Es heißt, die Natur kenne kein Aussterben. Im Grunde genommen kennt sie nur die Veränderung: Nichts verschwindet jemals vollkommen, es bleibt etwas – ein Teil, einige Partikel, ein eindrucksvoller Schein – über. Man kann Wasser zu Dampf kochen, dennoch verschwindet es nicht. Scheint es sich in Luft aufgelöst zu haben, kehrt es durch Kondensation wieder.
Mit diesem Prinzip im Hinterkopf sollte uns einleuchten, dass Entwicklungen, die sich abzeichnen – ob plötzlich oder allmählich – stets auf etwas zurückgehen, das schon immer existent war. Formen mögen sich ändern und übergehen, dennoch sind diese Dinge von Dauer. Es existiert keinerlei Schöpfung und infolgedessen auch keinerlei Zerstörung – es existiert nur die Transformation. Leben lässt sich als Aufeinandertreffen von Elektronen und Positronen begreifen, als Wechsel von Materie zu Lichtstrahlen und molekularen Strömen. Wasser zu Dampf zu Wasser.
Mit dreiundzwanzig verfasste ich einen Roman namens The Ocean Serene. Er handelt von einem Jungen, der sich, nachdem er beinahe ertrunken war, lang verdrängte Erinnerungen ins Gedächtnis ruft, aber in Wirklichkeit ging es um meinen toten Bruder, Kyle.
Ich schrieb ihn in den Abendstunden, an einem kleinen Schreibtisch, in meinem engen Einzimmer-Appartement in Georgetown, Washington, D.C. (direkt gegenüber einiger Universitätsgebäude und nur wenige Blocks von der Gegend entfernt, wo anno dazumal Der Exorzist verfilmt wurde.) Eine Tasse Kaffee – schwarz, ohne Zucker – sonderte neben meinem Textcomputer Dampfschwaden ab, während auf der anderen Seite ein Aschenbecher voller vergilbter Stummel von Zigaretten stand. Da die elektrische Lüftung nicht immer problemlos funktionierte, war ich gezwungen, die Schlafzimmerfenster regelmäßig zu öffnen, um frischen Sauerstoff hereinzulassen. Allerdings erinnere ich mich mehr an die zahllosen Zigaretten, und wie ich Tasse um Tasse dickflüssigen Kaffees in mich hineinschüttete, als an den Schreibvorgang.
Ich schrieb wie benebelt, in einem Dunst … als hätte jemand die Windungen meines Gehirns sorgfältig mit Verband eingewickelt. Nach dem ersten Entwurf benötigte ich ein paar weitere Jahre und musste vor allem tief in mich hineinhorchen, bevor ich den Text erneut anpacken konnte, um ihn mit der notwendigen Ehrlichkeit zu vollenden. Aus irgendeinem Grund verspürte ich den nagenden Drang, ihn so ehrlich wie möglich zu verfassen. Als die Rohfassung stand, legte ich sie beiseite und beschäftigte mich monatelang mit anderen Dingen. Danach merkte ich, dass ich persönlich herangewachsen war – sowohl aufgrund meiner Schreiberei als auch wegen der Art, wie ich die Welt sah und interpretierte –, und überarbeitete ihn. Obwohl die Handlung als Stilübung einer spekulativen Fiktion einzuordnen war – mit anderen Worten: ein Horrorroman –, kam sie mir so wirklich wie Kindheitserinnerungen vor. Es war schwer die Vergangenheit neu zu durchleben. Das Alter bringt etwas Kryptonit mit sich, das sich in unseren Glauben frisst, wie bei Vampiren, und das Lesen des Manuskripts zerstörte mich erneut.
Dennoch überarbeitete ich ihn fieberhaft und fand ein Ende. Als ich fertig war, wähnte ich mich von einer schweren Last befreit. Das Gefühl kam der geistigen wie emotionalen Erschöpfung gleich, die ich nach dem Tod meines jüngeren Bruders verspürt hatte. Ich konnte nicht fassen, dass mir dies während der Niederschrift entgangen war, aber hinterher traf es mich wie der Hammer den Gong. Da stand ich schließlich und wusste nicht, was ich von dem halten sollte, was ich vollbracht hatte.
Ohne es auf Tippfehler oder Unstimmigkeiten zu prüfen, schickte ich es dem Akquisiteur-Lektor eines kleinen Spezialverlages, mit dem ich mich schon seit mehreren Monaten förmlich, aber stetig ausgetauscht hatte. Während ich darauf wartete, etwas von ihm zu hören, begann ich an mir selbst zu zweifeln – nicht wegen des Buches, sondern wegen mir – und fragte mich, ob es ein Fehler gewesen sei, ein Buch zu schreiben. Ich konnte nicht sagen, ob es als Erinnerung an meinen Bruder gedacht war, oder ob ich es billigte, ich ihn zu einer Attraktion eines Zirkus zu machen, bis jemand dafür bereit war, dafür zu zahlen.
Wochen später, während einer hartnäckigen Regenphase, in der das Wetter so herb war, dass man annehmen konnte, die Welt bereite sich auf ihr Ende vor, ließ mich der Lektor wissen, dass das Buch angenommen wurde. Er sah einige Änderungen vor, betonte aber, es handle sich um einen starken Plot und eine gute, starke Erzählstimme. Das Buch war als Hardcoverausgabe für den Herbst geplant.
»Eine Frage«, meinte er noch.
»Ja?«
»Alexander Sharpe?« Dieses Pseudonym hatte ich auf der Titelseite des Manuskripts angegeben. »Seit wann benutzen Sie diesen Namen?«
Am Telefon gelang es mir, einigermaßen zwanglos zu klingen. »Ich wollte herausfinden, ob Mr. Sharpe bessere Chancen bei Verlagen hat als ich. Ich schätze, er hat es.«
Aber das war nicht die Wahrheit.
Ich konnte ihm nicht mitteilen, dass ich mich selbst davon distanzieren musste, obwohl ich gleichzeitig nicht umhinkam, mich daran zu ergötzen. Es hätte keinen Sinn ergeben. Ein Fremder schien mir besser dafür geeignet zu sein, die Geschichte meines verstorbenen Bruders zu erzählen. Ein Fremder, der nicht einmal existent war. Weil ich zu voreingenommen war. Weil ich mich davon nicht lösen konnte, und das hätte bedeutet, dass die Geschichte in ein ekelhaftes Selbstmitleid überging. Das durfte ich nicht zulassen.
Gut sind Bücher nur dann, wenn sie ehrlich sind.
Ich begoss es mit Freunden, die mich mit Gasohol abfüllten und sich bemühten, mich mit irgendeiner Frau in die Kiste hüpfen zu lassen, obwohl ich kurz davor endlich beschlossen hatte, meiner langjährigen Freundin Jodie Morgan einen Heiratsantrag zu machen, wenngleich ohne jemandem etwas zu erzählen. Danach feierte ich allein mit einer vollen Packung Zigaretten, einer Flasche Wild Turkey und bummelte durch Georgetown. Vielleicht dem Bedürfnis nach Bestätigung wegen fand ich mich in einer der Bars in der Washingtoner Gegend wieder, wo ich in einer Telefonzelle Nummern eintippte. Es läutete einige Mal, bis mein älterer Bruder Adam abhob.
»Ich schätze, ich habe gerade ein Buch über Kyle geschrieben«, lallte ich betrunken in die Muschel.
»Gut, das wurde auch verdammt noch mal Zeit, Kumpel«, erwiderte Adam, und ich fühlte mich, als seien mir Flügel gewachsen und als ob ich damit vom Bürgersteig abheben würde.
Gelegentlich ertappte ich mich dabei, wie ich an jenen Spätherbst dachte, in dem ich wie ein Schlot geraucht und den Tod meines kleinen Bruders literarisch verarbeitet hatte. Ich erinnerte mich daran, wie sich der Wechsel der Jahreszeiten im Buntwerden der Blätter angekündigt hatte; stürmisch verregnete Nächte, die nach Sumpf rochen und voller Erwartungen steckten; die Stunden, in denen meine Netzhäute wegen des strahlenden Monitors litten. Niemals zuvor hatte ich so etwas geschrieben, das mich schlaflos machte und auszehrte. Ich musste spät nachts wie ein Zombie in der Gegend herumgeirrt sein und schlitterte knapp am geistigen Kollaps vorbei, während ich tagsüber meinen Job als Korrektor bei der Washington Post ausübte. (Im Übrigen verdiente ich dabei gerade genug, um meinen Vermieter nicht ständig auf den Plan zu rufen und stetig genügend Instant-Nudeln beziehungsweise Billigbier im Haus zu haben.)
Eines Abends fand ich mich dem Verkehr ausweichend an der Ecke 14th und Constitution in Downtown D.C., als einsamer Fußgänger, der von einem eiskalten Regenschauer erwischt wurde, betrunken und mit klappernden Zähnen, wie Rumbakugeln, eingerollt vor dem Washington Monument. »Ich werde dich fressen«, ein Satz, der mir bis heute im Kopf herumirrt, ob vor einer Steinstatue oder zu anderer Gelegenheit. Nachdem ich noch salutiert hatte, machte ich auf dem Absatz kehrt und schritt wieder über den Rasen in die 14th. Wie ich in jener Nacht in meine Wohnung zurückkam, wird für immer ein Geheimnis bleiben.
Das Buch war mein Geschenk an Kyle, es zu schreiben, kam jedoch einer Strafe gleich; die Stunden, die ich vornübergebeugt am Bildschirm verbrachte, um die Geschichte abzutippen, wurden meine Buße. Da ich noch nie ein religiöser Mensch gewesen bin – weder christlichen Glaubens noch anderen Hokuspokus –, konnte ich mich einzig daran aufhängen. Blicke ich heute auf jene Zeit zurück, bin ich mir der Strapazen bewusst, die jeden Augenblick prägten.
Ich war dreizehn, als Kyle starb.
Und es war meine Schuld.
Aus New York heraus, schneite es hier und da ein wenig, aber nachdem wir die Grenze nach Maryland überquert hatten, lag die Welt gänzlich unter einer weißen Decke. Baltimore verbinde ich vage mit einer Schmutzlandschaft. Industriebauten und mit Graffiti besprühte Werbetafeln wurden von einer todesgrauen Müdigkeit eingenommen. Knochenweiße Schlote ragten wie mittelalterliche Gefängnistürme empor, ihre Spitzen waren vom Blizzard ausradiert und Autos wechselten in einem Blinkkanon aus verzögerten roten Bremsleuchten und Lichtern die Spur.
»Wir sollten anhalten, Travis«, bat Jodie. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und versuchte, etwas durch die eisige Suppe zu erkennen, die gegen die Windschutzscheibe klatschte.
»Die Fahrbahn ist hier zu eng. Ich will keinen Unfall provozieren.«
»Kannst du denn überhaupt etwas sehen?«
Die Scheibenwischer quietschten im steten Rhythmus, wohingegen die Temperatur so tief gesunken war, dass sich stellenweise Eisblumen auf dem Glas gebildet hatten. So zog ich am Hebel für das Frostschutzmittel und der alte Honda begann zu knattern und ächzen, und dann spie die Motorhaube eine stinkend warme Fontäne aus. Dabei schwang ein Hauch von brennenden Sportsocken mit, der Jodie dazu trieb, in ihrem Sitz stöhnend hin und her zu rutschen.
»Ich hoffe, das ist kein Omen«, sagte sie. »Ein böses Zeichen.«
»Ich bin nicht abergläubisch.«
»Das liegt daran, dass du keinen Sinn für Ironie hast.«
»Mach das Radio an«, sagte ich zu ihr.
Der Schneesturm flaute nicht ab, bis wir Charm City als Fleck von gefrorenem Schmutzwasser im Rückspiegel zurückließen. Als wir zwei Stunden später über den verlassenen Highway Richtung Westen tuckerten, brach die Wolkendecke auf und der Mittagshimmel glitzerte silbrig klar. Wir fuhren weiter über eine hügelige Landschaft mit schneebedeckten Feldern. Häuser begannen zu schwinden und Telefonmasten wichen zerzausten Tannen, die der Neuschnee beschwerte. Der alternative Rock-Radiosender, den Jodie in Baltimore eingestellt hatte, kratzte und spie lethargische Country-Musik hervor.
Letztlich schaltete sie ihn ab und betrachtete die Straßenkarte, die sie auf ihrem Schoß aufgefaltet hatte. »Wie heißt das Gebirge dort vor uns?«
»Allegheny.«
Nur die schwachen farblosen Gipfel erhoben sich aus dem Nebel, sie glichen einem langen Rücken eines Brontosaurus.
»Herr im Himmel. Westlake ist nicht einmal auf der Karte eingezeichnet.« Sie schaute aus dem Fenster. »Jede Wette, dass wir die nächsten zwanzig oder dreißig Meilen keiner Menschenseele begegnen werden.«
Trotz der heiklen Straßenverhältnisse, ließ ich mich zu einem kurzen Blick auf meine Frau hinreißen. Mit ihrem kantigen Gesicht, der mokkabraunen Haut und der Wollmütze mit Jacquard-Muster, unter der ihr federndes, schwarzes Haar herausquoll, sah sie plötzlich erschreckend jung aus. Erinnerungen an unseren ersten gemeinsamen Winter in der Londoner Nordstadt kehrten wieder, wie wir vor dem Holzofen gekuschelt hatten, weil die Heizung nicht funktionierte, und uns dabei eine grässliche britische Sitcom im Kabelfernsehen angeschaut hatten. London hatte uns zwar nicht übel mitgespielt, aber wir waren froh über die Möglichkeit, wieder in die Staaten zurückzukehren – in meinen Heimatstaat – und unsere eigenen vier Wände zu beziehen.
Die vergangenen zehn Jahre, in denen wir gerade so über die Runden gekommen waren, hatten sich mit meinem jüngsten Roman Waterview endlich bezahlt gemacht. Die Absatzzahlen schnellten in die Höhe, und Hollywood bekundete Interesse an einer Verfilmung. Der Film kam nie zustande, allerdings ließ das Geld für die Option meinen bisherigen Verdienst durch die Verkäufe lächerlich wirken, so entschieden wir uns dazu, unsere zugige Wohnung in Kentish Town gegen ein Einfamilienhaus einzutauschen. Daran, wieder in die USA zu ziehen, dachten wir nicht, bis Adam anrief und meinte, er habe ein Haus für uns in seiner Nachbarschaft gefunden. Die Besitzer waren bereits ausgezogen und suchten dringend einen Käufer. Das Angebot verhieß, dass es schnell gehen sollte. Nachdem Jodie und ich übereingekommen waren, vertrauten wir blind dem Urteilsvermögen meines älteren Bruders und kauften das Anwesen ungesehen.
»Bist du nervös?«, fragte Jodie.
»Wegen dem Haus?«
»Nein, weil du deinen Bruder wiedersehen wirst.« Sie legte mir eine Hand aufs Knie.
»Wir sind miteinander im Reinen«, versicherte ich, wobei ich mich allzu deutlich daran erinnerte, was geschehen war, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Wäre es nicht immer noch so eindrücklich gewesen, hätte es genauso gut ein Traum beziehungsweise Albtraum sein können.
»Wir hatten schon lange keine Familie zu Weihnachten um uns herum.«
Ich antwortete nicht, weil sie mich dazu bringen wollte, über die Vergangenheit zu reden.
»Ich vermute, du hast uns irgendwie vom Erdboden verschwinden lassen«, sagte Jodie, dankbarerweise das Thema wechselnd.
»Das muss hier –«
»Da«, unterbrach sie. Aufregung schwang in ihrem Tonfall mit. »Da unten!«
Im Tal war ein Städtchen, das aus der Schneedecke zu sprießen schien. Ich erkannte das Straßennetz und die Beleuchtung, die aussah wie Weihnachtskugeln. Zweigeschossige Ziegelbauten und kleine Geschäfte erhoben sich aneinandergedrängt, als wollten sie sich gegenseitig wärmen.
Die Hauptstraße zog sich geradewegs durch die idyllische Innenstadt und zu den Bergen, wo in der Ferne einzelne Grüppchen winziger Häuser wie Fliegenpilze aus den Feldern ragten. Ein dichter Kiefernwald umgab den Ort, und ich meinte, zwischen den Bäumen Wasser glitzern zu sehen.
Jodie lachte. »Ach, verarsch mich nicht. Das sieht wie eine gottverdammte Modelleisenbahnlandschaft aus.«
»Willkommen in Westlake«, scherzte ich. »Nächster Halt – Jupiter.«
Ich nahm die Ausfahrt und steuerte den Honda behutsam das eisige Tal hinab. Wir erreichten eine T-Kreuzung und Jodie las den Zettel mit der Wegbeschreibung, den ich ins Handschuhfach gelegt hatte. Wir bogen links ab und waren im Nu mitten in der Stadt, wo wir die Namen der Läden auf uns wirken ließen – Wäscherei Clee und Zippys Auto-Ersatzteile, Video-Guru oder Tonys Musiktempel. Die beiden einfallsreichsten waren ein Friseursalon namens FÜR HAARBEHINDERTE und ein Saloon im Wildweststil mit allem Drum und Dran, Schwingtüren und Pferdestange, der TEQUILA MOCKINGBIRD hieß.
Jodie und ich stöhnten gleichzeitig auf.
Dann fanden wir die Waterview Court und folgten der Straße, bis sie schließlich einspurig wurde. Die Bäume streiften den Wagen zu beiden Seiten.
»Ist es dir aufgefallen?«
»Was aufgefallen?«, fragte ich.
»Waterview. Das ist der Name deines letzten Buches.«
»Vielleicht noch eines deiner heißgeliebten Omen«, erwiderte ich, »aber diesmal ein gutes.«
Die Waterview stellte sich als Sackgasse heraus. Beheizte kleine Häuser zogen sich entlang der Gasse und ihre Dächer stöhnten unter der Schneelast.
»Da ist er«, deutete ich und hämmerte zweimal auf die Hupe.
Adam stand dick in eine knallrote Skijacke eingepackt mit Strickmütze und Winterstiefeln mitten auf dem Asphalt. Unter seinem Arm klemmte ein aufgerollter Plastikschlauch, und hinter ihm tollten zwei aufgedunsene Kleckse im Schnee: Jacob und Madison, mein Neffe und meine Nichte.
Strahlend hupte ich ein drittes Mal, dann setzte ich mehrmals zurück und fuhr wieder vor, bis ich am Gehsteig parken konnte. Der Unterboden knirschte, als der Honda über einen Haufen festen Schnee rollte. Jodie stieg aus, noch bevor wir standen. Sie rannte zu Adam und drückte ihn, indem sie einen Arm um seinen Hals legte. Dann gab sie ihm einen kurzen Schmatz auf die linke Wange. Mein Bruder ist sehr groß, und Jodie reichte ihm gerade bis zur Schulter.
»Hey, Sackgesicht«, rief ich beim Aussteigen. »Flossen weg von meiner Frau.«
»Komm her«, grinste Adam und nahm meine Hand, um mich herzlich in die Arme zu schließen. Er roch nach Aftershave und Feuerholz, was mich einen Moment lang zur Nostalgie verleitete. Unser Vater hatte genau so gerochen, als wir noch klein waren und in der Stadt wohnten. »Mann«, begann er. Sein feuchtwarmer Atem streifte meinen Hals. »Tut gut, dich wiederzusehen, Bruder.«
Nachdem wir voneinander abgelassen hatten, musterte ich ihn. Er war immer noch kräftig gebaut und hatte diesen stechenden, aufgeweckten Blick, der Strenge vermittelte, ohne gleich Charme und Umgänglichkeit in Zweifel zu ziehen. Dieser Vorzug machte sich auch in seinem Job bezahlt; er war Polizist, wie er es sich schon als Kind ausgemalt hatte. Wie aus heiterem Himmel überkam mich ein Gefühl von Stolz, bei dem meine Knie weich wurden.
»Siehst gut aus«, befand ich.
»Kinder!«, rief Adam über die Schulter.
Jacob und Madison stellten sich links und rechts neben ihren Vater, nachdem sie sich mühselig aus dem Schnee gewälzt hatten. Sie zupften Handschuhe, Wollkappen und verrutschte Ohrenschützer zurecht.
»Mein Gott, ihr seid aber groß geworden«, stellte ich fest.
»Erinnert ihr zwei euch noch an Onkel Travis?«, fragte Adam.
Ich ging in die Hocke, um ihnen auf Augenhöhe zu begegnen.
Madison zierte sich und trat einen Schritt zurück. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie noch ein Baby, so hegte ich wenig Hoffnung, dass sie sich noch an mich erinnerte.
Jacob schnitt eine Grimasse und nickte mehrmals. Er war schon zehn und forscher als sie. »Ich erinnere mich. Du hast in einem anderen Land gelebt.«
»In England, ja.«
»Sprechen die da eine andere Sprache?«
»Sie sprechen dieselbe Sprache wie du, alter Junge «, sagte ich in meinem bestem Cockney-Akzent. »Und außerdem haben die sie wohl erfunden.«
Jacob lachte.
Das ermutigte Madison und sie schritt vorwärts, lächelnd über meine Blödelei oder weil ihr Bruder darüber lachte.
»Hast du uns etwas aus England mitgebracht?«, fragte Jacob.
Madison machte große Augen.
»Hey«, schimpfte Adam. »Das gehört sich nicht.«
Jacob schaute nach unten auf seine Boots. Madisons Augen ließen nicht von mir ab – in der Hoffnung, sie werde bekommen, wonach ihr Bruder gefragt hatte.
Adam und ich wechselten Blicke.
Er nickte.
»Na ja, eigentlich«, begann ich und beließ es dabei, während ich eine Hand in die Tasche meines Parkas steckte. Ich fischte zwei Snickers hervor – übrig gebliebene Wegzehrung aus New York – und überreichte sie den Kindern wie einen Stapel Spielkarten.
Sie schnappten gierig danach, und Madison stopfte ihren Riegel eine Nanosekunde später, nachdem sie das Papier abgestreift hatte, in den Mund.
Meine Schwägerin Beth kam aus dem Haus und stapfte über die freigeschaufelte Einfahrt auf uns zu. Sie war eine intelligente, entschlossene Frau, deren Körper zwei Kinder gebar und diese aufzog, mit einer seelenruhigen Abgeklärtheit, die von großer Reife zeugte. Bei unserer letzten Begegnung, kurz bevor Jodie und ich in den Norden Londons gezogen waren, hatte sie mich als Stück Scheiße bezeichnet und mich angesehen, als kratze sie mir gleich die Augen aus.
»Es ist so schön dich wiederzusehen, Süße«, sagte Beth und umarmte Jodie. Beth war nur ein wenig älter als meine Frau, doch in diesem Augenblick wäre sie glatt als ihre Mutter durchgegangen.
Sie ließen einander los und Beth kam zu mir hinüber. »Der berühmte Schriftsteller.« Ich bekam einen Kuss auf die Wange.
»Hey, Beth.«
»Siehst gut aus.«
Sie log natürlich, denn ich war während der vergangenen Monate blasser und dünner geworden. Meine Augen lagen tief in den Höhlen und waren schwarz umrandet, die Haare einen Tick zu lang, um sie gepflegt zu nennen. Es war die Schreibblockade, die mich nachts wach hielt.
»Okay, genug Small Talk.« Jodie glühte vor Aufregung. »Schauen wir uns endlich das Haus an.«
»Yeah«, pflichtete ich bei, den Blick entlang der Sackgasse schweifend. »Welches ist es?«
Adam fischte einen Schlüsselbund aus seiner Tasche. »Keins von denen. Kommt.«
Er führte uns zu einer Gruppe Kiefern. Ein matschiger Weg schnitt durch die Bäume und verschwand. Wir stapften ihn durch den Schnee entlang.
Ich musste lachen, hielt im Wald auf halben Weg an. »Du verarschst mich, oder?«
Adams Augen funkelten. »Du hättest die Umzugsleute sehen sollen, wie sie mit dem Laster im Rückwärtsgang zum Haus gefahren sind.« Er ging weiter.
Jodie schloss zu mir auf, streifte meine Schulter und flüsterte: »Wenn dieses gottverdammte Ding aus Lebkuchen ist, kann dein Bruder was erleben.«
Wir gelangten auf eine Lichtung.
Es war ein zweistöckiges, weißes, giebelständiges Haus mit ringsum verlaufender Veranda und einige dürre Bäume verbargen zum Teil das grau gedeckte Dach. Auch wenn es nicht riesig war, bestand zwischen diesem Gebäude und unserer beengenden Londoner Wohnung ein himmelweiter Unterschied. Selbst mit offensichtlichen kosmetischen Mängeln – Schindeln fehlten und Latten im Terrassengeländer, die Holzverkleidung schrie geradezu nach einem frischen Anstrich – kam es mir vor, als gebe es im gesamten Universum kein perfekteres Haus.
Adam hatte uns Bilder per E-Mail zukommen lassen, aber erst jetzt, als wir dastanden und das Haus – unser Haus – in natura sahen, erhielten wir einen vollständigen Eindruck davon.
»Nun?« Er stand auf der Terrasse und stemmte die Hände in die Hüften. »Hab ich zu viel versprochen, Leute?«
»Es ist perfekt.« Jodie lachte, umarmte und küsste mich, was ich erwiderte.
Jacob und Madison kicherten.
»Und du auch, Baby«, hauchte sie mir ins Ohr, woraufhin ich sie fester drückte.
Das Grundstück umfasste drei Hektar und reichte von der Rückseite des Hauses bis zu einem Kiefernwald. Er war immens, die Art eines Waldes, in dem sich unvorsichtige Wanderer stets verirrten, und erstreckte sich über weitere hundert Hektar.
Bei näherer Betrachtung wirkte das Haus fast menschlich und melancholisch, gerade weil es in einem dürftigen Zustand war. Die Läden hingen schief an den Angeln, und die Scheiben starrten vor Schmutz. Vom Vordach hingen erfrorene Pflanzen in Weidenkörben, die allesamt derart ausgewachsen waren, dass die Wurzeln den Boden der Körbe durchstoßen hatten und wie Tentakel in der Luft baumelten wie irgendein prähistorisches Meerestier. Blattlose Ranken klebten steif vor Kälte wie Kabel an der Holzverkleidung. Die Farbe blätterte von dem Holz ab, das an einigen Stellen verblasst oder fleckig war. Es verrottete zwar, zeigte jedoch nach wie vor alle möglichen Wirbel und Muster in der Maserung.
Adam warf mir die Schlüssel zu. »Wollen wir stehen bleiben und uns die Ärsche abfrieren, oder schauen wir uns eure neue Bleibe genauer an?«
Ich reichte die Schlüssel an Jodie weiter. »Nur zu. Die Ehre gebührt dir.«
Sie stieg die beiden Stufen auf die Terrasse, wobei sie kurz innehielt, als das Holz unter ihren Füßen knarrte. An der Unterseite des Vordachs hing eine Schaukel an rostigen Ketten; die linke war ein paar Zoll länger als die rechte. Der Sitz – ebenfalls aus Weiden – war derart marode, dass ein Loch mit zerfleddertem Rand darin klaffte. Die elektrischen Lampen zu beiden Seiten der Haustür waren von Vögeln mit Nestern bedacht worden, und ihr Kot besprenkelte die Bretter am Boden, der einen an eine Sternenkarte erinnerte. Falls Jodie das alles genauso kritisch wahrnahm, ließ sie es sich nicht anmerken.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss, während wir anderen uns hinter ihr aufbauten. Wir warteten geduldig darauf, dass sie die Tür endlich aufmachte. Stattdessen lachte sie los.
»Was?«, fragte ich. »Stimmt etwas nicht?«
»Der Wahnsinn«, sagte sie. »Unser erstes richtiges Heim.«
Das Haus versprühte gehöriges Siebzigerjahre-Flair, vor allem wegen des haarsträubenden Zottelteppichs und der Vertäfelung im Obergeschoss. Jeden Augenblick rechnete ich damit, dass eine Discokugel an der Decke baumelte. In der Küche fehlten einige Bodenfliesen, und die Wände schienen sich der Elektrik entledigen zu wollen, denn viele Steckdosen hingen an ihren Eingeweiden aus den Gipsplatten.
Die Umzugsfirma hatte unsere Habe mehr oder weniger dort abgestellt, wo Platz war, weshalb wir uns den Weg durch mehrere Räume wie Mäuse durch ein Labyrinth bahnten.
Jodie nahm meine Hand und drückte sie. »Einfach großartig.«
»Es braucht noch eine Menge Arbeit.«
Oben gab es zwei Schlafzimmer – ein großes und eines für Gäste – sowie einen dritten Raum, den ich perfekt als Arbeitsraum zum Schreiben und Jodie für ihre Doktorarbeit nutzen konnte. Auch ein zweites Badezimmer war komplett eingerichtet. Ein wenig verdrossen wurde ich der zersprungenen Fliesen in der Dusche gewahr und malte mir aus, dass der Wasserhahn am Waschbecken möglicherweise schon seit Eisenhowers Amtszeit leckte.
»Travis«, rief Jodie vom Flur her. »Komm, schau mal. Das wirst du nicht glauben.«
Sie war in dem großen Schlafzimmer am Ende des Gangs. Die Möbelpacker hatten die Matratzen an eine Mauer gelehnt und unsere Kommode mitten im Raum stehen gelassen. An einer anderen Wand stapelten sich die Kleiderkisten.
»Sieh dir das an«, rief Jodie. Sie schaute aus der breiten Fensterfront, die rückwärtig hinausging.
Ich stellte mich hinter sie und blickte über ihre Schulter. Über dem makellos weiß verschneiten Rasen erkannte man durch die verschlungenen Äste kahler Bäume einen zugefrorenen See, der in der Mittagssonne glitzerte. Am Gegenufer prägten gewaltige Drehkiefern das Landschaftsbild; ihre Nadeln mit Schnee überzuckert. Der Anblick war atemberaubend malerisch und wurde einzig von einem seltsamen Etwas getrübt, das fast genau in der Mitte des Gewässers senkrecht aus dem Eis ragte – eine lange, schwer zu beschreibende Holzkonstruktion.
»Wusstest du von dem See hinterm Haus?«
»Nein«, antwortete ich. »Adam hat nie etwas davon erwähnt.«
»Jesus, das ist wunderschön. Kaum zu glauben, dass es uns gehört.«
»Tut es aber.« Ich küsste ihren Hals und schlang die Arme um sie. »Hast du eine Idee, was das dort auf dem Eis sein könnte?«
»Keine Ahnung«, sagte sie, »aber ich denke nicht, dass es auf dem Eis steht.«
»Nicht?«
»Sieh auf den Grund. Das Eis rundherum ist aufgebrochen, und man sieht das Wasser.«
»Eigenartig.«
Plötzlich schreckten wir beide von einem schrillen Schrei auf, gefolgt von schnellem Geplapper und kleinen Schritten auf dem harten Holzboden. Der Schrei passte nicht ins Schema eines aufgeregten Kleinkindes; Angst schwang mit, womöglich sogar Schmerz.
Ich eilte aus dem Zimmer zum Treppenabsatz und schaute hinunter in die Diele, wo Madison gerade in die Arme ihrer Mutter flog. Beth packte das Mädchen und drückte es fest an sich.
»Was ist passiert?«, fragte ich auf halbem Weg die Stufen hinab.
Beth schüttelte den Kopf: Sie wusste es nicht. Während sich Madison wie ein Klammeraffe an ihr festkrallte, strich sie das Haar der Kleinen glatt.
Adam erschien neben ihr und fragte seine Tochter ebenfalls, was geschehen sei, doch sie antwortete nicht. Ihr Schluchzen verklang jedoch schnell, und danach schien sie nichts weiter mehr zu wollen, als das Gesicht an der Schulter ihrer Mutter zu verbergen.
Adam starrte mich an. »Was ist passiert?« Die Worte klangen so vorwurfsvoll, dass es mir die Sprache verschlug. »Was hast du getan?«
Erst als Jacob hinter mir auf der Treppe erschien, erkannte ich, an wen Adam die Frage gerichtet hatte.
»Sprich«, forderte Adam.
Jacob zuckte mit den Achseln. Das Kind sah elend aus. »Maddy hat Angst gekriegt.«
»Angst wovor?«
Wieder spannte er seine schmalen Schultern an. »Irgendwas hat ihr Angst eingejagt. Aber nicht ich. Ehrlich.«
Adam seufzte und fuhr sich mit den Fingern durch die dichten Locken. »Komm jetzt runter, Jacob.«
Der Junge hüpfte mit steinerner Miene die restlichen Stufen hinab. Ich folgte ihm, die Hände in den Hosentaschen. Ich blieb neben Beth stehen und streichelte Madisons Kopf.
Sie wand sich und schlenkerte mit den Beinen. Ihre Mutter grunzte, als sie ihr in den Bauch trat. »Wirst du wohl aufhören«, brummte sie mit dem Mund an Madisons Haar.
»Du hast den See hinterm Haus nie angesprochen«, sagte ich zu Adam.
»Habe ich nicht?«
»Und wo ist der Keller?«
»Auf dem Dachboden, wo sonst?«
»Ha. Sehr witzig.« Ich ging an meinem Bruder vorbei den Flur entlang zu einer Tür, die wir noch nicht geöffnet hatten.
Er rief mir hinterher: »Dort unten steht das Zeug, auf dessen Kisten ihr Speicher geschrieben habt.«
»Danke.« Hinter der Tür führte eine leidlich stabile Holztreppe tief in ein Betongewölbe, in dem irgendwo Licht brannte. Das Licht warf schmierige Schatten auf die freiliegenden Formsteine der Wand. Ich stieg bis zur Hälfte hinab und sah mittig an der niedrigen Decke eine nackte Glühbirne, die an einem wenige Zoll langen Kabel hing. Die Zugschnur zum Ein- und Ausschalten pendelte wie die Taschenuhr eines Hypnotiseurs.
Am Fuß der Treppe standen einige Kisten. Ich stieg über sie und zog an der Schnur, die abriss und die Birne zum Schwingen brachte. Die Schatten im Raum fingen zu wandern an.
»Verdammt.«
Auf Zehenspitzen griff ich hoch um sie festzuhalten, schaffte es aber nicht, die Schnur zu befestigen, um das Licht wieder auszumachen. Am Ende leckte ich Zeigefinger und Daumen, bis ich es mit einer halben Drehung der Birne dunkel werden ließ.
Das verbliebene Tageslicht nutzten wir, um Kisten durch die Zimmer zu schleppen, Möbel zusammenzubauen und das Bad beziehungsweise die Küche zu schrubben, was uns dabei half, mit der neuen Umgebung warm zu werden.
Nach Einbruch der Dunkelheit waren wir erschöpft und hungrig. Die Kinder fingen zu quengeln an, weshalb Beth sie nach Hause brachte, beharrlich darauf bestehend, dass wir zum Abendessen vorbeikamen.
Sie hatten einen Wintergarten, den sie zu dieser Jahreszeit beheizten. Dort schlemmten wir uns durch ein rechtes Festmahl: Schweinebraten, ein mit Semmelbröseln angedickter Brei aus grünen Bohnen, dazu Kartoffelpüree und Maisbrot. Zum Nachtisch servierte Beth, sehr zur Freude der Kids, Apfelkuchen mit Eis und Jodie schenkte Kaffee ein, während Adam durch den Keller hetzte und einen Portwein suchte, der sich partout nicht finden lassen wollte. Zuletzt musste sich mein Bruder geschlagen geben und mit leeren Händen zurückkehren. Um seiner Anstrengung Genüge zu tun, schnitt er sich ein extragroßes Stück Kuchen ab.
Beth kam auf meinen jüngsten Roman Waterview zu sprechen, und sie hatte ihn dem Literaturclub in der Gegend vorgestellt. »Ihr werdet die meisten Mitglieder im Laufe der nächsten Woche kennenlernen. Ein paar der Leute sind zu einer kleinen Weihnachtsfeier eingeladen. Für euch zwei ist das eine gute Gelegenheit, um eure neuen Nachbarn zu treffen.«
»Bitte, Beth«, sagte ich, »mach dir keine Umstände.«
»Meine Bücherrunde wollte sowieso wieder etwas gemeinsam machen. Also brauche ich nur noch einige weitere Leute zum Dinner zusammenzutrommeln. Das wird bestimmt lustig.«
»Ist eine nette Stadt«, fügte Adam hinzu. »Sehr freundlich.«
»Kanntet ihr die früheren Bewohner unseres Hauses?«, fragte Jodie.
»Die Dentmans«, sagte Adam. »Wir kannten sie ein wenig, schätze ich.«
»Wir kannten sie überhaupt nicht«, berichtigte Beth. »Sie waren seltsam und blieben unter sich.«
Adam zuckte die Achseln. »Liebes, wenn man seine Ruhe haben will, bedeutet das noch lange nicht, dass man seltsam ist.«
Beth winkte ab, ehe sie sich Jodie zuwandte. »Lass dir nichts von ihm erzählen. Sie waren wirklich seltsam.«
»Na ja, das Haus war ein Schnäppchen«, merkte ich an.
»Immobilien sind hier draußen nicht sehr teuer«, sagte Adam, den Mund voller Kuchen. »Im Vergleich zum Rest des Staates ist unsere Gegend ein wohlbehütetes Geheimnis. Die Schwachköpfe in Baltimore wissen nicht, was ihnen hier entgeht.«
»Schwachköpfe«, wiederholte Madison und kicherte.
»Und«, fuhr er fort, »es ist der perfekte Ort, um eine Familie zu gründen.«
»Stimmt, Adam«, meldete sich Jodie, »aber erzähl das mal meinem Mann. Er scheint das ganze Biologische-Uhr-Phänomen nicht zu kennen.«
Ich stöhnte und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. »Vor einer Woche noch haben wir uns in eine Zweizimmerwohnung ohne Zentralheizung gezwängt. Wir mussten jeden Morgen Obdachlose vor der Haustür verscheuchen. Hättest du Kindern das zumuten wollen?«
»Sieh dich um. Jetzt sind wir nicht mehr dort.«
»Hey.« Beth hielt ihr Weinglas hoch. »Lasst mich einen Toast aussprechen. Ich bin so glücklich, dass ihr zwei hergezogen seid.«
Sie warf mir einen kurzen Blick zu, zu eindringlich, als dass ich es nicht bemerkt hätte. Jedenfalls glaubte ich, sie wollte, dass ich es mitbekam. »Auf den Neuanfang.«
»Auf den Neuanfang«, wiederholte Adam.
Darauf tranken wir.
Gegen halb elf ging ich mit Jodie den schneebedeckten Weg entlang, der uns zu unserem neuen Heim führte. Die Luft roch nach Winter und Schrot von den Getreidemühlen am Rande der Stadt. Die dunklen Bäume beugten sich zu uns, als hätten sie Hunger und wollten uns von der Erde pflücken. Unser Atem vermengte sich zu Wolken.
Ich drückte Jodie einmal. »Bist du glücklich?«
»Natürlich.« Nach dem Dessert war sie mir zu ruhig und in sich gekehrt vorgekommen.
»Was hast du?«, fragte ich weiter.
»Ich wünschte, du würdest bei manchen Themen offener sein.«
Sie bezog sich auf Adams Kommentar bei Tisch – schwanger werden und Babys kriegen.
»Wir sind gerade erst eingezogen. Können wir nicht eins nach dem anderen tun?«
»Wir sind erwachsene Menschen. Wir sind fähig uns mehreren Dingen auf einmal zu widmen. Und fähig erwachsene Entscheidungen zu treffen.« Vor der Terrasse blieben wir stehen. Das Haus, dunkel und grübelnd, blickte auf uns hinab. »Willst du überhaupt Kinder?«
»Irgendwann.«
»Tja«, erwiderte sie, »mein Irgendwann läuft irgendwann ab.«
»Müssen wir ausgerechnet jetzt darüber diskutieren? Lass uns einfach unsere erste Nacht hier genießen.« Ich griff nach ihren Händen, doch sie steckte sie in die Jackentasche.
»Es ist kalt hier draußen«, sprach sie. »Ich gehe rein.«
Jodie ging sofort nach oben. Eine Minute später hörte ich die Wasserleitungen scheppern und rauschen und den Klang von Wasser, das eine Wanne füllte.
Im Dunkel unseres neuen Wohnzimmers standen verschiedene Pappkartons um mich herum, wie Touristen, die einen Straßenkünstler anglotzten. Ich atmete lange aus, den aufgestauten Atem. Wie aus dem Nichts lastete ein schweres Gewicht auf meinen Schultern und drückte mich nieder, nieder, nieder. Ich malte mir Jodie aus, so wie vorhin, wie einen Geist draußen im Schnee, ihr Gesicht leer vor vergeblicher Mühe.
Scheiß drauf, dachte ich und ging mit einer Zigarette zwischen den Zähnen hinaus.
Die Terrasse knarzte einmal mehr unter meinem Gewicht, als ich auf ihr stand. Ich nahm einen kräftigen Zug und fühlte in der Eiseskälte meine Augen feucht werden. Beim Blick über den Hof kam es mir vor, als wogen die Bäume unterschwellig, wie beseelte Lebewesen hin und her. Über ihnen glomm der Mond, wie ein fluoreszierender Schädel hinter schwarzen Wolkenschleiern.
Zweige brachen, Schnee knirschte und totes Laub raschelte, bevor mehrere Meter entfernt eine Gestalt auf dem gewundenen Schotterweg im Wald erschien, der zurück in die Waterview Court führte. Die Gestalt trug etwas, während er – sie schien unverwechselbar männlich zu sein – auf mich zukam.
Es war Adam.
»Halt«, rief ich.
Er blieb stehen und spähte in die Finsternis, bis er mich im nächtlichen Schatten auf der Terrasse entdeckte. Seine Umrisse sonderten Dampfschwaden ab. »Jesus, was zur Hölle treibst du hier draußen?«
»Ich verstecke mich.«
»Interessiert an Gesellschaft?« Er hielt mir sein Mitbringsel vor; anscheinend war ihm der Port in die Hände gefallen, den er zuvor gesucht hatte.
»Kommt drauf an. An wen hast du gedacht?«
Adam nahm einen Schluck aus der Flasche und schob die freie Hand in die Gesäßtasche seiner Baumwollhose. Er lehnte sich gegen das Terrassengeländer. Es knirschte, gab aber nicht nach. »Hoffentlich gefällt es euch hier.«
»Was könnte uns daran hindern?«
»Ich hoffe, ich habe mit meinem Gespräch über Familiengründung keine Lawine ins Rollen gebracht.«
»Schon okay.«
»Ein heikles Thema bei euch?«
»Könnte man sagen.«
Adam nippte ein weiteres Mal. Er schien sich weder neben mich stellen zu wollen, noch konnte er mich anschauen, als er sich mit dem Handrücken den Mund abwischte.
»Was hast du auf dem Herzen? Du bist bestimmt nicht hergekommen, um dich zu vergewissern, dass wir sicher zurückgefunden haben.«
Er schaute auf den Boden und schüttelte den Kopf. Zwar lächelte er, doch Heiterkeit sah definitiv anders aus.
Erneut stieß mich Adams Ähnlichkeit mit unserem Vater vor den Kopf. Erinnerungen an den alten Herrn stiegen auf. Einmal kam er mit einem Weihnachtsbaum auf dem Dach unseres Chryslers die Einfahrt herauf, als wir noch in der viel zu kleinen Doppelhaushälfte in Eastport wohnten. Kyle war nach wie vor am Leben, und wir schmückten noch einen echten Baum. Die Eindrücke kehrten so unverhofft und vehement wieder, dass ich beinahe weinen musste.
»Ich schätze, ich hielt es einfach nur für eine gute Idee«, behauptete Adam und riss mich damit aus meinem Wachtraum. »Ihr seid gerade erst eingetroffen und so. Immerhin wohnen wir quasi gegenüber, und da dachte ich …« Sein Ehering klackte an die Weinflasche. »Müssen wir uns aussprechen, du und ich?«
»Ich glaube nicht.«
»Als wir das letzte Mal auseinandergingen, taten wir es ja nicht im Guten.«
Ich schaute in die Ferne. Der Schnee schimmerte im Mondlicht, als sei er nicht von dieser Welt. »Vergiss es einfach. Wir waren beide betrunken.«
»Es hat mich lange Zeit belastet.«
»Es liegt in der Vergangenheit.«
»Empfindest du wirklich so, was das angeht? Nimm‘s mir nicht übel, falls doch nicht.«
Einen Augenblick lang ging ich tief in mich. Ich musste schließlich einsehen, dass ich nicht wusste, was ich empfand. Da ich befürchtete, mein Schweigen könne mich entlarven, beteuerte ich: »Sicher.«
»Wir haben bereits zu viel Zeit vergeudet, und zwar für nichts und wieder nichts.«
»Jetzt können wir alles nachholen«, stellte ich in Aussicht.
Er nickte einmal flüchtig. »Gut. Das wäre toll. Nichts lieber als das.«
»Also ist die Sache vom Tisch. Schwamm drüber. Lassen wir die Vergangenheit ruhen. Schnee von gestern und alle anderen Sprüche, die mir gerade nicht einfallen wollen.«
Adam gluckste und nippte am Portwein. »Ich sollte besser wieder zurück – außer du willst dir mit mir mit dem Rest von diesem Zeug die Kante geben?«
»Nein, danke.«
»Willst du dir lieber allein die Kante geben? Ich lass dir die Flasche hier.«
Ich lächelte. »Morgen vielleicht.«
Adam hievte sich vom Geländer ab. »Na gut.« Er kratzte sich mit seinen langen Fingern am unrasierten Hals, was sich anhörte, als bearbeite er die Haut mit Schmirgelpapier. Mir dämmerte, dass er sich den Mut, mir sein Herz auszuschütten, größtenteils angetrunken hatte. »Du weißt ja, wo du mich findest. Fühl dich bei uns wie zu Hause.«
»Es tut gut, dich wiederzusehen«, rief ich ihm hinterher, während er durch den Schnee zurück zu den Bäumen trottete.
Er hob eine Hand als Antwort, ohne sich umzudrehen.
Ich schaute ihm nach, bis ihn die Dunkelheit verschluckte.
Erschrocken fuhr ich aus dem Schlaf hoch.
Wo bin ich?
Mein Herz pochte in meiner Brust, ich spürte eine erstickende Panik in meinem Körper aufwallen, es dauerte Sekunden mich daran zu erinnern, wo ich war. Wir waren nicht mehr in jener verschrobenen, kleinen Wohnung im Norden Londons; wir lagen im neuen Schlafzimmer unseres neuen Hauses in Westlake, Maryland.
Nur ein Traum … ein schlechter Traum …
Neben mir schlief Jodie geräuschvoll. Ihre Füße und Beine, wohlig und warm, waren unter der Decke an meine geschmiegt. Einen Augenblick lang betrachtete ich sie, meine Augen gewöhnten sich langsam an das Dunkel des Raumes.
Es war noch jemand hier.
Dies dämmerte mir in keinem klaren Gedanken, sondern weil sich meine Nackenhaare aufrichteten, als ich mich aufsetzte. Ich war mir dessen instinktiv bewusst, wohl aufgrund einer Art ursprünglicher Vorahnung, und konnte es mir deshalb nicht rational erklären. Trotzdem spürte ich sie mit einem Mal, diese seltsame, unsichtbare Präsenz.
Ich starrte auf die offene Zimmertür gegenüber. Es war zu dunkel um etwas klar erkennen zu können. Wenn ich lange genug in den Raum starrte, mochte ich mir alles Mögliche zurechtspinnen.
Vorsichtig schlug ich die Decke zurück und verließ das Bett. Das Haus kam mir im Dunkeln noch fremder vor. Auf dem Flur des Obergeschosses fand ich mich schließlich zurecht, indem ich mit einer Hand an der Wand entlangtastete, bis ich das Treppenhaus erreichte. Um mich herum knarzte das Haus im Wind. Ich beugte mich über das Geländer. Geisterhafte Rechtecke des Mondlichtes schimmerten auf dem Teppich. Irgendwo im Bauch des Hauses zählte eine Uhr laut tickend die Sekunden.
Mein Atem stockte, als ich einer kleinen Gestalt in der hinteren Ecke der Diele gewahr wurde – sie war ein noch schwärzerer Fleck inmitten der Dunkelheit. Ich machte einen Kopf aus, eine Wange und den Verlauf des Halses. Je länger ich die Gestalt anstarrte, desto undeutlicher erschien mir der Mensch, als blickte man direkt auf einen entfernten Stern, der verschwamm, sobald man ihn fixierte. Nach einigen weiteren Herzschlägen hob sich die Gestalt nicht mehr großartig von der Unzahl unausgepackter Kisten und Möbel ab.
Unten zog ich meinen Parka an, weil ich nichts außer einem Unterhemd und der Pyjamahose trug. Dann schlüpfte ich in die Turnschuhe, die noch an der Haustür standen. Mit einer Hand kramte ich bereits in der Tasche nach meinen Zigaretten und dem Feuerzeug.
Als ich in die Nacht trat, brach die Kälte erbarmungslos über mich herein. Mit einem Mal spürte ich meinen Körper mit jedem Molekül, und selbst in dem Parka bekam ich Gänsehaut an den Armen. Schlotternd merkte ich, wie sich meine Hoden in den Unterleib zurückzogen. Nachdem ich die Zigarette mit zittrigen Händen angezündet hatte, zog ich kräftig daran – ich hatte es bitter nötig.
Während ich Adams Fußspuren im perlweißen Schnee betrachtete, fiel mir unsere jüngste Unterhaltung wieder ein. Ich wollte sie aber nicht gerade jetzt noch einmal Revue passieren lassen, also schlenderte ich neben das Haus und blieb vor einer Baumgruppe stehen. Die Ecke hielt den beißenden Wind vorübergehend fern. Der Garten wirkte teuer, surreal, unberührt. Vor mir erstreckte sich ein Fleck im Schnee, mein Schatten war riesig. Die Reinheit des Territoriums.
Ich bildete mir ein, ich sah eine Gestalt sich nur wenige Meter entfernt im Dunklen bewegen. Sie schien flugs aus dem Schutz der Bäume über den Rasen zu huschen. Ihre Umrisse zeichneten sich einen Moment lang vor dem mondbeschienenen See ab. Ich erstarrte mehrere Sekunden, vorbereitend auf die Rückkehr der Gestalt. Da sie allerdings auf sich warten ließ, begann ich, meinen Augen zu misstrauen, genauso wie gerade eben drinnen.
Schließlich ging ich weiter auf den Hinterhof. Bei den meisten Bäumen handelte es sich um Tannen, die in dichtem Winterkleid ihr Bestes gaben, um das Mondlicht abzuhalten. Weiter im Hintergrund standen Reihen hoher Eichen, die ohne Laub nunmehr wie Gerippe aussahen. Von meiner Warte aus erkannte ich einen einzelnen Lichtfleck, der auf der zugefrorenen Wasseroberfläche glitzerte.
Ich schlug mich weiter durch die Bäume vorwärts. Der Wind war erbarmungslos, biss sich in jede freie Stelle meines Fleisches, und ich schlang die Arme um meinen Oberkörper, um mich zu wärmen. Tränen strömten aus meinen Augen, brannten auf meiner Haut und erstarrten zuletzt an meinen Wangen. Je näher ich dem Ufer kam, desto steiler fiel die Böschung ab, und der Schnee war nicht mehr so tief. Beim Auftreten durchbrach ich eine dünne Eisschicht und sank mit meinem Turnschuh etwas ein. Augenblicklich sickerte kaltes Wasser hinein und ließ meinen Fuß erstarren.
»Shit.«
Mein Schuh gab ein Schmatzen von sich, als ich meinen Fuß aus dem frostigen Schneematsch befreite. Indem ich mich an einen Baum lehnte, bemühte ich mich, das Bein meiner Schlafanzughose auszuwringen. Meine Zehen waren bereits taub. Direkt mir gegenüber im See öffnete sich die Eisschicht und reflektierte. Die seltsame Struktur darin ragte kerzengerade aus dem Eis und wirkte im schwachen Mondlicht milchig. Erst aus dieser neuen Perspektive wurde mir bewusst, wie groß sie wirklich war, wobei es sich weder um einen Fels noch um eine Steinformation handelte. Sie war eindeutig von Menschen erschaffen worden.
Vom Ufer aus befand sie sich nur ungefähr zwanzig Meter weit draußen und ich musste sie mir einfach genauer anschauen. Wider besseres Wissen trat ich auf die Eisdecke des gefrorenen Sees. Ich prüfte zaghaft, ob mich die Schicht tragen konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde zogen Bilder an meinem geistigen Auge vorüber, auf denen ich in schwarzem Wasser versank, gefangen unter dem Eis und nach Luft ringend, bis meine Lungenflügel zu zerreißen drohten. Ich stellte mir vor, wie ich kurz vor der Ohnmacht nach oben in die Freiheit drängte und verzweifelt mit dem Kopf gegen die gefrorene Schicht stieß, um dem unvermeidlichen Tod zu entgehen.
Aber das Eis schien meinem Gewicht standzuhalten. Ich bewegte mich weiter vorwärts, wobei ich mehr rutschte als ging, weil ich zu viel Angst hatte, die Füße anzuheben.
Beim Näherkommen nahm das Ungetüm Gestalt an: ungefähr zehn Fuß hoch und vier breit, robust aus verblichenen Brettern gebaut. Sie war geschichtet – schräg – auf einer Seite.
Es war eine Treppe.
Wenige Fuß davor blieb ich verblüfft stehen.
Eine Treppe erhob sich geradewegs aus dem See.
Die Planken glichen dem Holz, mit dem man eine Veranda baute. Sie waren verwittert und schienen mit frostig weißem Schimmel überzogen. Die Treppe stand nicht auf dem Eis, sondern erhob sich hindurch, wie Jodie es am Nachmittag vom Schlafzimmer aus richtig abgeschätzt hatte. Das Eis am Fuß der Stufen war geschmolzen, hinterließ ein offenes Loch matschig schwarzen Wassers, dass die Konstruktion zwei bis vier Finger breit umgab.
Ich machte einen weiteren Schritt und brach ein.
Mein Atem stockte, und ich hörte, wie mein Fuß ins Wasser platschte. Schlagartig spürte ich mein Bein bis zur Mitte taub werden. Ich kippte vornüber und konnte den Fall nicht bremsen. Mein Herz schlug unregelmäßig, als ich die Hände instinktiv ausstreckte und es schaffte, mich am Rand der aufragenden Treppe festzuhalten. Es bewahrte mich davor, tiefer im Eis zu versinken. Während ich mich an das Holz klammerte, kam ich wieder zu Atem. Dann hob ich mein nasses und nahezu gelähmtes Bein aus dem Loch und richtete mich vorsichtig auf.
Die eisige Nachtluft ließ das Wasser an meinem Bein sofort gefrieren und der dünne Stoff meines Schlafanzugs lag darauf wie eine zweite Haut. Ein frierendes Brennen lief mein Bein herauf bis in den Schritt, und meine Kronjuwelen zogen sich erneut zurück. Mein ganzer Körper zitterte.
Dummerweise verlor ich das Gleichgewicht und fiel der Länge nach auf meine linke Seite. Ich fiel unsanft, meine Zähne schlugen aufeinander. Ich hörte, wie etwas brach, und wusste nicht, ob es das Eis unter meinem Gewicht war oder meine Knochen. Der Stummel meiner Zigarette flog weg, und ich sah in Zeitlupe, wie die Glut durch die Luft wirbelte. Eiswasser schwappte gegen meine Rippen und meine Arme. Wie im Traum neigte sich der Grund unter mir: Die Oberfläche war aufgesprungen und brach auseinander.
Ich äußerte eine Reihe deftiger Flüche und wälzte mich auf den Rücken, um dem immer breiter werdenden Spalt zu entrinnen. Selbst beim Rollen hörte ich es weiter wie ein Holzfeuer knacken.
Ich robbte von der Bruchstelle weg, bis mir mein Gefühl vermittelte, dass ich in Sicherheit war und liegen bleiben konnte. Also tat ich es. Ich hielt die Augen geschlossen, obwohl ich mich gar nicht daran erinnern konnte, sie überhaupt zugemacht zu haben. Rasselnd holte ich Luft, meine Kehle war wie zugeschnürt.
Dann, aus welchen Gründen auch immer, fing ich zu lachen an.
Ich verdammter Irrer.
Ich drehte mich auf die Seite und kroch zum Ufer, dabei bebte ich vor unterdrücktem Gekicher. Sobald ich nahe genug war, griff ich nach einem Ast, der über den See ragte. Als meine Füße endlich Halt fanden, zog ich mich hoch und spürte wieder festen Boden unter mir. Obwohl mich keine Menschenseele beobachtet hatte, fühlte ich mich wie ein Schwachsinniger.
Hinter den Bäumen vor mir brach ein Zweig.
Ich stockte. Erneut war mir, als ob sich etwas zwischen den ineinander verhakten Ästen bewegte, doch genau sagen konnte ich es nicht. »Hallo?«, rief ich mit zittriger Stimme. »Ist da wer? Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen.«
Niemand antwortete. Niemand regte sich.
Ich fixierte die Stelle im Geäst, ohne etwas zu sehen. Ein Reh vielleicht? Irgendein Waldkriechtier, das durchs Unterholz kroch? Was auch immer, wenn ich weiter darüber nachdachte, fror ich mir den Arsch ab.
Zitternd, wegen der Kälte, die meinen Körper langsam vom tauben linken Bein aus vereinnahmte, begab ich mich die verschneite Böschung hinauf zurück zum Haus.
Es heißt, die Natur kenne kein Aussterben – wenn man einmal gelebt habe, existiere man ewig, und zwar jeder einzelne Teil des Selbst, ob gesondert oder als Ganzes mit allen anderen. Mag eine dicke Staubschicht auf der Menschheitsgeschichte lasten, so bleibt die Erinnerung dennoch unbescholten.
Man stelle sich einen geräumigen, quadratischen Konferenzsaal vor, mit blaugrünem Teppich und alabasterner Akustikdecke. Schaut euch um. Ihr bemerkt, dass die Bänke aus Mahagoni unter den heißen Scheinwerfern glanzlos geworden sind. Herein gelangt man durch zwei breite Doppeltüren mit schräg angebrachten Messinggriffen, die jemand frisch poliert hat.
An der hinteren Wand steht betont würdevoll eine Menschentraube in einer Kleidung, die sie unsinnigerweise für ihre förmlichste halten, und pendeln unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Die Männer mit unbeholfen gescheiteltem Haar, eingefettet und nach hinten gekämmt. Die Handflächen der Frauen mit halbmondförmigen Einkerbungen übersät, weil sie verbissen die Fäuste ballen. Ihre Frisuren sind aus der Mode, und die Tatsache, dass ihnen das nicht auffällt, weist sie allzu deutlich als bornierte Kleinstädter aus. Das sind die Leute meiner Mutter, die aus Amerikas Vororten stammen und endlich zu dieser Gelegenheit in der Metropole zusammenkommen, der Welt meines Vaters.
Gegenüber im Saal steht eine Art breite Bühne, einzelne Pulte und Bänke aus Teak mit fleckigen Korduan-Polstern. Das Holz ist erst kürzlich mit Schellack gewachst worden. Dort sitzen eine Menge Leute oder stehen dichtgedrängt im Hintergrund, als wollten sie sich gegenseitig Wärme spenden. Für die Erzählung genügt es, wenn ich mich auf vier Personen beschränke, denen wir uns eingehender widmen werden: Zuerst ist da der Vater, ein Mann mittleren Alters mit leerem Blick und Falten im Anzug, die seinen Gram widerzuspiegeln scheinen; die Mutter hat offenbar ebenfalls Schwierigkeiten damit, sich zu konzentrieren und ihre Augen überhaupt auf irgendetwas zu fokussieren, obwohl sie verbissen vor sich hinstarrt. Bleiben noch die beiden heranwachsenden Söhne des Paares, von denen der dreizehnjährige Junge mit den abstehenden Ohren und fahrigen Händen besonders auffällt.
Er sucht den Blick seines Vaters. Sein Mund ist ausgetrocknet, er hatte nicht bemerkt, dass er die Schlaufe, an welcher der Plastikknopf seines Blazers befestigt war, aufgemacht hat, weshalb er den Knopf nun krampfhaft mit dem rechten Daumen und Zeigefinger festhält. Just bevor er ihn an seine Lippen führt, zuckt seine Hand wieder, und der Knopf fällt auf den Teppich.
Er merkt, dass niemand unter den Trauernden dieses Malheur aufgefallen ist, außer ihm selbst. Irgendwie empfindet er dies als tröstlich, als verheiße es ein sicheres Versteck weit weg von allen Menschen – selbst seinem Vater, seiner Mutter, seinem älteren Bruder sowie dem kalten Leib des jüngeren, dem Kleinsten der Familie, der vorne im Sarg aufgebahrt liegt. Schaut er nun hinüber in die ausnahmslos steifen, stoisch starrenden Gesichter, fürchtet er sich nur geringfügig weniger.
Es ist ein Kommen und Gehen auf dieser Welt.
Im Laufe der Monate nach Kyles Tod wurde ich missmutig und verschlossen. Zunächst mutete es nicht außergewöhnlich an, dass ich mich vor lauter Kummer von Adam und auch von meinen Eltern zurückzog, aber selbst wenn es noch schlimmer geworden wäre, hätte es niemand aus der Familie in der allgemeinen Stimmungslage bemerkt. Nicht dass sich Mutter und Vater zunehmend im Elend suhlten und seit Kyles Tod immer weniger ansprechbar wurden; nein, die beiden – seit jeher wohlwollend und warmherzig – vermochten einfach nicht, die Energie und Leidenschaft wiederzufinden, die sie als Eltern ausgemacht hatte, bevor es zu jener schrecklichen Tragödie gekommen war. Irgendetwas hatten sie verloren und wussten nicht, wie sie es zurückerlangen konnten.
Sie zogen sich in ihrer kleinen Doppelhaushälfte in Eastport zurück, wie etwas Dunkles im Winterschlaf, oder eine Leiche in ihr Grab. Eine besorgniserregende Kluft hatte sich zwischen den Hinterbliebenen von Familie Glasgow gebildet, und zu der Zeit, da man sie wahrnahm, hatte sie sich derart geweitet, dass man sie kaum mehr schließen konnte.
Meine Mutter, einst eine großmütige und beseelte Frau, die ihr Leben mehr oder minder genauso wie die vorige Generation fast ausschließlich über ein Dasein als handzahme Hausfrau definierte, verschrieb sich der Religion. So schleppte sie mich jeden Sonntag in die Kirche des St. Nonnatus, wo wir auf einer Bank hockten, die nach Möbelpolitur roch, und einem Priester zuhörten, der sich auf der Kanzel über Gottes Großartigkeit ausließ. Diese Pilgergänge hielt sie über ein Jahr durch. Ob es ihr etwas gebracht hat, weiß ich nicht. Allein dass ich dabei in Mitleidenschaft gezogen wurde, kann ich mit Gewissheit sagen, wenngleich wiederum unklar bleibt, ob dies so beabsichtigt war. Ich fasste es als Buße für meine Schuld an Kyles Tod auf, auch wenn ich nie mit Mutter darüber sprach.
Mein Vater, dessen bloßes Auftreten mir seit jeher Respekt eingeflößt hatte, schrumpfte mit jedem Tag weiter, nun da irgendein lebenswichtiges Organ, ein tragender Knochen in ihm zerschlissen war. Er erinnerte mich mehr und mehr an eines jener alten Autos auf Betonblöcken; auch ihn schien allmählich farbloses Unkraut zu überwuchern. Nach Kyles Tod verfiel er dem Alkohol, und diesem gottlosen, selbstzerstörerischen Pfad folgte er bis zur Endstation Prostatakrebs viele Jahre später.
In diesen letzten Jahren meiner Erinnerungen an diesen Mann, wurde aus dem einst sportlichen, ausgeglichenen, strengen, mitfühlenden und insgesamt guten Vater und Ehemann ein Bild einer alten Rostlaube an einer Straßenecke. Selbst jenes Bild vom aufgebockten alten Wagen wurde ihm nicht mehr gerecht. Er entwickelte sich zu einer Karikatur, schwer zu fassen und gestaltlos, zusammengesunken im Sessel vor der Glotze mit einer Flasche Dewar auf dem Beistelltisch daneben und entrücktem Blick, der an einen Anstaltsinsassen denken ließ.
Adam wurde mir schlicht fremd – wie einer von vielen Jungen aus der Nachbarschaft, die ich nicht kannte und nur vage voneinander unterscheiden konnte, wenn ich sie auf dem Schulhof sah. Ein Jemand, der eben auf dem Flur direkt gegenüber wohnte.
Eine kurze Zeit lang hegte ich ein düsteres, gewalttätiges Geheimnis: Vogelküken, die ich in ihrem Nest hinterm Schuppen zerquetschte, und auf Klebstreifen gesammelte Ameisen, deren Todeskampf ich bis zum Ende mitverfolgte.
Nach einem verheerenden Unwetter, bei dem auch etliche Bäume und ein Leitungsmast in unserer Gegend umgestürzt waren, hüpfte ein kleiner, brauner Frosch aus einer Dreckpfütze auf der Straße. Ich fing ihn ein und trug ihn hinter den Schuppen im Garten. Während das Tierchen in meinen geschlossenen Händen umhersprang, vermutlich mehrere Stunden, saß ich auf einem Bündel Feuerholz.
Als ich die Finger schließlich öffnete und den Frosch freiließ, hüpfte er ins Gestrüpp davon, und mir liefen Tränen über die Wangen. Meine Schreckensherrschaft über die kleinen Geschöpfe in der Umgebung war vorüber … aber es blieb das dumpfe Gefühl von Schuld zurück.
Letztendlich wurde ich zu einem schreckhaft nervösen Chaoten, der nicht nur sich selbst unruhig machte, sondern auch die Leute um sich herum. Jeder rechnete damit, dass man mich irgendwann ins Gefängnis steckte, was zu mehreren Anlässen durchaus gerechtfertigt gewesen wäre. Doch dazu kam es nie. Ich befand mich in einer, wie es ein Therapeut ausdrückte, »unbestimmbaren Gegenwart«, einer Art ständigem Wandel. Stets verändernd, immer weiter entwickelnd. Ich dachte dabei an Raupen, die zu Schmetterlingen wurden, und die glitschigen, fetten Bälge aus Gremlins, die leuchtend grünen Schleim spien.
Ich hatte Angst davor, Kyle würde aus dem Grab zurückkehren. Am Abend seines ersten Todestages war ich fest davon überzeugt, dass er mich holen kommen würde. In jener Nacht fand ich keinen Schlaf; zu angespannt war ich, saß aufrecht im Bett und wartete darauf, dass er sich barfuß mit triefenden Fetzen am Leib über den Flur schleppte. Dann würde er mein Zimmer betreten, mit Knochenbrüchen, eingeschlagenem Schädel und einem Teint in gotteslästerlichem Blaugrün wie Schimmel, der auf Brot wächst, und der mich nicht mit seinen Augen anstarrt, sondern mit schwarzen, seelenlosen Löchern in seinem Kopf, aus denen schlammiges Wasser an seinem verwesenden Gesicht hinablief.
Er würde mit einem anklagenden Finger zu mir deuten, während er in meiner Tür stand, in einer Pfütze dunklen Wassers. Du hast mir das angetan, würde er dann sagen. Du hast mir das angetan, Travis. Als mein älterer Bruder war es deine Pflicht, auf mich aufzupassen, doch stattdessen hast du mich umgebracht. Jetzt bin ich hier, um dich mitzunehmen – zurück ins Wasser, wo du versinken und auseinanderfallen wirst wie zerbrochenes Glas.
Ich dachte wieder: Du hast mir das angetan. Ein Teil des Selbst stirbt, wenn man seinen Bruder umbringt.
Infolgedessen begann ich, mich nachts in meinem Zimmer einzusperren. Niemand schien sich etwas dabei zu denken, also schwieg man sich aus. Wälzte sich mein alter Herr gelegentlich im Suff aus dem Bett und torkelte ins Bad, schlug mein Herz bis zum Hals, und auf meiner Haut bildete sich ein dünner Schweißfilm. Ich war mir sicher, Kyle würde kommen. Erst als ich die Klospülung hörte, wusste ich bestimmt, dass ich vorerst davongekommen war. Bald aber … bald …
In meinen Träumen raste ich durch einen kaleidoskopischen Trichter, in dem mannigfaltige Eindrücke über mich hereinbrachen – von eisigem Wasser dunkel wie der unendliche Raum, von ewiger Schwebe und Angst vor dem Fall, der doch nie erfolgte, vom dumpfen Aufschlag von Knochen auf fester, aber unsichtbarer Oberfläche.
Ein wiederkehrender Albtraum, in dem ich durch ein Labyrinth aus Lattenzaun, dessen Spalten und Astlöcher im Holz hetzte und ständig Blicke auf die Freiheit erhaschte, die dennoch unerreichbar blieb. Zuletzt brach ich erschöpft zusammen und stellte fest, dass der Boden unter mir nicht mehr fest war, sondern ein bloßes Miasma aus zu Wolken verdichtetem Qualm wie Treibsand. Ich kämpfte gegen den Erstickungstod an, wusste aber, dass es zwecklos war, und musste mich immer tiefer hineinziehen lassen, allerdings nicht vom Sand, sondern einem Paar Hände an meinen Fußgelenken.
Die Leblosigkeit im Haus nahm ebenso zu – einengend, zerrüttend und finster wie der Schlund der Hölle, und ungefähr so subtil wie ein Steinschlag.
Mit achtzehn zog ich aus, da meine Eltern von Rechtswegen her nicht mehr über mich verfügten. Was folgte, war eine irre Serie von Fehltritten, die besser unausgesprochen bleiben. Die Bekanntschaften, die ich in jener Phase meines Lebens machte, schienen sich zum Vorsprechen für einen miesen Film herausgeputzt zu haben – Lederjacken, Siebziger-Shirts mit weiten Kragen, Tätowierungen, teilweise rasierte Schädel und Piercings an allen möglichen Stellen und sie misstrauten jedem, der sich nur unmerklich von ihrer Clique abhob – und ich handelte mir eine Menge Ärger ein, auf den wirklich niemand stolz sein sollte. Bei Schlägereien zog ich mir blaue Augen und nicht nur einen Satz heiße Ohren zu, vor allem auch eine nicht ungefährliche Schnittwunde am linken Bizeps, nachdem ein überempfindlicher Fremder sein Butterfly-Messer aus Reflex über meinen Arm gezogen hatte.
Nachts schlief ich an U-Bahn-Haltestellen auf Bänken, wobei ich hinter jedem mitternächtlichen Schritt meinen Bruder wähnte, der kommen musste, um mich zu holen. Du hast mir das angetan. Am Ende jedoch war all dies unerheblich, weil ich in der unbestimmten Gegenwart lebte, eine Raupe in permanenter Transformation, ein Gebirgsbach auf der Suche nach dem großen Fluss. Fand ich ihn, gelangte ich auch zum Meer.
Letzteres war, wie sich herausstellte, die Stätte meiner Kindheit, denn ich kehrte binnen weniger Monate Alleinsein auf den Straßen sichtlich angeschlagen nach Hause zurück. Mutter weinte und empfing mich mit offenen Armen, bevor sie in die Küche eilte und mir eine warme Mahlzeit zubereitete. Vaters Schweigen hingegen war geradezu ohrenbetäubend. Er beäugte mich bloß und war nach wie vor trotz der Schwäche, die ihn seit Kyles Ableben heimsuchte, eine imposante Person. Sein Gesichtsausdruck zeugte von äußerster, allumfassender Resignation. Adam, der auf dem College gewesen war, als ich Reißaus genommen hatte, hielt sich bei meiner Rückkehr im Haus auf.
Ich kam nämlich während der Weihnachtsferien, und Mutter hatte die Diele ein wenig festlich geschmückt. Adam und ich waren sowohl alt als auch arrogant genug, um Abscheu voreinander zu hegen. Ich redete mir ständig ein, er müsse mich doch ansprechen – beispielsweise Enttäuschung darüber bekunden, dass ich feige weggelaufen war, oder seinem Hass Ausdruck verleihen, weil sich Mutter meinetwegen fast zu Tode gesorgt hatte –, aber nichts dergleichen. Er sagte während der ganzen Ferien kein Wort. Eines frühen Morgens fuhr er mit unserem Vater im Chrysler los, als die Schule wieder begann.
Durch das Fenster beobachtete ich, wie er das Haus verließ. Mein Gesicht brannte und war rot vor Hitze. Die Augen gingen mir beinahe über. Adam spielte Football, bekam glänzende Zeugnisse und wollte Polizist werden. Ich hatte unseren jüngeren Bruder getötet und die letzte zarte Bande, die die Familie noch zusammenhielt, war mit emotionalem Ballast zum Zerreißen gespannt. Was hätten wir einander schon erzählen können?
Es ist ein Kommen, sagte mir mal ein Therapeut, und Gehen. Du treibst ziellos umher, Travis. Wirf einen Anker aus und finde Halt, bevor du versuchst, eine konkrete Richtung einzuschlagen. Was notierst du eigentlich ständig auf diesen Blöcken?
Ein Kommen und Gehen.
Weil mir der Gedanke, ein Dasein als Obdachloser zu fristen, nicht schmeckte, drückte ich zwei Jahre lang die Schulbank auf einem College zur Berufsvorbereitung, wobei ich mich ungefähr mit der Begeisterung eines Zombies ans Lernen machte. Überraschenderweise erhielt ich gute Noten.
Immerhin erntete ich dadurch verhaltenes Lob von meinem Vater, der ja gewissermaßen selbst ein Zombie war und sich daraufhin anschickte, mir zwei weitere Jahre an der Universität Towson zu finanzieren. Ich war nicht mit dem Herzen bei der Sache, bekam aber gute Noten und schloss am Ende mit Vorzug ab.
(Was Towson angeht, erinnere ich mich nur an nächtelanges Saufen mit meinem Mitbewohner, einem unverhohlenen Homosexuellen mit blaugefärbtem Stachelkopf und üblem Mundgeruch. Außerdem muss ich Stunden kotzend auf dem Klo verbracht haben, bis ich dachte, mein Kehlkopf trudle irgendwo im Abflussrohr herum. Ich ging mit Hausschuhen zum Unterricht und trug quasi die ganze Woche lang ein und dasselbe stinkende Sweatshirt. Die Liberalen stilisierten mich deshalb zur geplagten Dichterseele hoch, während ein paar relativ ansehnliche, wenn auch nicht sonderlich gepflegte Girls von der Hochschule der freien Künste Bettgymnastik mit mir betrieben; eine von ihnen wurde schließlich lesbisch, wenn ich mich nicht irre.)
Irgendwann erreichte ich im Zuge all dessen einen Punkt, an dem ich halbwegs zufrieden war. Auf den besagten Blöcken hielt ich übrigens Dutzende Erzählungen fest. Als ich das College verließ und der Doppelhaushälfte in Eastport für immer den Rücken kehrte, schrieb ich ein paar davon um und bemühte mich um eine Veröffentlichung.
Wie hatte es F. Scott Fitzgerald einmal in einem Brief ausgedrückt? Literatur sei gut, so man beim Lesen glaube, untergetaucht zu sein und den Atem anzuhalten. Nun, für mich war das stimmig. Ich hatte The Ocean Serene geschrieben, einen Roman über Kyle, und brachte ihn ebenfalls bei einem Verlag unter. Das geschah zu der Zeit, als ich in Georgetown wohnte und Jodie traf, und zum ersten Mal seit Langem sah ich einen Silberstreif am Horizont. Das Schreiben war nicht nur eine Therapie, es war eine Absolution. Endlich konnte ich meine Geister ruhen lassen. (Schlaf, alter Dämon, auch wenn ich weiß, dass du immer noch hungrig bist!)
Mit Adam klappte es auf persönlicher Ebene mittlerweile auch einigermaßen, falls man nicht sogar von einer normalen Beziehung sprechen konnte. Jedenfalls telefonierten wir regelmäßig miteinander.
Kyle war stets eine unausgesprochene Präsenz im Raum, wenn wir zu seltenen Gelegenheiten zusammenfanden. Als Adam Beth heiratete, war ich sein Trauzeuge. Ich besuchte ihn nach der Geburt seiner Kinder. Zusammen trugen wir Vater nach seinem kurzen Kampf gegen den Krebs zu Grabe und Adam wurde im darauffolgenden Jahr mein Trauzeuge. Die Stimme meines verfluchten Therapeuten jedoch hallte unterdessen ständig in meinem Kopf wider: Wirf einen Anker aus und finde Halt, bevor du versuchst, eine konkrete Richtung einzuschlagen – und weil ich diesen sprichwörtlichen Anker nie geworfen hatte, traf ich schließlich auf einen Eisberg in der Nacht von Mutters Beerdigung.
Ich hatte zuvor eine Menge Alkohol getrunken und war im Nachhinein ohnehin geneigt, die Feierlichkeiten möglichst zu vergessen, weshalb ich mich heute nur noch bruchstückhaft daran erinnere, was zwischen Adam und mir vorfiel. Dieses Bisschen genügt jedoch, um mir zu wünschen, es für immer ausblenden zu können.
Es ereignete sich im Haus meines Bruders. Nicht nur ich, sondern auch er hatte getrunken, obschon allein ich deshalb angeschlagen war. So konnte ich den Mund nicht halten und machte eine dumme Bemerkung, von wegen drei Fünftel unserer Sippe seien tot und unter der Erde, ehe ich mich zu Adam umdrehte, ohne dass er mich provoziert hätte, und mich für Kyles Tod verantwortlich machte. Er blieb sprachlos und konnte nur den Kopf schütteln, aber ich machte weiter, bis ich laut grölte. Ich hatte unseren Bruder ja tatsächlich auf dem Gewissen und wollte – musste einfach hören, dass Adam mich dessen bezichtigte. Stattdessen aber kam er auf mich zu und umarmte mich. Doch mein getrübter Verstand sah diese Umarmung als Bedrohung und ich schwang meine tollpatschige Faust in sein Gesicht und traf sein Auge.
Jodie und Beth schrien gleichzeitig auf. Ein Teller zerklirrte am Boden, was wie aus einer anderen Dimension an mein Ohr drang. Ich setzte nach, diesmal jedoch berechnender, und spürte sogar trotz meiner dem Alkohol geschuldeten Benommenheit, wie meine Fingerknöchel auf das Kinn meines älteren Bruders trafen. Dann aber traf seine Faust auf mein Gesicht, und zwar mit solcher Wucht, dass ich zu Boden ging. Ehrfurchtgebietend wie Vater baute er sich vor mir auf, was ich nur durch einen Tränenschleier wahrnahm.
Jodie las mich auf, während Beth mich Arschloch nannte und mir zu verstehen gab, ich soll mich verdammt noch mal aus ihrem Haus verpissen. Ich schleuderte ein Trinkglas durch den Raum und hörte, wie die Kinder in ihrem Zimmer zu weinen anfingen.
Während mich Jodie hinaus in die kalte Nacht führte, drückte sie mir entschieden mit einer flachen Hand ins Kreuz. Ich taumelte wie im Fieber voran. Sie sagte mir zwar einige Dinge ins Ohr, doch davon ist mir nichts im Gedächtnis geblieben, wohl weil ich auch gar nicht zugehört habe. Genauso wenig weiß ich noch von der Rückfahrt zu unserem Appartement.
Die beiden folgenden Wochen verlebte ich in einem absoluten Tief. Wie besessen dachte ich über Kyle nach und ächzte sprichwörtlich unter der Bürde meiner Schuld. Im Wahn eines frisch vom Teufel Gerittenen kritzelte ich weitere Blöcke voll und rauchte wie ein Schlot. Ferner wechselte ich die Kleidung nicht mehr, obwohl anders als zu meiner Zeit auf dem College niemand darauf gekommen wäre, mir deshalb Künstlerdünkel anzudichten.
Mein schlechtes Gewissen ähnelte einem Teich, in dem ich zu ertrinken drohte … allerdings beschwört diese Vorstellung auch Szenen von flatternden Armen und Hilferufen herauf. Aber nicht ich. Ich ertrank in meinem Kummer mit grotesker Zustimmung, wie ein Kapitän eines Schiffes, der aus Verpflichtung zum Meeresboden sinkt, angetrieben durch die Opferbereitschaft und das Engagement dem Schiff gegenüber, das ihn hinabzieht.
Eine Art Fieber überkam mich – ich ließ es geschehen – und fesselte mich mehrere Tage ans Bett, in denen ich mit trüben Augen dahindämmerte, spirituell zumindest, beziehungsweise hin- und hergerissen wie ein Gestrüpp im Wind. Ich befürchtete, Jodie werde mich verlassen. Sie tat es nicht, aber meine Depression ließ sie nicht unberührt. Zwei Wochen später, als ich wieder halbwegs bei Trost war, fühlten wir uns beide erschöpft wie durch eine nicht diagnostizierte Krankheit.
Ich sollte erst viel, viel später wieder mit Adam Kontakt aufnehmen, lange nachdem Jodie und ich über den Atlantik geflogen und in die Londoner Nordstadt gezogen waren.
Ein Kommen und Gehen …
Vage, aber von jetzt auf gleich vernahm ich ein durchdringendes Geräusch, bevor sich das helle Tageslicht wie ein spitzer Dolch in meine Lider bohrte. Ich stöhnte und wälzte mich hinüber auf Jodies Seite des Bettes, welche kalt war, aufgrund ihrer Abwesenheit.
»Du musst mir erklären«, hörte ich ihre Stimme, wie aus einem ätherischen Strudel, »wie das passieren konnte …«
Ein reumütiger Teil meines Ichs befand sich nicht im Bett in unserem neuen Haus, sondern schwebte frei in der Luft über einem funkelnden Gewässer. Die Nacht war hereingebrochen, das Mondlicht sprühte Funken auf dem schwarzen See, als sei er statisch aufgeladen. Gefangen in diesem winterlichen Standbild hielt ich den Atem an und wartete auf den Sturz ins kalte Nass, zu dem es nicht kam. Jodies Stimme war die einer entleibten Gottheit, zerrte mich gewaltsam in die Wirklichkeit zurück.
Widerwillig öffnete ich ein Auge. Zuckte zusammen, da die Sonne durch die halb zurückgezogenen Vorhänge schien. Jodie stand am Fuß des Bettes und hielt meine Schlafanzughose hoch.
»Morgen«, brummte ich.
»Du hast bestimmt eine brillante Erklärung hierfür.« Sie schüttelte das Kleidungsstück mit beiden Händen. »Ist klitschnass, genauso wie der Teppich unten im Flur. Wie das?«
»Muss einen feuchten Traum gehabt haben.« Ich hievte meine Beine von der Matratze auf den Boden, wobei sich die Härchen auf meiner nackten Haut vor Kälte aufrichteten.
»Urkomisch. Deine Schuhe stehen halb vereist vor der Haustür.« Sie knüllte die Hose zusammen und steckte sie in den Wäschekorb. »Wüsste ich es nicht besser, würde ich behaupten, du hättest an einem Hundeschlittenrennen teilgenommen, bevor du zu Bett gegangen bist.«
Auf einen Schlag fiel mir wieder ein, wie ich aus dem Haus geschlichen und hinunter an den zugefrorenen See gegangen war. Wäre die klamme Schlafanzughose nicht gewesen, hätte ich es als außerordentlich lebhaften Traum abgetan. Bei Tag nun musste ich nüchtern feststellen, wie leichtsinnig ich mich in der Nacht verhalten hatte. »Wie spät ist es?«, fragte ich und rieb mir die Augen.
»Mittag.«
»Warum hast du mich nicht früher geweckt?«
»Ich habe es vor etwa einer Stunde versucht, aber nichts zu machen.« Sie verschwand in dem begehbaren Schrank, um nur einen Moment später mit einer Ladung Kleider auf dem Arm herauszukommen. Sie warf sie auf das Bett. »Würdest du den Schreibtisch in das leere Zimmer bringen?« Die Packer waren nicht sicher, wo sie ihn hinstellen sollten, und haben ihn im oberen Flur gelassen. »Wenn du Zeit findest, kannst du auch die Kartons im Keller ausräumen. Schaut alles so nach Umzug aus.«
Ich seufzte. »Liegt daran, dass wir umgezogen sind.«
»Hilfst du mir mal hiermit?« Sie nahm eine Bluse vom Stapel, trug sie hinüber und legte sie über die Scheibe aus Facettglas neben der Schlafzimmertür. Ich sah zu, wie sie ihr Shirt aus- und das frische Teil anzog. Ihr dunkles Haar war nach hinten gekämmt und mit einer Spange fixiert und sie hatte sich geschminkt.
»Wo gehst du hin?«
»Zum College wegen der Anrechnungspunkte, die noch ausstehen.«
Einzig aus diesem Grund hatte Jodie gezögert, als es um den Umzug aus London zurück in die Staaten gegangen war. Sie stand kurz vor dem Doktortitel in Psychologie. Im Frühjahrssemester sollte es so weit sein, und sie schrieb gerade ihre Arbeit fertig. Das Letzte, was sie wollte, war Punkte verlieren, weil sie ihren Standort wechselte.
»Das dürfte kein Problem darstellen, aber ich möchte sichergehen, nur für den Fall. Ich glaube nicht, dass ich den Nerv dafür aufbringen kann, irgendwelche Kursarbeiten nachzumachen. Eher noch breche ich ab.« Sie stopfte die Bluse in eine ihrer schönen schwarzen Hosen und betrachtete ihr Spiegelbild.
»Du wirst nicht abbrechen.«
»Vielleicht kann ich auch kellnern gehen. Oder strippen.«
»Schlag dir das aus dem Kopf. Wird schon schiefgehen.«
Während Jodie noch den Kragen zuknöpfte, kam sie herüber und gab mir einen Kuss mitten auf die Stirn. »Vergiss nicht die Kartons. Und den Schreibtisch.«
»Werde ich nicht.«
»See you later, alligator«, verabschiedete sie sich.
Etwas unbeholfen hievte ich Jodies Tisch den Flur entlang in den Raum, den wir als Büro verwenden wollten. Dort standen noch mehr Kisten an den Wänden, obwohl der Schrank schon von ihren Klamotten überquoll. Ein paar schaffte ich aus dem Weg, ehe ich das Möbel über den Teppich zog und schließlich unter ein Einzelfenster mit Blick auf den Garten neben dem Haus stellte. Von dort aus sah man schwarze Kiefern, die als Zierde vom Wald hinunter bis zum See reichten.
In einer der Gipsplatten an der Wand entdeckte ich direkt über dem Fußboden eine rechteckige Ausstanzung, kaum größer als eine Hundetür. Hätte ich die Kartons nicht weggeräumt, um Platz für den Tisch zu schaffen, wäre sie mir entgangen. Als ich mich bückte, stellte ich fest, dass es tatsächlich eine Tür war, ähnlich der Wandschränke unserer Londoner Wohnung, in denen wir Lebensmittel verstaut hatten. Die Regalböden waren an einer Seite mit Haken versehen, das Fach dank eines Magneten geschlossen geblieben. Dieser gab nach, als ich gegen die Tür drückte, und schon ging sie auf. Ein dunkles Loch offenbarte sich. Eiskalte Luft strömte heraus und verursachte mir einen Schauer über den Rücken. Schlecht isoliert.
Ich zog die Tür ganz auf, um hineinzusehen. Das eckige Fach war nicht geräumiger als die Trommel einer Waschmaschine. Der Boden bestand aus unbehandelten Brettern, die Streben in den Wänden waren mit undurchsichtiger Papierfolie bedeckt, aus der rosafarbene Spitzen des Dämmmaterials ragten wie die Polsterung einer alten Couch.
Einige Gegenstände am Boden erkannte ich. Eines war unbestreitbar ein Baseball. Ein abgegriffenes Dagobert-Duck-Comic. Einige Matchbox-Autos (und allein sie anzusehen versetzte mir einen kalten Stich ins Herz. Schlagartig erinnerte ich mich an diejenigen, auf die ich nach Kyles Beerdigung unter seinem Bett gestoßen war, woraufhin mich Vater in seiner Trauer mit dem Gürtel geschlagen hatte. Gleich darauf war er zurück in seinen Arbeitsraum gegangen, um im Stillen zu weinen.) Dahinter stand ein Schuhkarton, der ein wenig Staub angesetzt hatte.
Das Geheimversteck eines Kindes, dachte ich mir, als ich hineingriff und den Karton nach vorne zog. Dabei hinterließ ich einen deutlichen Handabdruck auf dem Deckel. Auf meinem Schoß wog er wenig, aber leer war er definitiv nicht. Kurz nach dem Öffnen stieß ich ihn blitzschnell von mir und kroch ein Stück auf dem Teppich zurück.
Der Karton blieb auf der Seite liegen und zwei tote Vögel kullerten heraus.
Die Schachtel war voll von toten Vögeln, ihre Augen waren weiß wie Marmor, verdreht nunmehr, mit knochigen Krallen, scheinbar in der Bewegung erstarrt. Nach dem ersten Schock beugte ich mich nach vorn und betrachtete die Kadaver genauer. Sie waren steif gefroren, wie glitzernder Reif auf ihren graubraunen Federn zeigte. Einige hatten den Schnabel halb geöffnet.
Ich suchte mir einen Stoß Packpapier und legte die beiden kleinen Kadaver darin eingeschlagen zu den übrigen zurück. Jeder von ihnen war leicht wie eine Christbaumkugel. Der Karton kam mir vor wie ein Massengrab. Neun Tiere lagen insgesamt darin. Was für ein grausames Kind –
Natürlich kehrte gleich die Erinnerung an meine eigene Jugend wieder, als ich mich mit dem Frosch in den Händen hinter dem Schuppen versteckt oder das Nest voller Küken in dem Strauch an der Garage geschmissen hatte. Jeden einzelnen kleinen Vogel hatte ich zerquetscht, bis klebrig gelbe Flüssigkeit aus ihren Aftern gequollen war. Ich fühlte mich schlecht.
»Scheiß drauf.« Ich setzte den Deckel wieder auf, machte die kleine Tür zu und trug den Schuhkarton in die Küche, wo er in einen Müllsack wanderte. Den brachte ich in den Hof und warf ihn in eine der großen Tonnen.
Im Keller herrschte ein schizophrenes Durcheinander aus Stühlen, Kisten und willkürlich irgendwo abgestellten Gegenständen, die in ihrer Funktion nicht mehr zu gebrauchen waren. Die ehemaligen Bewohner, die Dentmans, hatten das Gewölbe mit Gipsplatten unterteilt und die einst geräumige Fläche unter niedriger Decke in ein Labyrinth aus Waben oder verwinkelten Nischen verwandelt.
Ich fand eine Taschenlampe in meinem Werkzeugkasten und leuchtete damit die Trennkammern aus – eine davon war kaum größer als ein winziges Kämmerchen – während ich durchging. Zuerst dachte ich, dass die Dentmans, oder wer auch immer diese Wände aufgestellt hatte, darauf aus gewesen seien, den Keller zu renovieren. Nach eingehender Betrachtung kam mir die Anordnung der Räume jedoch zu unkonventionell vor. Sechs waren es insgesamt, die Gipsplatten alt und dementsprechend an manchen Stellen eingerissen. Man hatte sie direkt an die tragenden Wände des Hauses genagelt, doch keiner der Räume war elektrisch verkabelt, was auf schlechte Planung schließen ließ. Immerhin waren zwei mit je einer weiteren Platte als Decke versehen worden, wo rosa Dämmstoff von oben herabhing. An einer der Trockenwände bückte ich mich mit der Lampe und sah, dass Teile abgebröckelt waren. Weißer Staub bedeckte den Betonboden. Ich tastete nach den Löchern im Gips.
»Seltsam«, murmelte ich, während ich zurück in die Kellermitte trat und die Kartons anpacken wollte, die dort gestapelt waren. Bereits im Durchgang der behelfsmäßigen Raumteiler aber hielt ich inne, denn meine Lampe traf auf mehrere seichte Pfützen auf dem Beton. Die hatte ich zuvor nicht bemerkt, obwohl man sie nicht übersehen konnte. Ich richtete den Lichtkegel nach oben, wo kreuz und quer eine Unzahl von Kupferrohren verlief. Falls eines davon leckte, wusste ich nicht einmal, wo man die gottverdammte Wasserleitung abstellte.
Allerdings schienen die Rohre trocken zu sein. Um sicherzugehen, fuhr ich mit der Hand daran entlang, doch abgesehen von blaugrauem Staub blieben meine Finger knochentrocken. Einen hielt ich in eine der Pfützen. Eiskaltes Wasser. Indem ich den Lichtkegel weiter über den Beton schweifen ließ, erschloss sich mir ein gleichmäßiges Muster.
Fußspuren. Feuchte Fußspuren.
Sie zogen sich der Länge nach durch den Keller bis vor eine der Gipsplatten, die an die Mauer gehämmert worden waren. Verschwanden im Nichts.
Vorübergehend fühlte ich mich der Ohnmacht nahe und glaubte, meine Welt stürze ein. Allzu eindringlich stieg meine kindliche Furcht wieder auf, Kyle erhebe sich aus dem Grab und fordere meine Seele ein. In meiner Vorstellung tropfte faulig schwarzes Wasser auf die Diele der kleinen Doppelhaushälfte, in der wir einst einträchtig gelebt hatten. Seine Schritte auf dem Hartholzboden klangen wie der entseelte Herzschlag eines Vampirs.
Ich erschrak vor mir selbst, als ich fragte: »Kyle?« Kaum hatte der Name meinen Mund verlassen, geriet mein Blut ins Stocken und mein Körper begann zu zittern. Ziemlich sicher war ich grundlos verängstigt. Mit ziemlicher Sicherheit interpretierte ich etwas aus dem Nichts.
Nur Wasser … nur Wasserpfützen …
Ich schnappte mir ein Handtuch aus dem Waschraum und wischte die Spuren trocken, während ich mir einredete, sie stammten nicht von Füßen. Eine war sogar sichelförmig und zeigte deutlich den Abdruck von fünf Zehen … dennoch gelang mir, es als Unfug abzutun.
Den Mittag verbrachte ich damit, zahllose Kartons leer zu räumen und den Inhalt in verschiedene Zimmer zu tragen. Manches deponierte ich vor dem Haus, auf dass die Sperrmüllabfuhr es mitnahm. Später hörte ich, wie oben die Haustür zuschlug. Jodie war zurückgekehrt und bewegte sich nun auf dem Bretterboden über mir. Ich zielte mit dem Strahl der Taschenlampe auf meine Armbanduhr, es war zehn nach zwei. Ich war hungrig und fragte mich ob Jodie wohl Lust hatte, mit mir in die Stadt zu fahren, um das Essensangebot vor Ort zu sichten und etwas zu besorgen. So oder so war ich müde und wollte mich nicht mehr in diesen lausigen Katakomben herumtreiben.
Also erklomm ich die schmalen Stufen und kam an der Küche vorbei, wo eine Kanne auf dem Herd kochte und Kaffee unkontrolliert Dampf in die Luft stieß und sich dickflüssig schwarz auf die Platte ergoss.
»Verdammte Scheiße.«
Ich schnappte mir ein Geschirrtuch von der Arbeitsfläche und wickelte es um eine Hand, zog die Kanne vom Herd und schaltete ab. Der Kaffee brodelte in meiner Hand weiter und wallte auf. Ich stellte ihn ins Spülbecken und wischte die obere Seite mit dem Geschirrtuch trocken.
Oben stapfte Jodie zweimal mit dem Fuß auf, um sich bemerkbar zu machen.
»Ich weiß, ich weiß. Kaffee kocht, schon klar.« Nachdem ich den Rest der Schweinerei beseitigt hatte, wrang ich das Tuch über dem Spülbecken aus.
Zwei Minuten später suchte ich das Obergeschoss ab, fand Jodie aber nicht. Ich schaute ins Schlafzimmer und Bad. Sie waren leer. Dennoch war ich mir sicher sie gehört zu haben. Als ich zurück zur Haustür ging, war diese verschlossen. Ich rief ihren Namen, erhielt aber keine Antwort. Einen Moment lang blieb ich am Fuß der Treppe stehen, starrte entlang der Stufen ins Obergeschoss, bis ich schließlich einsehen musste, dass ich allein war.
Später, als es wieder zaghaft zu schneien begann, ging ich nach draußen, den weißen Hang hinter dem Haus hinab, um meine bizarre Nachtwanderung Revue passieren zu lassen. Trotz der nassen Schlafanzughose und meiner gefrorenen Nike-Schuhe war ich fast hundertprozentig davon überzeugt, dass ich den Vorfall am See nur geträumt hatte. Die Fußspuren ums Haus, die verschneite Böschung hinunter durchs Gehölz zum Wasser, fungierten jedoch als unumstößlicher Beweis. Ich zog den Parka fester um mich und trat an das Ufer. Auf dem Eis driftete Neuschnee wie weißes Pulver.
Wie ich so dastand, fischte ich eine Packung Marlboro aus der Jackentasche und betrachtete die Treppe, die durch das Eis aus dem Wasser ragte. Obwohl sie immer noch riesig wirkte, nahm ihr das Tageslicht den zauberhaften Schein und gab sie als das preis, was sie war, ein Konstrukt aus marodem Holz, zersplittert und mit Nägeln gespickt. Ich näherte mich, so gut es ging, weit vorsichtiger als in der Nacht, und konnte die grauen Bohlen schließlich genauer betrachten. Dermaßen verwittert wirkte das Konstrukt wie ein Knochengerüst. Es dämmerte mir nicht sofort, aber in einem entlegenen Winkel meines Geistes spross der Keim einer Erzählung und wuchs sich aus, noch während ich mit den Händen in den Taschen und der glühenden Marlboro im Mund dastand.
Am Ufer entlang ging ich weiter nach Norden, bis die Landschaft zu steil und unwägbar wurde. Ich schaute von einer Anhöhe aus zurück, die sich ungefähr fünfzehn Meter über dem Wasser erstreckte. Zweige lagen im Gestrüpp, das die Erde überwucherte und schroffe Felsen ragten aus dem Schnee. Alle Bäume waren kahl, und ihre Äste boten mir sicheren Halt, damit ich nicht mit den Füßen wegrutschte und über den Rand fiel. Die spitzen Felsen hätten mich wie Krokodile zerrissen, die einer arglosen Gazelle harrten.
Von dieser Stelle aus überblickte ich die gesamte Umgebung des Sees. Er war größer, als ich gedacht hatte, denn vom Haus aus versperrten die hohen Kiefern, die das Grundstück säumten, die Sicht auf die Ränder. Hier jedoch konnte ich ungehindert schauen, und er wirkte noch spektakulärer. Ich konnte mir vorstellen, wie es im Sommer aussah, mit all den Bäumen in ihrer Blütenpracht, die Sonne, die einen rotbraunen Streif am Horizont malte, und Kumuluswolken am von Vögeln übervölkerten Himmel dahinzogen. Die seltsame Holztreppe sah aus wie der Aussichtsturm eines U-Bootes, das durch die Eisdecke brach.
Nur ein weiteres Haus stand am See, und zwar genau hinter mir. Drehte ich mich um, konnte ich es durch die dürren, verschlungenen Äste der nackten Bäume ausmachen. Es war im Stil einer Waldhütte gebaut, im Moment mit rauchendem Schornstein, wie man es vom Etikett einer Flasche Ahornsirup erwartete. Die Veranda ringsum war auffällig mit Holzeinlegearbeiten verziert. Von ihr, das ahnte ich, genoss man eine bessere Aussicht auf den See als von meiner Warte aus. Rauchfahnen kräuselten sich gemütlich über dem Dach, geradezu düster gegen den grauen Nachmittagshimmel. Von einer Seite des Hauses zum Scheitelpunkt der Anhöhe wuchs eine Reihe Kiefern. Die Bäume ähnelten Menschen, die Schulter an Schulter standen, wobei ihre Glieder im Wind schaukelten.
Als Jodie später am Abend nach Hause kam, saß ich auf der Wohnzimmercouch und schrieb in ein Ringbuch.
»Wie war es am College?«
»Verglichen mit der Professorenschaft in London kommen diese Typen rüber wie Statisten aus der Andy Griffith Show.«
»So übel kann es nicht sein.«
»Ich übertreibe ein wenig, aber nicht viel. Der Geschäftsführer der Fakultät trug eine verdammte Schnürsenkelkrawatte.«
»Wie sieht es mit den Punkten aus?«
Sie beugte sich über die Armlehne der Couch und drückte mir ihre kalte Nase gegen die Schläfe. »Ich darf freudig verkünden, dass sie alle angerechnet werden. Heute Abend bin ich ein glückliches Mädchen, Mr. Glasgow. Sieh zu, dass du das ausnutzt, solange du kannst.«
Ich klappte das Ringbuch zu und küsste sie. »Klingt nach einer guten Idee.«
»Arbeitest du an etwas?«
»Hab mir bloß ein paar Notizen gemacht.«
»Hast du die Schreibblockade endlich überwunden?«
Ich zuckte unverbindlich mit den Achseln. »Reite nicht darauf herum.«
Sie richtete sich wieder auf und zog ihre Jacke aus. »Bist du dazu gekommen, die Kartons im Keller auszuräumen?«
»Natürlich.« Ich musste wieder an die Fußspuren denken. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter.
Jodie legte den Kopf an meine Schulter und fuhr mit einer Hand den Nacken hinauf in mein Haar.
»Du riechst gut.«
Ich drehte mich und küsste sie. Sie ließ sich auf dem Sofa nieder und zog mich zu sich herab. Wie aus dem Nichts überkam mich eine animalische Lust, wie ich sie seit der Zeit vor unserer Hochzeit nicht mehr verspürt hatte. Ich war mir sicher, dass Jodie genauso empfand, und einen Moment später liebten wir uns auf dem Sofa. Meine Jeans hing noch an einem Knöchel fest, als ich ihr die Bluse, die sie nur teilweise aufgeknöpft hatte, über den Kopf zog. Es dauerte nur drei bis vier Minuten, fiel dafür aber umso ungestümer und leidenschaftlicher aus.
Als wir fertig waren, wälzte ich mich auf die Seite, und Jodie setzte sich hin. Sie zog die Bluse wieder an, beugte sich nach vorn und schmiegte den Kopf an meine Brust. Wir keuchten angestrengt, aber im perfekten Einklang.
»Das war nicht übel«, sagte ich nach einer stillen Weile.
»Hmmm.« Sie hörte sich entrückt an, als schlafe sie gleich ein.
»Hey«, fügte ich an, indem ich eine ihrer Schultern drückte. »Danach einzupennen ist mein Job.«
»Sorry. Ich bin einfach nur fertig. Hab letzte Nacht nicht gut geschlafen.«
Als ich wieder an meinen Ausflug zum See zu später Stunde dachte, musste ich grinsen. »Ach ja?«
»Meine Träume waren ziemlich seltsam.«
»Was für ein Traum war es denn?«
»Jemand war in unserem Zimmer, stand einfach so am Fuß des Bettes und schaute zu, wie wir schliefen. Es kam mir so echt vor, dass ich aufwachte. Vier- oder fünfmal habe ich es wohl geträumt.«
Kalter Schweiß brach mir am ganzen Körper aus. Während ich im Geiste immer wieder hinunter zum See gegangen war, hatte ich den Grund dafür vergessen – bis jetzt –, weshalb ich überhaupt wach geworden war. Es war das Gefühl, als ob sich ein Fremder in unserem Schlafzimmer aufhielt. Ich hatte mich sogar aufgerafft und vom Treppenabsatz über das Geländer nach unten geschaut, wobei ich mir vorübergehend sicher gewesen war, jemand habe in einer dunklen Ecke in der Diele gestanden.
»Hey«, Jodie rieb an meiner Brust. Sie legte den Kopf in den Nacken, damit sie mich ansehen konnte. »Du schwitzt wie ein Weltmeister.«
Ich drückte sie erneut und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. »Du hast mich fertiggemacht, Lady.«
Die Party bei Adam und Beth kam Jodie und mir nach all der Arbeit, die wir im Laufe der ersten Woche in unser neues Haus gesteckt hatten, sehr gelegen. Das meiste davon war optischer Natur gewesen – Wände streichen, zerbrochene Fliesen ausbessern und die Steckdosen anbringen, die wie Wackelzähne an den Wänden gehangen hatten – und unsere erste Woche in der Waterview Court 111 war zu Ende, scheckig vor lauter Farbe und mit Blasen an den Händen.
Jodie widmete sich rasch wieder ihrer Promotion und nahm eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin fürs Wintersemester am College an, wo sie dreimal wöchentlich zu tun hatte. Idealerweise hätte ich in ihrer Abwesenheit eine Menge schreiben können … aber um ehrlich zu sein, die Schreiberei hatte sich bei mir schon vor Monaten eingestellt. Meine Notizblöcke quollen zurzeit vor Comictieren über, die es sich gegenseitig in den unmöglichsten Positionen besorgten.
Holly Dreher, meine Lektorin von Rooms of Glass Books, hatte begonnen, gereizte Nachrichten auf meiner Handy-Mailbox zu hinterlassen, um zu fragen, wo die restlichen Kapitel blieben, die ich ihr versprochen hatte. Obwohl ich meine E-Mails seit mehreren Tagen nicht abgerufen hatte, ahnte ich, dass mein Postfach ebenfalls mit ihren aufdringlichen und überängstlichen Nachrichten voll war. Zwei Monate blieben mir noch bis zur offiziellen Deadline, aber so wie es gegenwärtig aussah, erwog ich langsam, ihr etwas aus dem jüngsten Roman von Stephen King zu kopieren und per FedEx zukommen zu lassen.
Gegen Viertel vor sechs trudelten allmählich die ersten Gäste bei meinem Bruder ein, zuerst die Goldings. Sie wirkten duckmäuserisch, kamen geschlossen in Brauntöne gehüllt und brachten einen mit reichlich Alufolie bedeckten Schmortopf mit. Befremdlich lange verharrten sie vor dem Servierwagen, auf dem zu früher Stunde noch kein Alkohol stand, sondern ein Becher Zahnstocher und ein Stapel vom vergangenen Heiligabend übriggebliebener Servietten.
Zehn Minuten später trafen weitere Paare ein. Adam legte eine CD mit Weihnachtsliedern von Elvis Presley auf, und je mehr Gäste sich hinzugesellten, desto mehr ähnelte die Stimmung dem, was man unter einer Party verstand.
»Die meisten Leute hier in der Nachbarschaft sind relativ umgänglich«, bemerkte Adam, während er Drinks für seine Gäste mischte. Wir waren gerade allein in der Küche. »Natürlich gibt es aber wie in jeder Stadt auch hier welche, denen du lieber aus dem Weg gehen wirst.« Er schnitt eine Limette in zwei Halbmonde und fügte hinzu: »Gary Sanduski, zum Beispiel. Wenn er über sein Autohaus erzählt, würdest du dir am liebsten einen Cocktailpicker in den Kopf rammen.«
»Okay. Immer einen kleinen Plastikspieß zur Hand haben.«
»Die Sandersons. Die sind auch ein schräges Duo. Ich wette einen Hunderter darauf, dass er schwul ist. Er leitet ein Raumausstatter-Unternehmen von zu Hause aus, und seine Frau ist Hypothekenmaklerin oder so. Wie dem auch sei: Richtig befreundet sind wir hier mit niemandem. Dennoch wollte Beth die gesamte gottverdammte Nachbarschaft einladen. Sie sagte, es tue unserem Karma gut, und so oder so solltet ihr eure unmittelbaren Nachbarn kennenlernen.« Adam schnalzte mit der Zunge. »Immer der Stratege, meine Frau.«
Die Escobars, die Sturgills, die Copelands, die Denaults, Poans, Lundgards und Mortases; Pater Gregory, der engelsgleiche katholische Priester aus Beths Kirchengemeinde; Douglas Cordova, ein stämmiger Kerl und Adams Polizeikollege; Tooey Jones, der Besitzer der Kneipe Tequila Mockingbird, die Jodie und mir bei unserer Ankunft in der Stadt aufgefallen war. Das Haus meines Bruders verwandelte sich auf wundersame Weise in eine Schaubühne für karierte Leinenhemden und Outdoor-Stiefel, auf der man sich im ländlichen Dialekt unterhielt und frisch nach Gebirgsluft duftete.
Viele meiner neuen Nachbarn bestanden darauf, gemeinsam mit mir anzustoßen. Da ich nicht unhöflich wirken wollte, war ich schon halb voll, als die Männer mich in der Küche bedrängten. Sie waren ohne Ausnahme sympathisch und freundlich auf ihre kleinstädtische Weise, und da ich eine Menge trank, fand ich den Ansturm nicht weiter schlimm.
Im Wohnzimmer unterhielt Jodie die Frauen. Ihre Stimmen hallten laut und schrill über den Flur in die Kochnische.
Tooey schüttete irgendetwas aus einer dunklen Flasche ohne Etikett in Biergläser. Zunächst dachte ich, es sei etwas Hochprozentiges – Bourbon vielleicht –, doch beim Einschenken bildete sich Schaum an der Oberfläche des Getränks. Ein paar der Männer lachten einhellig über Tooeys Bemerkung und einer klopfte ihm auf den Rücken. Als ein anderer versuchte, eines der Gläser vorzeitig wegzunehmen, klopfte Tooey ihm im gespielten Ernst auf die Finger.
»Warte, warte, warte«, sagte Tooey und drückte mir einen der Drinks in die Hand. »Zuerst muss jeder ein Glas haben.«
»Warum hast du nicht auch auf meiner Weihnachtsfeier Barkeeper gespielt, Jones?«, wollte einer der Nachbarn wissen.
»Wäre vielleicht besser gewesen. Hätte sicherlich für mehr Stimmung gesorgt.«
Grölendes Gelächter.
»Komm schon, beeil dich«, drängte ein anderer.
Ich wandte mich zu Adam, den man ebenfalls mit einem Glas der dunklen Flüssigkeit mit Schaumkrone bedacht hatte, und fragte im Flüsterton: »Was ist das für ein Zeug?«
»Tooeys Tonic«, antwortete er.
»Und was soll das sein?«
»Bier.«
»Echt?« Ich hielt es ins Licht. Es war grünlich und ich konnte kleine Partikel am Bodenglas schwimmen sehen. Ich dachte an kichernde Hexen vor einem brodelnden Kessel.
»Die Zusammensetzung ändert sich nahezu wöchentlich«, flüsterte mir Adam ins Ohr. »Er will schon seit Jahren Vertriebshändler dafür begeistern, aber man kann das Zeug bislang nur in seinem Laden kaufen.«
»Sieht aus als sollte es verboten werden«, entgegnete ich vermutlich einen Tick zu laut, denn ein paar der Umstehenden unterdrückten ein Lachen.
»Grün«, proklamierte Tooey, »heilt Krebs. Grün regiert die Welt. Grün ist Gold.«
»Es ist nicht nur einfach grün«, fügte ich an.
Tooey öffnete den Mund und brach in wüstes Gelächter aus. Es sah erzwungen aus, klang aber aufrichtig. Er hatte breite Lippen, aber eingefallene Wangen, und ich erkannte die Plomben in seinen Zähnen, obwohl ich in der anderen Ecke der Küche stand. Seine Kleidung – Flanellhemd, Lederweste und ausgebleichte Bluejeans – schlackerte an seinem Körper, als habe man sie über einen Zaunpfahl drapiert. Das einzig Ansehnliche an ihm waren die Augen – klein, blassblau, aufrichtig, tief, menschlich.
»Der war gut, Shakespeare«, sagte Tooey. Hätte jemand anders mich so genannt, wäre ich an die Decke gegangen, aber dieser Typ – vielleicht lag es an diesen Augen – wirkte so ungezwungen, dass es fast anheimelnd bis zärtlich klang. Wie bei alten Armee-Kumpel, die füreinander Spitznamen haben. »Aber – aber – koste es. Schmecke es.«
Ich setzte das Glas an, nippte kurz und versuchte, mich nicht angewidert zu sträuben. »Uah …«
Tooey lachte wieder. »Und?«
»Köstlich.«
»Komm schon, sei ehrlich.«
»Ich bin neu hier«, erinnerte ich ihn. »Ich weiß nicht, ob ich das tun sollte. Heute Abend wollte ich neue Freunde gewinnen.«
»Komm schon, raus damit!«
Ich verzog das Gesicht. »Es ist grauenhaft. Es schmeckt wie eine Mischung aus Motoröl und Hustensaft.«
»Ahhhh! Du meinst also, ich sollte den Hustensaft reduzieren.«
»Oder das viele Öl«, schlug ich vor.
Nachdem er mich zum Versuchskaninchen erkoren hatte, schickten sich einige der mutigeren Nachbarn an, ebenfalls von Tooeys Gebräu zu kosten. Angeekelte Grimassen überwogen.
»Austrinken, Männer«, gebot Adam neben mir. Er schaute verlegen auf sein eigenes Glas. »Das gehört zur Tradition.«
Ich stellte mir Tooey Jones als durchgeknallten Forscher im Getränkekeller des Tequila Mockingbird vor, wo Reagenzgläser blubberten und rauchende Ampullen an zahllosen Klammern hingen, ein Netz aus Zugrollen und Haken über seinem Kopf, während er seine jüngste Schöpfung zusammenbraute.
Eine Handvoll Männer tauchte in der Küchentür auf, nachdem sie die Frauen im Wohnzimmer allein gelassen hatten – genau zur rechten Zeit, als wir die letzten Tropfen Tooeys Tonic hinuntergewürgt hatten.
Mitchell Denault nickte und trat auf mich zu. »Ich will dich nicht in Verlegenheit bringen.« Ein paar Gefolgsleute harrten hinter ihm aus. »Kannst du dich hierauf verewigen?« Wie ein Glücksspielkönig in Las Vegas, der ein Royal Flush präsentierte, knallte er die Taschenbuchausgabe meines letzten Romans Waterview auf die Anrichte.
Dick Copeland, einer der Typen hinter ihm und von Beruf Anwalt, tastete die Brusttasche seines Oxford-Hemdes ab, vermutlich nach einem Kugelschreiber.
»Verstehe, Adam will sich also seine fünfzehn Prozent am Gewinn verdient machen, indem er die Werbetrommel für meine Arbeit rührt.« Ich nahm das Buch zur Hand und schlug die erste Seite auf. Das Papier war makellos, und auch der Rücken zeigte keine Knicke; das Exemplar war eindeutig erst kürzlich gekauft worden und daher noch ungelesen. Dick holte seinen Stift heraus und überreichte ihn mir nervös wie ein Zehnjähriger beim Vorlegen seiner Zensuren. Ich signierte das Buch und schob es über die Arbeitsplatte, damit sich Mitchell, Dick und sein Gefolge nicht großartig danach ausstrecken mussten.
Gegen zehn Uhr brachen die meisten Gäste auf. Ich schüttelte Hände und setzte ein Lächeln auf, während ich mich von Menschen zum Dinner einladen ließ, die ich immer noch kaum kannte. Ein paar wenige blieben. Die Frauen belagerten immer noch das Wohnzimmer, nur dass sie nun leise redeten, in dieser geheimnisvollen Art, wie nur Frauen es konnten. Die wenigen verbliebenen Männer lungerten in der Küche herum, naschten am Rest des Dips und tranken den harten Alkohol aus.
Ich hatte zu viel intus. Irgendwann im Laufe des Abends war ich abgestumpft, wie es stets in Aussicht stand, wenn man über Gebühr trank. Andererseits wurden die Neugierigen unter den verbliebenen Gästen dadurch erträglicher, und so wie der Abend ausklang, plauderten wir relativ ungezwungen.
Ich ging zum Buffet, um ein paar Reste zusammenzuklauben. Meinen Teller balancierte ich auf einer flachen Hand, während ich ein Fordham-Bier in der anderen hielt.
Neben mir am Tisch stand ein Mann. Er hatte ein zierliches, kantiges Gesicht und dunkle Augen wie Ölflecke hinter dicken Brillengläsern ohne Fassung. Seine Brauen sahen wie Nester aus Stahlwolle aus, und sein Gesicht war von kräftig roten Äderchen durchzogen, die ihn als ausgewiesenen Trinker entlarvten. Ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig.
»Ich glaube, wir wurden einander noch nicht vorgestellt«, begann ich, nachdem ich mein Bier auf dem Buffet abgestellt hatte, und bot ihm die Hand an. Obwohl ich sturzbetrunken war, verspürte ich einen Anflug von Nüchternheit. »Ich bin Travis Glasgow.«
Er erwiderte die Geste. Sein Händedruck war lasch und währte nicht lang. Dieser Mensch mochte es nicht, andere Hände zu schütteln. »Ira Stein. Sie und Ihre Frau sind neu hier, nicht wahr?«
»Ja, wir wohnen erst seit einer Woche in der Stadt. Bis Adam uns erzählte, das Haus der Dentmans stehe zum Verkauf, lebten wir in London.«
»Nancy und ich wohnen gleich nebenan. Selbst jetzt, da die Bäume keine Blätter tragen, sehen Sie unser Haus kaum.«
»Dann gehört Ihnen die Blockhütte am See«, schlussfolgerte ich und dachte an den rauchenden Schornstein an jenem grauen Tag, als ich am Ufer entlang nach Norden spaziert war. »Der Ausblick dort ist fabelhaft.«
Ira nickte fast mechanisch. »Wirklich sehr schön, ja.«
»Ich kann immer noch nicht fassen, dass wir es so billig bekommen haben.«
»Nun, wir heißen Sie und Ihre Frau …«
»Jodie.«
»Wir heißen Sie und Ihre Frau Jodie herzlich willkommen. Die Dentmans waren eine recht eigentümliche Familie, wie Sie vielleicht schon erfahren haben. Nicht dass ich schlecht über diese bedauernswerten Leute sprechen möchte, vor allem nach dem, was ihnen passiert ist, aber dennoch: Sie waren seltsam.«
»Was meinen Sie damit? Was ist mit ihnen geschehen?«
»Ich rede von dem Unglück. Die Sache mit dem Jungen.«
Ich schüttelte den Kopf. Abgefüllt vom Alkohol kam mir ein schiefes Grinsen über die Lippen. »Tut mir leid, aber ich habe keinen Schimmer, worauf Sie anspielen.«
»Den Sohn der Dentmans.« Er zog skeptisch eine Augenbraue hoch.
»Was ist mit ihm?«
»Oh.« Ira starrte zuerst auf seinen Teller, auf dem nur ein paar Olivenkerne sowie ein Fechtdegen nachempfundener Plastikzahnstocher lagen. Dann durch den Raum zu einer dünnen und neurotisch wirkenden Frau. Das musste seine Gattin Nancy sein. Sie lehnte an der Wand und beobachtete die anderen im nunmehr stillen Wohnzimmer beim Plaudern. Derart losgelöst von der Gruppe hätte sie genauso gut eine Lampe oder schmucke Statue auf einem Beistelltisch sein können.
Nancy drehte den Kopf und erwiderte unseren Blick. Ich erwartete ein Lächeln, wurde aber enttäuscht.
»Was ist nun mit den Dentmans passiert?«
»Tut mir leid.« Ira winkte ab. »Ich hätte besser den Mund gehalten.«
»Nein«, beharrte ich. »Was –«
»Wirklich.« Jetzt war er es, der die Hand ausstreckte.
Perplex nahm ich diese nicht sofort an.
»Ich war unachtsam. Denken Sie nicht weiter darüber nach. Mir steht nicht zu, darüber zu reden. Ich entschuldige mich aufrichtig, Travis. Schön – wirklich schön, Sie kennengelernt zu haben.«
Ich sah ihm hinterher. Er gesellte sich zu seiner Frau. Als sie sich unterhielten, steckten sie die Köpfe zusammen, dass ihre Rücken und Hälse symmetrisch gebeugt waren, wie man es bei Verliebten in Zeichentrickfilmen sieht, wo dann normalerweise noch ein Herz zwischen beiden erscheint.
Jodie hastete mit einem Tablett voller Dessertteller an mir vorbei. »Einiges los«, summte sie, ohne stehen zu bleiben.
Ich hörte sie kaum, weil ich zu sehr auf Ira Stein gegenüber fixiert war.
Nachdem alle gegangen waren, rauchten Adam und ich Zigarren auf der Terrasse hinterm Haus. Umgeben von Dunkelheit und dem tiefen Seufzen des Windes in den Kiefern fühlte ich mich enthoben wie nie zu vor. Weit weg von London, D.C. und überhaupt allen Orten, an denen zu leben und alt zu werden ich mir ausgemalt hatte.
»Was ist mit den Dentmans passiert?«, fragte ich ihn.
Adam schaute mich von der Seite an, wobei ich mich auf die Schnelle nicht entscheiden konnte, ob er nun lächelte oder eine finstere Miene aufgelegt hatte. Am Ende war es wohl weder das eine noch das andere. Adam war immer schon ein harter Kerl gewesen. Irgendwie, vielleicht durch kosmische Indifferenz, wusste er immer, was er zu sagen hatte. Nun hatte ich das Gefühl, aus erster Hand eine andere Sicht auf meinen älteren Bruder zu bekommen – verwundbar und zaudernd wie jeder andere Mensch auf dieser Welt.
»Hey«, drängte ich. »Was hat es nun mit diesem großen Geheimnis unter Nachbarn auf sich?«
»Ich nehme an, jemand hat dir vorhin etwas erzählt«, erwiderte er, indem er sich abwandte.
»Ira Stein deutete etwas an, ging aber auf keinerlei Einzelheiten ein. Ihm schien es peinlich zu sein, es erwähnt zu haben. Was ist passiert?«
»Ira Stein«, murmelte Adam, woraus ich schloss, dass er den Mann nicht sonderlich guthieß.
»Komm schon, Mann.«
»Ein alter Einsiedler lebte seit Ewigkeiten in eurem Haus, lange bevor Beth und ich herzogen. Bernard Dentman. Ich weiß nicht, ob irgendjemand unter den Anwohnern ihn genau kannte; nur Ira Stein und seine Frau hatten mehr mit ihm zu tun, bevor er erkrankte. Die Steins leben quasi schon immer hier, wissen also, was sich hinter jeder einzelnen Tür abspielt.« Wieder bezeugte er unterschwellig Abscheu.
»Zu Anfang, als wir gerade hergezogen waren, machten die Nachbarskinder Jacob Angst, indem sie behaupteten, der Kerl sei in Wirklichkeit seit über zweihundert Jahren ein Gespenst und spuke im Haus herum. Schließlich überzeugte ich ihn davon, dass Bernard Dentman ein harmloser alter Mann war. Letztes Jahr wurde er krank, weshalb seine beiden erwachsenen Kinder ihm im Haus Gesellschaft leisteten, David und Veronica.« Adam zögerte. »Die zwei wirkten genauso sonderbar. Veronicas Sohn war etwa so alt wie Jacob, aber keines der Kinder in der Gegend gab sich mit ihm ab oder sah ihn überhaupt, außer wenn er allein auf dem Hof spielte. Elijah hieß er und war geistig ein wenig zurückgeblieben, weshalb er Heimunterricht bekam. Ich denke nicht, dass er irgendwie gestört war, du weißt schon … autistisch vielleicht, aber ist auch egal. Jedenfalls zogen Veronica und David zu ihrem Vater und betreuten ihn, bis er starb.«
Adam zog kräftig an der Zigarre und nahm sie dann aus dem Mund, um die rot glühende Spitze zu betrachten. »Elijah ertrank letzten Sommer im See hinter eurem Haus. Deshalb sind Veronica und David so eilig fortgezogen und haben das Haus in einem erbärmlichen Zustand zurückgelassen. Sie mussten diese Hölle verlassen.«
Ich bekam feuchte Hände und brachte keine Antwort heraus.
»Die Treppe im See hast du vermutlich bemerkt. Diese, die aus dem See kommt.«
Ich nickte. »Wozu ist sie?«
»Ist ein alter Pier für Angler. Vor ein paar Jahren wurde er bei einem Sturm aus der Erde gerissen und trieb hinaus. Niemand weiß, wem sie gehörte, also machte man keine Anstalten, sie wegzuräumen. Im Sommer treffen sich die Kids aus der Nachbarschaft dort, benutzen sie als Sprungturm oder was auch immer. Letzten Sommer spielte Elijah dort.« Adam zuckte wieder mit den Achseln. Wir hätten genauso gut übers Wetter oder die miese Wirtschaftslage reden können. »Nachdem wir den Vorfall mehrmals durchgespielt hatten, kamen wir zu dem Schluss, dass er mit dem Kopf aufgeschlagen und ertrunken war.« Seine Stimme klang nun unheimlich monoton, als bemühe er sich verbissen darum, einen gleichgültigen Eindruck zu hinterlassen. »Jemand hätte ihn beaufsichtigen sollen.«
»Um Himmels willen, warum hast du mir nichts davon erzählt?«
»Weil ich euch die Freude am Umzug nicht verderben wollte. Ich wäre untröstlich gewesen, hätte ich euch mit dieser makabren Sache belastet. Das Haus ist hübsch, die Nachbarn sind angenehm, und was mit dem kleinen Jungen geschah, braucht euch nicht zu interessieren. Ich weiß ja, wie du tickst.« Mit dem abschließenden Seufzer klang Adam wie ein Hundertjähriger.
Erneut dachte ich an unseren Vater. Ich dachte daran, wie er mich nach Kyles Bestattung mit seinem Gürtel verprügelt hatte und dann in sein Arbeitszimmer gegangen war. Ich hatte sein lang gezogenes, lautes Schluchzen durch die geschlossene Tür gehört.
»Was meinst du damit, du weißt, wie ich ticke?«
»Scheiße.« Adam nahm die Zigarre wieder aus dem Mund und schaute sie an, als sehe er zum ersten Mal eine. »Muss ich das Kind wirklich beim Namen nennen?«
Es war nicht notwendig. Ich wusste, dass er sich wegen Kyles Schicksal über Elijah Dentman ausgeschwiegen hatte. Dazu musste ich mein Gehirn nicht zermartern. Dennoch war ich verärgert über seine Überfürsorge. Ich war kein verdammtes Kind mehr. »Denkst du, ich hätte das Haus mit diesem Hintergrund nicht gekauft?«
Er schaute mich an. Sein Blick war stechend. Nüchtern. »Hättest du?«
Enttäuscht schüttelte ich den Kopf und starrte hinaus in die Finsternis. »Manchmal glaube ich, du kennst mich überhaupt nicht.«
»Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Brauchst du nicht.«
»Ich bin dein großer Bruder. Das ist mein Job.«
»Lass es bleiben.« Mehrere Herzschläge lang herrschte bedrückendes Schweigen zwischen uns. »Riecht nach Weihnachten«, durchbrach ich es schließlich, um gleichzeitig das Thema zu wechseln. »Die Luft. Irgendwie rauchig hier.«
»Liegt an den Kiefern.«
»Weißt du noch? Als Kids hatten wir immer einen echten Baum zu Heiligabend.«
»Na klar.«
»Jodie und ich, haben es uns in London angewöhnt, einen aus Plastik aufzustellen. Das hat sich selbst zur Tradition entwickelt. Oder die Tradition ein wenig verfälscht, schätze ich. Ein Fake-Baum …«
Adam kicherte. »Wir haben auch so einen.«
»Sie riechen einfach nicht so.«
»Nicht nach Weihnachten«, bestätigte er.
»Absolut überhaupt nicht«, pflichtete ich bei. »Erzähl Jodie nichts davon, okay? Über den ertrunkenen Jungen, meine ich.«
»Werde ich nicht.«
«Du hast Recht. Es braucht uns nicht zu interessieren.«
»Ich bin froh, dass du mir zustimmst.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter.
Die Schwärze der Nacht vor uns schien die ganze Welt auszumachen. Meinem wie wohl auch Adams Empfinden nach mochten wir die beiden einzigen Menschen im kalten, dunklen Antlitz des Planeten sein.