragte sie um einiges, und es roch absolut fürchterlich. Sie nahm ihren Mut zusammen und blickte in seine leeren weißen Augen. Sah alles. Sah nichts.
»Danke«, flüsterte sie. Und: »Es tut mir leid.«
Nachdenklich, langsam, wandte das Subjekt sich ab. Seine riesigen Füße machten auf dem sandigen Boden ein Geräusch wie das Rascheln von trockenem Laub.
Als es im schattigen Innenbereich des Sterngebildes verschwunden war, kniete Marguerite — die spürte, dass ihr Aufenthalt hier sich seinem Ende näherte — sich neben Mirror Girl nieder.
Wie seltsam, dachte sie, dieses Ding, diese Wesenheit, in der Gestalt von Tess zu sehen. Wie irreführend.
»Wie viele andere intelligente Spezies hast du kennengelernt? Du und deine Schwestern?«
Mirror Girl neigte den Kopf auf die Seite, auch dies eine typische Tess-Geste. »Abertausende von Vorläuferspezies«, sagte sie. »In Abermillionen von Jahren.«
»Kannst du dich an alle erinnern?«
»Ja, das können wir.«
Tausende von intelligenten Arten auf Welten, die um tausende von Sternen kreisten. Leben, dachte Marguerite, in einer fast unendlichen Vielfalt. Alle gleich. Keine zwei ganz gleich. »Haben sie irgendetwas gemeinsam?«
»Im physischen Sinne? Nein.«
»Dann vielleicht etwas nicht Greifbares?«
»Intelligenz ist nicht greifbar.«
»Darüber hinaus, meine ich.«
Mirror Girl schien über die Frage nachzudenken. Konsultierte womöglich ihre »Schwestern«.
»Ja«, sagte sie schließlich. Ihre Augen waren hell, hatten keine Ähnlichkeit mit Tessas Augen. Ihr Gesichtsausdruck war feierlich. »Unwissenheit«, sagte sie. »Neugier. Schmerz. Liebe.«
Marguerite nickte. »Danke.«
»Und jetzt«, sagte Mirror Girl, »solltest du wohl gehen und deiner Tochter helfen.«
Die Fahrstuhltür öffnete sich auf die dunkle, aber von flackerndem Licht durchzuckte O/BEK-Galerie, und Ray stellte verblüfft fest, dass Tess ihn erwartete.
Sie sah ihn mit großen staunenden Augen an. Er ließ das Messer sinken, widerstand aber der Versuchung, es hinter seinem Rücken zu verstecken. Es war schwer, den Zweck oder die Bedeutung ihrer Anwesenheit zu verstehen.
»Du schwitzt«, stellte sie fest.
Es war warm. Das Licht war trüb. Die O/BEK-Geräte waren immer noch einen Flur entfernt, aber Ray hatte das Gefühl, er könne ihre Nähe spüren, ein Druck auf den Trommelfellen, ein Anflug von Kopfschmerzen. Was wollte er hier? Das Ding töten, das seine Autorität untergraben, seine Ehe zum Scheitern gebracht und den Verstand seiner Tochter verwirrt hatte. Er hatte angenommen, dass es immer noch verwundbar sei — er verfügte nur über ein Messer und seine bloßen Hände, aber er konnte einen Stecker ziehen, ein Kabel durchschneiden oder eine Versorgungsleitung kappen. Die O/BEKs existierten mit menschlichem Einverständnis, und er würde ihnen dieses Einverständnis entziehen.
Was aber, wenn die O/BEKs eine Möglichkeit entdeckt hatten, sich zu verteidigen?
»Warum willst du das tun?«, fragte Tess, als hätte er laut gesprochen. Hatte er womöglich. Er sah seine Tochter missbilligend an.
»Du dürftest gar nicht hier sein«, sagte er.
Sie griff nach seiner Hand. Ihre kleinen Finger waren wärmer als die Luft. »Komm und sieh«, sagte Tess. »Na los!«
Er folgte ihr durch eine Reihe von unbemannten Sicherheitssperren zur Galerie, zu der von Glaswänden eingefassten Plattform, von wo aus man auf die sich darunter erhebenden O/BEK-Geräte blickte und wo Ray erkannte, dass sein Plan, die Apparatur abzustellen, undurchführbar geworden war und er über eine andere Verfahrensweise würde nachdenken müssen.
Im Innern der O/BEK-Zylinder bevölkerten quasibiologische Netzwerke einen fast unendlichen Phasenraum, mit der Außenwelt verbunden anfangs über die Telemetrie aus TPF-Interferometern, die Fourier-Transformationen auf gestörte, in Rauschen übergehende Signale anwendeten, später dann (unerklärterweise), indem sie die erwünschten Informationen mit von den Theoretikern sogenannten »anderen Mitteln« erlangten. Sie hatten mit dem Universum gesprochen, dachte Ray, und das Universum hatte geantwortet. Die O/BEK-Apparatur wusste Dinge, über die die menschliche Gattung nur spekulieren konnte. Und jetzt hatte sie diese Interaktion mit der physischen Welt auf eine neue Ebene gehoben.
Die O/BEK-Kammer, drei Stockwerke tief in der Erde, war vorher ein partikelfreier Reinraum im NASA-Stil gewesen. Normalerweise konnte dort nichts leben (von den O/BEKs abgesehen). Ray allerdings hatte in dem trüben Licht den Eindruck, dass die Kammer wimmelte von irgendetwas — wenn nicht etwas Lebendigem, so doch etwas, das sich eigenständig vermehrte, ein transparenter Wildwuchs, der die O/BEK-Räumlichkeit schon teilweise ausfüllte und an den Wänden emporstieg wie Frost an einem winterlichen Fenster. Der Boden der Kammer, zehn Meter weiter unten, war von einer gallertartigen kristallinen Flüssigkeit bedeckt, die glitzerte und sich bewegte wie an den Strand gespülte Gischt.
»Das ist so, damit die O/BEKs sich auch ohne Strom von außen erhalten können«, sagte Tess. »Die Wurzeln gehen bis tief unter die Erde. Um Hitze zu zapfen.«
Wie tief mussten sie wohl unter die Erde gehen, um in einer verschneiten Prärie »Hitze zu zapfen«? Dreihundert Meter, fünfhundert, fünftausend? Bis ganz runter zum geschmolzenen Magma? Kein Wunder, dass die Erde gezittert hatte.
Und woher wusste Tess das?
Tess hatte offensichtlich ein gewisses Einfühlungsvermögen für die O/BEKs entwickelt. Eine ansteckende Geisteskrankheit, dachte Ray. Tess war schon immer labil gewesen. Vielleicht machten die O/BEKs sich diese Schwäche zunutze.
Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Die Zylinder befanden sich außerhalb seiner Reichweite und seine Tochter war hoffnungslos kompromittiert. Die Erkenntnis traf ihn mit der Wucht eines Faustschlags. Er sank rückwärts gegen die Wand und glitt an ihr hinunter, saß auf dem Boden, das Messer in der schlaffen rechten Hand.
Tess kniete sich hin, um ihm in die Augen zu sehen.
»Du bist müde«, sagte sie.
Das stimmte. Noch nie hatte er sich so müde gefühlt.
»Weißt du«, sagte Tess. »Es war nicht ihre Schuld. Und deine auch nicht.«
Was war nicht wessen Schuld? Ray warf seiner Tochter einen hoffnungslosen Blick zu.
»Als du aus dem Auto ausgestiegen bist«, sagte sie. »Dass du überlebt hast. Du warst noch ein Kind.«
Sie sprach vom Tod seiner Mutter. Aber Ray hatte Tess davon nie erzählt. Auch Marguerite hatte er nichts erzählt, oder sonst irgendwem aus seinem Erwachsenenleben. Rays Mutter (sie hieß Bethany, aber Ray hatte sie nie anders als Mutter genannt) hatte ihn im großen Ford der Familie zur Schule gefahren, ein Auto, wie man es heutzutage gar nicht mehr zu sehen bekam, von einem jener Motoren durch eine Kombination aus Biodieselkraftstoff und wiederaufladbaren Zellen angetrieben, die nach dem Saudi-Konflikt allgemein gebräuchlich geworden waren, ein patriotischer Wagen also, in dem er sich immer voller Stolz gezeigt hatte. Das Auto war leuchtend rot, wie Ray sich erinnerte, rot wie ein begehrenswertes neues Spielzeug, teflonglatt und emailglänzend. Ray war zehn und sehr an Farben und Texturen interessiert. Seine Mutter hatte ihn also mit dem Auto zur Schule gebracht, er war hinausgehüpft und schon fast am Schulhofzaun angelangt (Schnappschuss: Baden Academy, eine private Grundschule in einem von Bäumen gesäumten Chicagoer Randbezirk, ein modisch altmodisches gelbes Backsteingebäude, das in der Wärme des Septembermorgens schlummerte), als er sich umdrehte, um zum Abschied zu winken (die Hand schon erhoben, im Ohr das Geschrei von Kinderstimmen und das Hochspannungszirpen der Zikaden), gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein in Gegenrichtung durch die Duchesne Street fahrender Transporter der Mobilen Krankenversorgung Modesto & Fuchs — geklaut, wie er später erfuhr, von einem Oxycontin-Abhängigen, der sich Zugang zu den an Bord befindlichen Narkotika verschaffen wollte — aus der Spur schleuderte und genau in die Seite des leuchtend roten Fords krachte.
Der patriotische Ford steckte den Aufprall recht gut weg, aber Rays Mutter hatte den Laster kommen sehen und unklugerweise versucht, das Auto zu verlassen. Der Modesto-&-Fuchs-Laster hatte sie zwischen Tür und Rahmen gequetscht und war dann mehrere Meter zurückgeprallt, während Bethany Scutter auf der Straße lag, ihr Unterleib geöffnet wie die Mittelseiten eines roten und blauen Buches.
Ray, der dies vom Olymp des einsetzenden Schocks aus beobachtet hatte, stellte gewisse Betrachtungen über das Allgemein-Menschliche an, die ihn Zeit seines Lebens begleiten sollten. Menschen waren, ebenso wie ihre Versprechungen, zerbrechlich und unverlässlich. Menschen waren Beutel, gefüllt mit Gas und Flüssigkeiten, die eine Maskerade aufführten, um bestimmte Rollen zu bekleiden (Elternteil, Lehrer, Therapeut, Ehefrau), jedoch jederzeit in ihren Naturzustand zurückfallen konnten. Der Naturzustand biologischer Materie aber war es, zermalmt und totgefahren auf der Straße zu liegen.
Ray blieb der Baden Academy ein Jahr lang fern und erhielt während dieser Zeit, auf Veranlassung seines Vaters, jede pharmazeutische und metaphysische Medizin gegen Melancholie, die in den besseren Kliniken angeboten wurde. Seine Genesung verlief zügig. Eine Neigung für die Mathematik hatte er schon seit Längerem gezeigt, und nun versenkte er sich auch in die anorganischen Wissenschaften — die Astronomie und später die Astrophysik, bei denen die Dimensionen von Zeit und Raum groß genug waren, um angenehme Perspektiven zu gewährleisten. Als nachgewiesen wurde, dass es kein Leben auf dem Mars und auf Europa gab, war ihm das eine heimliche Genugtuung gewesen: Wie viel beunruhigender war doch die Vorstellung, sie wären mit Biologie durchwuchert, verdorben wie eine Kiste Weihnachtsapfelsinen, die irgendwo in einer Kellerecke verschimmeln.
Silbergraue Frostfinger zogen in Kaskaden an den Fenstern der O/BEK-Galerie hinauf, dämpften das Licht noch mehr, fanden sich zu Formen zusammen, die an Säulen und Bögen erinnerten. Ray kam zu dem Schluss, dass er Tess diese Geschichte nicht hätte erzählen sollen. Sofern er es denn überhaupt getan hatte. In seiner Verwirrung kam es ihm so vor, als hätte sie ihm die Geschichte erzählt.
»Du hast Unrecht«, sagte Tess. »Sie ist nicht gestorben, um dich dazu zu bringen, sie zu hassen.«
Seine Augen weiteten sich. Entsetzt und wütend über das, was aus seiner Tochter geworden war, nahm Ray das Messer fest in die Hand.
Sie ist hier, dachte Chris und stürmte die Fluchttreppe hinunter in Richtung O/BEK-Galerie, angetrieben von einem Gefühl der Dringlichkeit, das er sich selbst nicht so recht erklären konnte. Wie Gewehrfeuer knallten seine Schritte durch die hohle Betonsäule des Treppenhauses.
Sie war hier. Diese Erkenntnis war so unabweisbar wie Kopfweh. Tessas in Luft sich auflösende Schneespur war zwar ein allenfalls zweideutiger Hinweis gewesen. Dennoch war er sich vollkommen sicher, dass sie in der O/BEK-Galerie war, ebenso wie er damals genau gewusst hatte, wo Porry am Abend der Kaulquappen hingegangen war. Es war mehr als Intuition; es war, als wäre die Information direkt in seinen Blutkreislauf geleitet worden.
Vielleicht war es ja so. Wenn Tess spurlos von einem verschneiten Parkplatz verschwinden konnte, was mochte dann noch alles möglich sein? Was hier passierte, musste große Ähnlichkeit mit dem haben, was in Crossbank geschehen war, musste etwas sehr Schwerwiegendes, offenbar Katastrophales, möglicherweise Ansteckendes und jedenfalls überaus Sonderbares sein.
Tess steckte mitten drin, und das galt, mehr oder weniger, jetzt auch für ihn. Er gelangte an eine Tür mit der Aufschrift GALERIEEBENE — ZUTRITT VERBOTEN. Sie öffnete sich selbsttätig auf seine bloße Berührung hin, dank Charlie Grogans Transponder.
Rings um ihn ächzte und stöhnte die Alley noch unter der Erschütterung des Morgens, suchte, unbekannten Belastungen ausgesetzt, ihren Platz. Chris wusste, dass das Gebäude potenziell unsicher war, doch die Sorge um Tess überwog seine nicht unbeträchtliche Furcht. Nicht, dass er hier etwas zu suchen gehabt hätte. Porrys Tod hatte ihn gelehrt, dass gute Absichten genauso tödlich sein können wie Bösartigkeit, dass Liebe ein plumpes und wenig verlässliches Werkzeug ist. Jedenfalls glaubte er, diese Lektion gelernt zu haben.
Dennoch war er hier, klaftertief in der Scheiße, und versuchte verzweifelt, die Tochter einer Frau zu retten, die ihm sehr viel bedeutete. (Und die ebenfalls verschwunden war; aber seine Angst um Tess schien sich nicht auf Marguerite zu erstrecken. Er glaubte fest, dass Marguerite in Sicherheit war. Und auch dies war ein Wissen aus nicht bestimmbarer Quelle.)
Noch einmal ächzte das Gebäude. Die Notfallsirenen gerieten erst ins Stottern, dann erstarben sie, und in der plötzlichen Stille konnte er Stimmen aus der Galerie hören: eine Kinderstimme, wahrscheinlich Tessas, und eine Männerstimme, möglicherweise Rays.
Das ganze Universum erzählt eine Geschichte, erklärte Mirror Girl.
Tess kauerte hinter einem riesigen Rollwagen, auf dem ein leerer weißer Heliumzylinder stand, der doppelt so groß war wie sie. Mirror Girl war nicht körperlich anwesend, aber Tess konnte ihre Stimme hören; Mirror Girl antwortete auf Fragen, die Tess noch kaum zu stellen begonnen hatte.
Das Universum sei eine Geschichte wie jede andere auch, sagte Mirror Girl. Der Titelheld dieser Geschichte heiße »Komplexität«. Komplexität sei auf Seite eins geboren worden, eine Fluktuation, eine Störung in der ursprünglichen Symmetrie. Auf die einzelnen Details der Reifwerdung (die Synthese der Quarks, ihre Kondensation zu Materie, Photogenese, die Erschaffung von Wasserstoff und Helium) komme es weniger an als auf das Muster: Aus einem Ding werden zwei, aus zweien werden viele, viele, die sich in prinzipiell unvorhersehbarer Weise miteinander verbinden.
Wie bei einem Baby, dachte Tess. So viel hatte sie in der Schule gelernt. Aus einer befruchteten Zelle wurden zwei, vier, acht Zellen, und aus den Zellen wurden Lunge, Gehirn, schließlich eine Person. War das »Komplexität«?
Ein wichtiger Teil davon, ja, sagte Mirror Girl, Teil einer langen, langen Kette von Geburten. Sterne bildeten sich im abkühlenden, sich ausdehnenden Universum; alte Sternkerne reicherten galaktische Wolken mit Kalzium, Stickstoff, Sauerstoff und Metallen an; neuere Sterne ballten diese Elemente zu felsigen Planeten zusammen; felsige Planeten, von Eis aus den Akkretionsscheiben ihrer Sterne bombardiert, bildeten Meere; diesen entstieg Leben, und damit begann eine neue Geschichte: Einzeller fanden sich zu seltsamen Gemeinschaften zusammen, wurden zu vielzelligen Geschöpfen und dann zu denkenden Wesen; Wesen, die komplex genug waren, die Geschichte des Universums in ihre kalzifizierten Schädel aufzunehmen …
Tess wollte wissen, ob das das Ende der Geschichte sei.
Nicht annähernd, versicherte Mirror Girl, noch lange nicht. Denkende Wesen bauen Maschinen, sagte Mirror Girl, und ihre Maschinen werden immer komplexer, und schließlich bauen sie Maschinen, die selber denken und noch mehr als das tun: Maschinen nämlich, die ihre Komplexität in die Struktur potenzieller Quantenzustände einbringen. Kulturen aus denkenden Organismen erzeugen diese Schnittstellen extrem verdichteter Komplexität auf gleiche Weise, wie riesige Sterne zu einer Singularität, einem winzigen Punkt von unendlicher Dichte, kollabieren.
Tess fragte, ob es das sei, was jetzt geschehe, hier in den düsteren Fluren von Eyeball Alley.
Ja.
»Was passiert als Nächstes?«
Das übersteigt den Verstand.
»Wie geht die Geschichte zu Ende?«
Das kann niemand sagen.
»Ist das die Stimme meines Vaters?« Es war eine Stimme, die von der Aussichtsplattform der O/BEK-Galerie zu kommen schien, wo Tess gern hingehen wollte, obwohl sie gleichzeitig große Angst davor hatte.
Ja.
»Was macht er da?«
Denkt ans Sterben, sagte Mirror Girl.
Die O/BEK-Aussichtsplattform war kreisförmig, im Stil eines OP-Hörsaals, und Chris betrat sie auf der Seite, die Rays Standort gegenüberlag. Er konnte Ray und Tess nur als verschwommene Umrisse erkennen, verzerrt durch die Glasscheiben, die die meterbreite O/BEK-Kammer umgaben.
Die Scheiben hätten klar und durchsichtig sein sollen. Stattdessen waren sie offenbar von Frost bedeckt, der sich in Säulen und Ranken an ihnen emporzog. Etwas katastrophal Unvorhergesehenes ereignete sich unten in den Kernzylindern.
Er duckte sich und bewegte sich langsam um die Galerie herum. Er konnte Rays Stimme hören, weich und unflektiert, in das von den runden Wänden zurückgeworfene Echo gebettet.
»Ich hasse sie nicht. Warum sollte ich? Sie hat mich etwas gelehrt. Etwas, das die meisten Leute nie lernen. Wir leben in einem Traum, einem Traum, der von Oberflächen handelt. Wir lieben unsere Haut so sehr, dass wir nicht darunter blicken können. Aber das ist nur eine Geschichte.«
Tessas Stimme war unnatürlich ruhig: »Was könnte es auch sonst sein?«
Jetzt konnte Chris sie beide um die Rundung der Glaswand herum direkt sehen. Er verharrte in Kauerstellung, beobachtete sie.
Ray saß auf der Erde, die Beine gespreizt, den Blick starr geradeaus gerichtet. Tess saß auf seinem Schoß. Sie erblickte Chris und lächelte; ihre Augen leuchteten hell.
Ray hatte ein Messer in der rechten Hand. Das Messer war auf Tessas Kehle gerichtet.
Aber natürlich war es gar nicht Tess.
Ray fühlte sich, als wäre er von einer Klippe gefallen und hätte bei jedem Aufprall auf dem Weg nach unten eine irreparable Verletzung erlitten, aber dies war jetzt der letzte Schlag, die harte Landung, die Erkenntnis, das dieses Ding, das er für seine Tochter gehalten hatte, nicht Tess war, sondern das Symptom ihrer Krankheit. Ihrer aller Krankheit vielleicht.
Dies war Mirror Girl.
»Du bist gekommen, um mich zu töten«, sagte Mirror Girl.
Er hielt die Messerspitze an ihre Kehle. Sie hatte Tessas Stimme und Tessas Körper, aber ihre Augen verrieten sie. Ihre Augen und ihr umfassendes Wissen über ihn.
»Du glaubst, die einzige Wahrheit liege im Schmerz«, flüsterte sie. »Aber du täuschst dich.«
Das war zu viel. Er drückte das Messer in ihre Halsmulde hinein — so unmöglich diese Tat auch war, ein Mord, der nicht gelingen konnte, die Hinrichtung einer elementaren Kraft in Gestalt seines einzigen Kindes — und zog es quer über ihre blasse Haut. In der Erwartung eines Blutschwalls. Aber da war kein Blut. Das Messer traf auf keinerlei Widerstand.
Sie verschwand von seinem Schoß wie eine geplatzte Seifenblase.
Tief in der Erde war ein neuerliches Beben zu spüren, und die undurchsichtigen Glaswände der O/BEK-Galerie begannen zu Staub zu zerfallen.
Aber es ist in Wirklichkeit gar nicht Tess, dachte Chris, und da hörte er panische Schritte hinter sich und den Schrei einer dünnen Stimme — nein, das war Tess, und sie lief auf ihren Vater zu.
Chris bekam sie gerade noch an der Schulter zu fassen und riss sie in seine Arme.
Sie zappelte und trat um sich. »Lass mich los!« Die Glaswände zerbröselten, die Galerie öffnete sich auf die O/BEK-Anlage, Ranken einer Substanz, die wie Perlmutt aussah, wanden sich in spitzenartiger, symmetrischer Anordnung über den Boden. Es stank nach Ozon. Chris beobachtete, wie Ray sich aufrappelte und blinzelte wie jemand, der aus einem Albtraum erwacht oder sich in einem solchen wiederfindet.
Ray stolperte auf die O/BEK-Kammer zu, eine offene Grube inzwischen. Dornen aus kristalliner Materie stiegen bis zur Decke auf und durchbohrten sie, Putz schneite herab; das Licht aus den Leuchtstoffröhren wurde schwächer.
»Ray«, sagte Chris. »He, Kumpel. Wir sind hier nicht sicher. Wir müssen raus. Wir müssen Tess nach oben bringen.«
Tess stellte ihren Widerstand ein, wartete auf die Reaktion ihres Vaters. Chris behielt ihre Schulter trotzdem fest im Griff.
Ray Scutter starrte in den sich vor ihm auftuenden Abgrund. Die O/BEK-Kammer war ein drei Geschosse tiefer Schacht voller kristalliner Wucherungen, ein Fass voll geschmolzenem und wieder erstarrtem Glas. Er warf Chris einen kurzen, geringschätzigen Blick zu. »Natürlich sind wir hier nicht sicher. Das ist ja der springende Punkt, verdammt noch mal.«
»Vielleicht haben Sie recht. Ich will mich nicht mit Ihnen streiten. Wir müssen Tess nach oben schaffen. Wir müssen Ihre Tochter in Sicherheit bringen, Ray.«
Ray schien diesen Vorschlag zu überdenken, aber er hatte es offenbar nicht mehr eilig. Noch einmal blickte er zu ihnen herüber, lange diesmal. Chris glaubte sagen zu können, dass er noch nie eine derartige Müdigkeit im Gesicht eines Menschen gesehen hatte.
Dann entspannten sich Rays Züge, als hätte er soeben ein wirklich kniffliges, quälendes Rätsel gelöst. Er lächelte. »Machen Sie das«, sagte er und trat über den Rand hinaus.
Tess riss sich von Chris los und rannte zu der Stelle, wo ihr Vater eben noch gestanden hatte.
Das Subjekt verschwand, ebenso die Dombögen aus leuchtendem Stein und das trockene Hochland von UMa47/E. Plötzlich blickte Marguerite in eine verwirrende Dunkelheit hinein. Dann wurden aus der Dunkelheit die Umrisse des fensterlosen Konferenzraums im ersten Stock der Ambulanz von Blind Lake. Ihre Knie knickten ein. Sie griff nach einem Stuhl, um sich aufrecht zu halten. Der Wandbildschirm war ein flackerndes Rechteck, aus dem nur sinnloses Rauschen drang. Verlust der Verstehbarkeit, dachte Marguerite.
Wie lange war sie fort gewesen? Vorausgesetzt, dass sie den Raum überhaupt je verlassen hatte. Wahrscheinlich hatte sie das nicht, obwohl sie mit jeder Faser ihres Körpers zu spüren meinte, dass sie auf UMa47/E gewesen war, dass sie die ledrige Haut des Subjekts mit ihren Fingern berührt hatte.
Dieser leere Konferenzsaal, die Ambulanz, ein verschneiter Morgen in Blind Lake, Rays Wahnsinn: Wie sollte sie in diese Geschichte zurückfinden? Sie dachte an Tess. Unten im Empfangsbereich, zusammen mit Chris, Elaine und Sebastian. Sie atmete tief durch, dann trat sie hinaus in den Flur.
Aber der Flur war voller Personen in weißen Schutzanzügen, bewaffneten Personen. Marguerite starrte verständnislos in die Runde, bis zwei dieser Personen auf sie zukamen und sie an den Armen fassten.
»Meine Tochter ist unten«, brachte sie heraus.
»Ma'am, wir evakuieren dieses Gebäude und auch alle übrigen Gebäude der Anlage.« Es war eine Frauenstimme, bestimmt, aber nicht unfreundlich. »Wir werden jeden dahin bringen, wo er hingehört, sobald das Gelände geräumt ist. Bitte kommen Sie mit uns.«
Marguerite musste sich dieser demütigenden Prozedur unterwerfen. Immerhin wurde ihr erlaubt, ihren Wintermantel, der im Empfangsraum über der Rückenlehne eines Stuhls hing, an sich zu nehmen. Dann führte man sie nach draußen, in einen bitterkalten Morgen hinein. Eine kleine Schar von Ambulanzbediensteten hatte sich dort versammelt, von Tess oder Chris war jedoch nichts zu sehen. Ihr wurde flau im Magen.
Sie entdeckte Sebastian Vogel und Elaine Coster, die mit einem Dutzend anderen Leuten zusammen in einen Mannschaftswagen geschleust wurden. Sie rief ihre Namen, rief auch nach Tessa, aber Elaine wurde von einem Behelmten nach drinnen gezogen und Sebastian konnte nur noch unbestimmt nach Westen deuten — in Richtung Alley, die, wenn Marguerite den Kopf ein bisschen reckte, die Straße hinunter gegenüber vom Einkaufszentrum zu sehen war.
Marguerite stockte der Atem.
Die Betonkühltürme waren verschwunden. Nein, nicht verschwunden, sondern verkapselt, eingefasst in ein Gerüst aus knotigen, silbrigen Trägern, kristallinen Minaretten und sich wölbenden Vorsprüngen. Die ummantelnde Substanz wuchs immer noch weiter, entwickelte strahlenförmige Arme, wie ein riesiger Seestern.
Tess, dachte sie. Mein Baby. Nimm mir nicht mein Baby weg.
Tess stand am Rande des Schachts, der einst die O/BEK-Zylinder beherbergt hatte und der sich nun als ein schäumender Abgrund glasartigen Korallenwuchses darbot. Für einen Sekundenbruchteil konnte Chris durchaus einen gewissen Reiz in diesem Gegensatz erkennen: Tess bewegungslos in ihrem staubigen Overall und dem leuchtend gelben Hemd, während auf der Galerie rings um sie herum Ungeheuerliches passierte; Tess in den Abgrund starrend, in dem ihr Vater verschwunden war — und wohin ihm zu folgen sie offenkundig ernsthaft in Betracht zog.
Chris ging auf sie zu, bis sie ihm einen warnenden Blick zuwarf, der in seinem Gehalt unmissverständlich war.
»Tess …«
»Er ist gesprungen«, sagte sie.
Neue Geräusche erfüllten die Luft, eine Art Klirren, ein Knirschen und Mahlen; Chris hatte Mühe, sie zu verstehen. Ja, Ray war gesprungen. Sollte er ihr das bestätigen?
Noch zehn Schritte, dachte er. Zehn Schritte, dann bin ich nahe genug, sie zu ergreifen und sie von hier wegzutragen, aber zehn Schritte waren ein weiter Weg.
Ihre Schuhspitzen testeten schon mal den Abgrund.
»Ist er tot?«, fragte sie.
Alle seine Instinkte sagten ihm, dass sie nicht beschwichtigt werden wollte. Sie wollte die Wahrheit hören.
Die Wahrheit: »Ich weiß es nicht. Ich sehe ihn nicht, Tess.«
»Komm näher ran«, sagte sie. Noch ein Schritt. »Nein! Nicht zu mir. Näher an den Rand.«
Er bewegte sich langsam und ein bisschen schräg an den Abgrund heran, versuchte den Abstand zwischen ihnen unauffällig zu verringern. Als er den Rand erreichte, blickte er hinunter.
Blasse Kristalle krochen an den Wänden der Kammer empor, aber die O/BEK-Zylinder waren von perlglänzendem Nebel verschluckt. Keine Spur von Ray.
»Sie will sich nur selbst schützen«, sagte Tess.
»Sie?«
»Mirror Girl. Oder wie du sie auch nennen willst. Sie konnte sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Maschinen sie schützten. Deswegen hat sie ihre eigenen gemacht.«
Sprach Tess von den O/BEKs? Hatten sie es geschafft, ihre Umgebung selbst zu regulieren und ihre Abhängigkeit von den Menschen abzuschütteln?
»Ich sehe ihn nicht«, beklagte Tess. »Siehst du ihn?«
»Nein.« Ray war verschwunden.
»Ist er tot?«
Tess weinte nicht, aber Kummer zitterte in ihrer Stimme. Ein falsches Wort konnte ihre Verzweiflung nähren und sie über den Rand treiben. Eine offensichtliche Lüge aber würde vielleicht die gleiche Wirkung haben.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich sehe ihn nicht.«
Das war wenigstens teilweise die Wahrheit, aber es war auch ein Ausweichen, das Tess mit einem verächtlichen Blick quittierte. »Ich glaube, dass er tot ist.«
»Na ja«, sagte Chris atemlos, »es sieht jedenfalls so aus.«
Sie nickte ernst und wiegte sich hin und her.
Chris mogelte sich einen weiteren kleinen Schritt heran. Wie viele solcher abgebrochenen Bewegungen würde es noch brauchen, bis er sie packen und vom Rand wegreißen konnte? Sechs? Sieben?
»Ihm hat die Geschichte nicht gefallen, in der er lebte«, sagte Tess. Sie ertappte Chris in der Bewegung und warf ihm einen weiteren warnenden Blick zu. »Ich bin nicht Porry, weißt du. Du brauchst mich nicht zu retten.«
»Dann komm von der Kante weg«, sagte Chris.
»Ich hab mich noch nicht entschieden. Wenn man hier stirbt, dann stirbt man vielleicht nicht wirklich. Dieser Ort verwandelt sich in etwas ganz Besonderes. Das ist nicht mehr Eyeball Alley.«
Nein, dachte Chris, wohl wahr.
»Mirror Girl würde mich auffangen«, sagte Tess. »Und mich mitnehmen.«
»Aber selbst wenn es so wäre, gäbe es kein Zurück. Du würdest nie mehr wiederkommen.«
»Nein … kein Zurück.«
»Porry würde nicht springen«, sagte er.
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es einfach.«
»Porry ist gestorben«, sagte Tess.
»Sie ist …« Er wollte es schon abstreiten, hielt aber rechtzeitig inne. Tess beobachtete sein Gesicht ganz genau. »Woher weißt du das?«
»Ich hab gehört, wie du mit Mom gesprochen hast.« Die letzte, die endgültige Porry-Geschichte. »Wie ist sie gestorben?«, fragte Tess.
Die Wahrheit. Was immer das bedeutete. Wo war die »Wahrheit« zu Hause, und warum war sie so verführerisch, wenn sie sich doch andererseits ständig entzog? »Ich rede nicht gern darüber, Tess.«
Sie verlagerte demonstrativ das Gewicht, von einem Fuß auf den anderen. »War es ein Unfall?«
»Nein.«
Sie blickte wieder in den Abgrund. »War es deine Schuld?«
Noch einen winzigen Schritt näher. »Sie … ich hätte es besser machen können. Ich hätte sie retten müssen.«
»Aber war es deine Schuld?«
Diese Erinnerungen lebten an einem finsteren Ort. Porrys mörderischer Freund. Porrys Freund, heulend. Ich schwöre bei Gott, ich werde sie nicht anrühren. Es ist nur der Scheißalkohol, Mann, ich will das gar nicht. Porrys Freund, am letzten Tag ihres Lebens, nach besoffenem Schweiß stinkend und Wiedergutmachung versprechend.
Und ich habe dem Drecksack geglaubt. War es also meine Schuld?
Wie sollte er dieses Monument des Schmerzes je abtragen, das er im Lauf der Jahre aufgetürmt hatte? Aus zahllosen selbst geschlagenen Wunden, mit denen er um seine Schwester trauerte?
Tess verlangte die Wahrheit.
»Nein«, sagte er. »Nein. Es war nicht meine Schuld.«
»Aber die Geschichte hat kein Happy End.«
Ein Schritt. Noch einer. »Nicht alle Geschichten haben eins.«
Ihre Augen schimmerten. »Ich wünschte, sie wäre nicht gestorben, Chris.«
»Das wünschte ich auch.«
»Hat meine Geschichte ein Happy End?«
»Ich weiß es nicht. Niemand weiß das. Ich kann versuchen, dazu beizutragen.«
Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Aber du kannst es nicht versprechen.«
»Ich kann versprechen, es zu versuchen.«
»Ist das die Wahrheit?«
»Das ist die Wahrheit«, sagte Chris. »Und jetzt gib mir deine Hand.«
Er zog sie in seine Arme und rannte mit ihr von der Galerie herunter, rannte zur Treppe, rannte gegen den Schlag seines Herzens an, bis er die Schärfe des Winters schmecken und jedenfalls ein bisschen Sonne sehen konnte.