Teil vier. In die Tiefe

Kapitel 29

Da sind Lichtfäden, die wie Saphire glimmen. Geruhsam vollziehe ich nach, wie die zwölf Finger meiner Hand Schlieren in den Äther zeichnen. Der Ort, an dem ich mich befinde, liegt fernab der bewussten Wahrnehmung. Ich sitze in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, am Küchentisch und schaue meiner Mutter beim Zubereiten von Geflügel mit Erbsen und Knoblauch zu. Dabei summt sie leise vor sich hin und merkt gar nicht, dass ich sie beobachte, denn ich bin ein Geist, ein Schemen oder Schatten. Willentlich begab ich mich auf die andere Seite, tauschte mein heutiges Ich gegen ein früheres ein und beanspruchte einen Platz an der Tafel der ewig Abkömmlichen, auf immer Verdammten.

Getrappel auf dem Holzboden, ein Flüstern wie herabsinkende Spinnweben. Was ist das Entsetzlichste, das du je getan hast?

Ich trotte auf einem Wüstenhighway voran. Über dem kochenden Asphalt wabert die Luft, und bei jedem Schritt bleibt Teer wie geschmolzene Kamellen an meinen Sohlen kleben. Der Blick zum Horizont schmerzt. Wirre Büschel von Unkraut scheinen mitten aus der Fahrbahn zu sprießen, doch beim Näherkommen stelle ich fest, dass es sich in Wirklichkeit um Haare handelt. Menschen liegen unter dem heißen Straßenbelag, und nur ihre Schädeldecken treten wie Rücken von Buckelwalen hervor. Ich kann sie beim Schopf packen und an den sonnenwarmen, spröden Strähnen ziehen. Einem Loslassen, der Kapitulation kommt es gleich, als der klebrige Asphalt aufweicht und die eingesunkenen Leichname aus ihrer Gefangenschaft entlässt. Der Teer schlägt gurgelnd Blasen, stinkt ätzend nach Methan.

Wie sich herausstellt, fehlt jeweils der Rest des Körpers unterm Skalp von den Augenbrauen abwärts. Jedes Mal, wenn die Straße einen freigibt, stolpere ich rückwärts, weil ich zu kräftig ziehe, und falle hart auf den Boden.

Irgendwo, sinne ich, gibt es ein unermessliches, rätselhaftes Meer, in dem Menschen gegen das Ertrinken ankämpfen, während das Farbenspiel auf dem Wasser sie wahnsinnig macht.

Ich wandere auf dem Wüstenhighway und pflücke Kopfhäute vom Boden wie ein Nomade, als seien sie Trophäen.

Gegen Ende der Woche wütete das Fieber seinem Ende entgegen.

Jodie machte gerade den Küchenherd sauber. Sie wirkte überrascht, als ich im Türbogen stand. »Ich wollte dir gerade Suppe kochen.«

Ich trat zu ihr hin, nahm sie in die Arme und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Bald darauf war mein Hals feucht von ihren stummen Tränen.

Dienstags kamen zwei Männer in marineblauen Overalls mit einem Lastwagen, an dessen Seite in grell orangefarbenen Buchstaben von gut einem Fuß Höhe Allegheny Umzugshilfe & Häuserräumung prangte.

»Was ist das?«, fragte der dickere der beiden. »Eine Art Geheimgang?«

Ich schaute zu, wie sie Elijah Dentmans Sachen heraustrugen, sein Bücherregal, den Schreibtisch, die Spielzeugtruhe und das Bettchen. Mit einigen Kisten half ich ihnen. Während ich sie auf die Ladefläche schob und sich das Zimmer im Keller zusehends leerte, stellte sich Erleichterung ein.

»Wohnt Ihr Kind hier unten?«, wollte der andere Möbelpacker wissen. Weil ich ihm nicht antwortete, vermutete er bestimmt das Schlimmste, den Rest der Stunde arbeiteten sie in aller Stille weiter.

Nachdem sie aufgebrochen waren, schaute ich eine Weile in den leeren Raum. Es kam mir vor als blicke ich in meinen Sarg. Als Jodie neben mir auftauchte, fragte ich mich, ob sie genauso empfand – oder sah sie ebenfalls meinen Sarg? Sie streichelte meinen Rücken und reichte mir mit der anderen Hand einen heißen Tee, ehe sie meine Stirn befühlte, um sich zu vergewissern, dass das Fieber nicht wieder schlimmer geworden war. War es nicht.

Während sie das Loch gern versiegelt hätte, kam mir eine bessere Lösung. Ich riss die Wände, diese schmucklosen Gipsplatten, allesamt ein. Vor allem wegen derjenigen mit dem graugrünen Handabdruck war ich besonders froh darüber. Am Ende war ich völlig in weißen Staub gehüllt. Jodie lachte und behauptete, ich sähe aus wie ein Pantomime.

Über das, was passiert war, nachdem mich die Cops an jenem Tag zu Hause abgesetzt hatten, redeten wir nicht. Zwei Wochen war es mittlerweile her. Das Bild ihres Ehemannes, der die Treppe mit der Axt kurz und klein schlug, hatte sich gewiss für lange, lange Zeit ins Gedächtnis meiner Frau eingebrannt, doch sie schaffte es alles hinter sich zu lassen, und liebte mich wieder. Es war eine fürchterliche Erfahrung, die notwendig gewesen war. Die Offenbarung jenes Tages hatte mich zurück auf den Boden der Tatsachen geholt, und genau dies hatte ich gebraucht. Ich brauchte Gewissheit, ob ich recht oder unrecht hatte.

Ich hatte unrecht.

Nachdem ich den Kellerraum gesäubert hatte, nahm ich meine Notizbücher – diejenigen mit dem unvollendeten Fragment von Elijah Dentmans mutmaßlichem Schicksal – und verstaute sie in einem meiner Koffer. Ich hab es versucht, Kleiner, beteuerte ich. So sehr, dass ich einer Sache hinterherhetzte, die gar nicht da war. Und in diesem Moment wusste ich nicht genau, ob ich mit Elijah oder meinem toten Bruder Kyle redete.

Ja, es war ein Brustkorb gewesen. Und ich hatte ihn fasziniert angestarrt, völlig verblüfft ob meiner Vorahnung, dass ich richtig lag; ich lag richtig; ich lag richtig, meine Arbeit war getan, und meine Schreibarbeit war getan, und der Junge gerettet. Ich hatte ihn gerettet. Ich hatte es geschafft, ihn gefunden, ihn gesühnt.

Adam war aus dem Wasser auf die Treppe geklettert und hatte dabei zweimal fast das Gleichgewicht verloren. Als er mich erreichte, schlang er die Arme um mich und drückte meinen Körper an sich. Dabei merkte ich, wie schwer er Luft holte, und sein Atemhauch wirkte heiß an meinem halb erfrorenen Hals.

»Sieh hin«, verlangte ich, ohne mir die Mühe zu machen, mit dem Finger nach unten zu zeigen.

Adam hatte bereits hingeschaut und schwieg. Lange Zeit ließ er auf sich warten, dann sagte er endlich: »Es … es sieht aus wie … ist es …?«

»Ja«, bestätigte ich.

Er flüsterte mir leise ins Ohr: »Woher wusstest du es?«

»Keine Ahnung«, gab ich zu. »Ich kam einfach darauf. Gerade eben.«

»Aber wie?«

Ich drehte ihm den Kopf zu. Sein Gesicht befand sich nun dicht vor meinem »Ein Geist. Ich glaube, ein Geist hat es mir gesagt.«

Adam wirkte verwirrt und beklommen, aber irgendwie auch erleichtert.

»Ich bin nicht verrückt«, bekräftigte ich dann.

Adam blickte in den Schacht, den das hohle Treppengerüst bildete. »Schau!«

Verblüfft sah ich noch etwas auftauchen – mehr Knochen, aber nicht nur das: Es war ein zweiter Torso.

»Adam …« Die Stimme klang gequält, meine Kehle war wie zugeschnürt, ich konnte mich nicht richtig artikulieren.

Wir beide standen da und schauten zu, wie zahllose Knochen an die Oberfläche drängten. Sie wippten auf und ab wie Äpfel in einem Wasserfass, bis sie die gesamte Öffnung ausfüllten. Auch Schädel befanden sich darunter. Winzige Schädel.

Über all dies dachte ich nach, schloss meinen Koffer und kehrte nach oben zurück, wo ein nettes Abendessen auf mich wartete.

Tiere. Tierknochen. An einem der größeren Skelette hing sogar noch ein Hundehalsband, dessen Leder schwarz und schleimig, im schwachen Licht blinkte matt die Messingplakette mit dem Namen, es reichte, um ihn lesen zu können: Chamberlain.

»Warte«, sagte Adam. »Was ist das hier?«

»Das Massengrab von Elijahs Schoßtieren«, entgegnete ich, ehe ich auf den Stufen zusammenbrach, zu schwach, um mich noch auf den Beinen zu halten.

Mit einer Hand packte Adam mich an der Schulter, bewahrte mich davor kopfüber ins schwarzkalte Nass zu kippen.

In dieser Nacht kam Jodie zurück nach Hause. Ich versprach ihr, dass ich damit fertig war und alles hinter mir lassen würde. Etwas in ihr brach, und als sie in meinen Armen weinte, war ich zuerst entsetzt, doch je länger ich sie hielt, ihr Beben und Schluchzen an meiner Brust spürte, wurde ich zuversichtlicher, dass sie okay war. Sie musste sich ausheulen, also ließ ich sie. Außerdem wurde mir bewusst, dass ich meine Frau schon ewig nicht mehr gehalten hatte.

(Zwei Nächte nach dem Vorfall ging ein schweres Unwetter über der Stadt nieder und zerstörte die Reste der Konstruktion im See. Am Morgen war nichts weiter übrig als ausgebleichte Holzbohlen, die die Sturmwellen ins froststarre Schilf gespült hatte.)

Ich legte eine mehrtägige Schreibpause ein, teils weil mich die Grippe, die ich mir beim Hacken im beinahe null Grad kalten Wasser eingefangen hatte, nachträglich schwächte, aber am meisten wegen Jodie, der ich diese Zeit schuldig war. Wir schliefen mehrere Nächte in Folge miteinander und gingen zusammen ins Kino wie ein verliebtes High-School-Pärchen und ich half ihr bei der Reinschrift ihrer Dissertation. Zum Valentinstag schenkte ich ihr Blumen und Schokolade, sie mir überbackene Makkaroni, mein Lieblingsessen. Wir schauten uns bis in die frühen Morgenstunden alte Woody-Allen-Streifen an. In den Wochen nach meinem Nervenzusammenbruch auf der Treppe war alles perfekt.

Dann rief mich eines regnerischen Nachmittags Earl an und sagte: »Junge, Sie sind ein verdammtes Genie.« Und alles ging von vorne los.







Kapitel 30

Als ich in Tooeys Kneipe aufkreuzte, hatte sich der Nieselregen zu einem gleichmäßigen Prasseln ausgewachsen, das Krater in den grau werdenden Schneehaufen an der Hauptstraße hinterließ.

Am vorangegangenen Tag hatte ich mich mit Earl vor seinem Wohnmobil getroffen, wo er mir mit kindlicher Freude einen käsegelben und mit Packband verklebten Umschlag aushändigte. Von innen drang Gebell.

»Ich kann nicht fassen, dass es funktioniert hat.« Ich wog den Umschlag in der Hand. Es hatte lange gedauert, wobei ich ohne Erwartungen war, es könne überhaupt zu etwas führen.

»Ich gab mich, wie Sie es mir rieten, als Gewerkschafter aus, und wir bräuchten Papierkram für eine bevorstehende Finanzprüfung.« Der alte Mann grinste wie jemand, der ein großes Geheimnis lüftete. Wäre er nur ein wenig jünger, würde er zweifellos auf seinen Fußballen federn. »Sie haben es mir abgekauft.«

»Das gibt‘s ja nicht«, sagte ich. »Hören Sie, ich weiß, dass Sie Journalist sind. Ohne Ihnen nahetreten zu wollen: Besteht irgendeine Chance, dass Sie –«

Er schnitt mir das Wort ab. »Ich werde nichts davon abdrucken, bis ich Ihre Rückmeldung habe.«

»Vielen Dank.« Ich schaute gedankenverloren auf den Umschlag.

»Sie wissen, was das bedeutet«, sagte Earl leise.

»Natürlich«, erwiderte ich. Es war uns beiden klar. »Natürlich …«

Nun ging ich über die Sägespäne am Boden des Tequila Mockingbirds zu einem Tisch im hinteren Bereich. Von meinem Stuhl aus hatte ich die Tür im Auge. Die Jukebox spielte einen melancholischen Country-Song, der manchen Gast an der Theke die Schultern hängen ließ. Der Regen trommelte aufs Blechdach und strömte an den Fensterscheiben herunter. Das Etablissement wirkte deprimierend leer – gleich einem von Vandalen geschändeten Grab. Ich schaute auf meine Armbanduhr.

Tooey Jones kam an den Tisch, mit einem Tuch polierte er ein Glas. »Eine der wenigen verlorenen Seelen, die es wagen, dem Regen zu trotzen«, grüßte er. »Was darf es sein?«

Ich orderte ein Glas Wasser, das ich hinunterstürzte, kaum dass er es gebracht hatte, sowie einen Gin Tonic (um niemanden skeptisch zu machen). Allerdings blieb er unberührt neben dem Umschlag, den ich von Earl bekommen hatte, auf dem Tisch stehen. Der alte Country-Song verklang und aus der Jukebox kam etwas von Charlie Rich. Gegenüber im Raum wirkten die gerahmten Motive von Lieder der Unschuld und Erfahrung unpassend – irrationale Schreckbilder, die irgendwie in einen ansonsten banalen Traum eingedrungen waren. Meine Augen blieben auf den Replikaten von Der kleine Junge, verlorengegangen und Der kleine Junge, gefunden hängen.

Als Adam eintraf, klebte sein Haar nass vom Regen am Kopf, und er hauchte sich in die Fäuste, um sie zu wärmen. Nachdem er am Tresen ein Bier bestellt hatte, kam er an den Tisch und nahm mir gegenüber Platz. Er trug keine Dienstkleidung – Kakihosen, ein aus der Mode gekommener American-Eagle-Sweater, hüftlangen Mantel mit Ärmelbund beziehungsweise Kragen aus Cord – und sah erschöpft nach einem langen Tag aus.

Ich versuchte, so gelöst wie möglich zu wirken.

Unter dem Vorwand, mich nach brüderlicher Geselligkeit zu sehnen, hatte ich Adam am Morgen angerufen und gebeten, nach der Arbeit ein paar Bier im Mockingbird mit mir zu trinken. Earls Umschlag – er klemmte unterm Tisch zwischen meinen Knien – hatte ich nicht erwähnt, geschweige denn den Inhalt. Ich sah vor, es ruhig angehen zu lassen und meinen Bruder mit Small Talk bei Laune zu halten; vielleicht ging auch der Rest meines Planes auf.

Gerade als Jodie und ich die Krise, oder einfach, wie ich es beschönigte, die missliche Sache – meinen Zusammenbruch auf dem Treppengestell – überwunden hatten, schienen die Spannungen zwischen Adam und mir ebenfalls aufgehoben. Ob es natürlich eingerenkt oder Heuchelei war – wir verstanden uns wieder als Brüder. (Unnötig zu erwähnen, dass ich eines wusste: Meine Absichten an diesem Abend – nicht zu vergessen, was auf meinem Schoß ruhte – mochten zerstören, was wir wiederaufgebaut hatten, obwohl ich es nicht darauf anlegte. Wäre ich, was den Inhalt des Umschlags anging, unsicher gewesen, hätte ich ihn bereits zu Hause ins Feuer geschmissen und die Dentmans im Beisein meines Bruders nie wieder erwähnt.)

»Du siehst gut aus«, meinte Adam über den Rand seines Bierglases. »Wie geht es dir?«

Wir hatten die Erkältung beide ausgesessen – er war auch krank geworden, nachdem er mir an jenem Nachmittag auf die schwimmende Treppe gefolgt war –, und ich saß nun frisch rasiert und mit geschnittenen Haaren vor ihm.

»Besser«, behauptete ich. »Kräftiger.« Kurz befürchtete ich, er bemerke die Unsicherheit, die unterschwellig in meinem Tonfall mitschwang.

Fünf Minuten später – genau zur richtigen Zeit – ging die Tür der Kneipe mit einem Knall auf, und David Dentmans breitschultriger Umriss baute sich im Rahmen vor dem stürmischen, eisern blaugrauen Himmel draußen ab. Als er sich in den Raum schob, tropfte Regenwasser auf den Boden, und der dicke Cordmantel, den er trug, ließ seinen bulligen Körper noch imposanter erscheinen. Er schlug die Tür hinter sich zu, doch abgesehen von meinem Bruder und mir schenkte ihm niemand Beachtung.

Adam sagte zuerst nichts, schaute mich nicht einmal an. Allerdings wartete ich auch gar nicht darauf, weil ich zu sehr auf Dentman fixiert war.

Als er mich von der gegenüberliegenden Wand aus sah, kam es mir vor, als stünde ich im Kegel eines Suchscheinwerfers auf einem Gefängnishof. Sein Gesichtsausdruck war der gleiche wie an dem Tag, als er nach Hause kam und bei seiner Schwester auf mich gestoßen war; er sah aus wie ein Topf auf dem Herd, der allmählich zu köcheln anfing.

»Travis«, sagte Adam, allerdings leise. Er schaute immer noch über seine Schulter.

»Er wird sich mit mir prügeln wollen«, entgegnete ich rasch, bevor Dentman unseren Tisch erreichte.

Vor dem unbesetzten Stuhl blieb er stehen. Falls er meinen Bruder erkannte und dessen war ich mir ziemlich sicher, ließ er es sich nicht anmerken. Sein finsterer Blick galt allein mir, dabei zerknüllte er einen gefalteten Zettel in der Faust.

Den musste ich mir nicht genauer betrachten: Mir war klar, dass es sich um den Brief handelte, den ich an meinem Word-Computer ausgedruckt und danach in einen einfach weißen Geschäftsumschlag gesteckt hatte. Am Abend zuvor war ich zum Haus der Dentmans nach West Cumberland gefahren und hatte das Schreiben durch den Briefschlitz in der Tür geschoben, geklopft und mich schnell zurück in den Wagen verkrochen, um rückwärts vom Gelände zu fahren. Bis zu diesem Moment hatte ich stark bezweifelt, dass Dentman auftauchen würde. Wegen dem, was ich in diesem Brief geschrieben hatte …

»Was soll das?« Seine Frage schien tief aus der Brust heraus zu kommen. Ich würde sagen, dass seine Stimmung die meines Bruders widerspiegelte, der schwieg.

»Hinsetzen«, sagte ich zu Dentman.

»Travis.« Adam hatte seine Stimme wiedergefunden, wenn auch nur halb.

Dentman zog den freien Stuhl heraus und ließ sich langsam darauf nieder. Er behielt beide Hände unterm Tisch, und ein verschwommener Gedanke durchkreuzte mein Hirn: Hatte er eine Waffe dabei? Ich war ziemlich sicher, dass Adam seine mit sich führte, auch außer Dienst, weil er dies gewohnheitsmäßig tat – aber würde er schnell genug reagieren können, falls Dentman versuchte, mir eine Kugel in den Kopf zu jagen?

»Was wird hier gespielt, Travis?«, wollte Adam wissen.

Dentman musterte ihn. Er hatte sicherlich angenommen, mein Bruder wisse Bescheid, und wir seien zu zweit gekommen, um im Vorteil zu sein. Aber das war nicht der Fall.

»Es dreht sich hierum«, erklärte ich beiden, indem ich den käsegelben Umschlag auf den Tisch legte. »Das habe ich gefunden.« Ich wandte mich Adam zu. »Du kannst damit tun, was du willst; ich bin ab heute aus allem raus.« Im Gedanken an meine Ehe fügte ich hinzu: »Ich muss.«

»Es war also ein Fehler, keine Anzeige gegen dich zu erstatten«, sagte Dentman. Sein Gesicht rot vor Wut.

Ich schob Adam den Umschlag zu und versuchte ruhig weiterzusprechen. »Du hast mich letzten Monat auf etwas gebracht: Kein Mord geschieht ohne Motiv, und wer unschuldig ist, hat ein Alibi. Man kann niemanden hinter Gitter bringen, solange die Faktenlage dagegenspricht.«

»Travis …« Adam klang so verzweifelt, dass ich ein flaues Gefühl im Bauch bekam. Mit der sachlichen Wahrnehmung eines Hellsehers wusste ich, dass ich sein Herz brach.

»Mach ihn auf«, verlangte ich.

Er nahm den Umschlag, öffnete ihn aber nicht gleich.

Dentman rutschte auf dem Stuhl herum, ich dachte, er würde gleich aufstehen und schnurstracks die Bar verlassen. Aber er blieb sitzen, und ich konnte seinen Zorn beinahe sehen, wie die Hitzewellen von seinem Kopf ausströmten.

»Mach schon«, drängte ich Adam.

Adam schob den Daumen unter das Klebeband und riss die Lasche auf. Auf den Tisch rutschte ein Stoß Papiere, die eine Büroklammer zusammenhielt. Er zupfte am oberen Blatt und lugte darunter, um den Rest der Ausdrucke ins Auge zu fassen. »Was ist das?«

»Das ist ein Dienstplan, eine Anwesenheitsliste der Baufirma, bei der du arbeitest.« Ich sprach Dentman direkt an. »Dir wird auffallen, dass das Datum auf der ersten Seite das des Tages ist, an dem Elijah angeblich ertrank.« Ich beugte mich über den Tisch und fuhr mit dem Finger die Spalte ab, die ich markiert hatte. »Das sind Dentmans Stunden.«

»Wo hast du das her?«, fragte Adam.

»Egal. Wichtig ist, was da steht.«

»Ich muss nicht hier sitzen und mir das anhören«, stellte Dentman klar, machte aber keine Anstalten, aufzustehen.

»Du kannst nicht zu Hause gewesen sein, als dein Neffe verschwand, weil du gearbeitet hast. Um Viertel nach sechs hast du ausgestempelt, und der Firmenjob, befand sich dreißig Meilen weit weg, also hättest du bestenfalls um halb sieben zu Hause sein können, und das auch nur, wenn du zu schnell gefahren wärst. Ich schätze, es wurde wohl Viertel vor sieben, was erklären würde, weshalb du die Polizei erst so spät eingeschaltet hast.«

»Das ist Bullshit«, stieß Dentman zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Bullshit ist nur deine Aussage gegenüber der Polizei.«

Ich nahm die Artikel aus der Tasche, die ich in der Bibliothek gestohlen hatte, und legte sie aufgefaltet auf den Tisch. »Nancy Stein will gegen halb sechs einen Schrei oder was auch immer gehört haben.«

»Als der Junge die Treppe hinunterfiel«, ergänzte Adam beim Durchsehen der Dokumente.

»Ich glaube nicht, dass er von ihm herrührte«, wandte ich ein, »sondern in Wirklichkeit von Veronica, die unten am Ufer war.«

Dentman stand auf. »Du Hurensohn.«

»Du hast selbst betont, in der Nacht auf dem Friedhof, dich für niemanden verantwortlich zu fühlen, außer für deine Schwester. Du lässt nicht zu, dass ihr etwas geschieht, und deshalb hast du die Polizei damals belogen. Du hast sie gedeckt.«

Dentmans Brust hob und senkte sich, hob und senkte sich … Obwohl er gegenüber am Tisch stand, erreichte mich sein heißer Atem. »Du weißt gar nichts.«

Ich richtete mich an meinen Bruder. »Die Papiere belegen es.«

Ganz langsam senkte Adam die Kopien. Sein Gesicht war blass. Er sagte nichts.

»Ich werde jetzt verdammt noch mal gehen.« Dentman drehte sich um.

»Halt«, rief Adam ihm nach.

Erstaunlicherweise blieb Dentman tatsächlich stehen. Seine Hände zitterten. Sein Profil ähnelte etwas am Bug eines Piratenschiffes.

»Stimmt das?«, fragte Adam ihn.

»Scheiße. Ich hatte es nicht nötig, herzukommen.«

»Würden Sie bitte wieder Platz nehmen?«

»Ich muss Ihre gottverdammten Fragen nicht beantworten.«

Jetzt stand Adam auf. »Sie müssen mit mir auf das Revier kommen, Mr. Dentman.«

»Ich habe keine Zeit für so etwas.«

»Das war keine Bitte; wir gehen aufs Revier.«

»Ich will, dass er in den Bunker wandert«, erwiderte Dentman mich anstarrend. Seine Augen glichen Schlitzen, die man in roten Stoff – seine Gesichtshaut – geschnitten hatte. »Der Hurensohn soll wegen Belästigung einsitzen.«

Ich raffte die Blätter vom Tisch auf und erhob mich. »Bestens, dann fahren wir alle in die Stadt.«

»Du Scheißkerl!« Dentman stürzte sich auf mich und warf dabei den Tisch um.

Ich sprang zurück, als eine seiner Stahlfäuste wie eine Abrissbirne auf mich niederfuhr; der Wind, den er dabei machte, blies mir glatt das Haar von der Stirn. Ich bereitete mich auf einen zweiten Hieb vor, da Dentman gleich wieder ausholte. Gerade als er zuschlagen wollte, stürzte sich Adam auf ihn und verschränkte ihm eine Hand hinterm Rücken und warf sich mit vollem Gewicht gegen den wuchtigen Mann. Dentmans zweiter Angriff schlug fehl, er ging vorwärts auf die Knie.

Adam schrie etwas Unverständliches und stemmte sich von oben gegen Dentmans Schulter, als befürchte er, der Brocken könne davonfliegen. »Unten bleiben. Keine Dummheiten.«

Dann sah ich Handschellen. Die geriffelten Manschetten ratterten im Kreuz des Mannes.

Tooey stürmte hinterm Tresen hervor. »Was ist los?« Er hielt inne, als er die Handschellen sah.

»Aufstehen«, befahl Adam Dentman von hinten.

Zuerst bewegte er sich nicht. Als mich seine Augen wie zum Duell herausfordernd fixierten, vibrierten seine geröteten Wangen sichtlich, rechnete ich damit, dass wir alle so verharren müssten, bis der Weltuntergang hereinbrach und uns zu Staub zerbröseln ließ. Dann aber stützte Dentman einen Fuß auf den Boden und stand auf, wobei Adam ihm half.

Tooey bewegte sich als Nächstes; er eilte herbei und stellte den umgeworfenen Tisch wieder auf.

Adam drehte sich um und führte David Richtung Tür. »Gehen wir, Travis«, sprach er, ohne mich anzuschauen. »Los.«

Ich bückte mich nach den Kopien des Bauunternehmens und steckte sie zurück in den Umschlag. Während Tooey die Stühle am Tisch zurechtrückte, entdeckte ich noch etwas – die Nachricht, die ich in Dentmans Briefschlitz gesteckt und die er zerknüllt in der Faust mitgebracht hatte. Ich nahm sie ebenfalls mit.

Darauf stand:

David, komm morgen gegen siebzehn Uhr nach Westlake ins Tequila Mockingbird, oder Veronica wandert in den Knast.

Ich hatte sie nicht unterschreiben müssen.

Nachdem ich den Zettel in die Gesäßtasche meiner Jeans geschoben hatte, folgte ich Adam und David hinaus in den Regen.



Kapitel 31

Wie sich herausstellte, fungierte Strohmans Büro tatsächlich auch als Verhörzelle, wenngleich nur dann, wenn die eigentliche besetzt war. An jenem Abend führten zwei Uniformierte David Dentman in den wenig einladenden Verschlag, wo ihn Paul Strohman höchstpersönlich erwartete.

Vom Mockingbird bis zur Polizeistation waren wir nur vier, fünf Minuten gefahren, obwohl es mir fast wie eine halbe Stunde vorgekommen war. Adam hatte Dentman auf den Rücksitz gezwungen und mich dazu angehalten, vorne Platz zu nehmen. Nachdem er eingestiegen war, hatte Adam den Schlüssel umgedreht, dann Blaulicht und Sirene eingeschaltet. Geredet wurde nicht, bis wir auf dem Parkplatz vor der Wache eintrafen, wo Adam leise »Steig aus« zu mir sagte.

Als ich nun auf dem Flur vor Strohmans Büro saß, hörte ich, wie einer der Beamten Dentman seine Rechte vorbetete. Jedes Mal, wenn Adam an mir vorbeiging, versuchte ich halbherzig, aufzustehen und nicht fehl am Platz zu wirken, doch stets deutete er mir, ich solle sitzenbleiben, also blieb ich sitzen.

Einer der beiden Uniformierten kam heraus. Er wirkte perplex, mich zu sehen, seine Augen traten komikhaft hervor. Es war offensichtlich, dass ich hier nichts verloren hatte. Jemand anders kam vorbei und reichte mir wortlos einen Becher Kaffee.

Zwei weitere Beamte erschienen am Ende des Flurs. Sie führten Veronica Dentman her, ein wandelndes Gerippe. Sie trug ein zerschlissenes Baumwollnachthemd in verwaschenem Rosa und ansonsten nur noch ein Paar verschmutzte Socken. Sie führten sie wie Krankenpfleger einer Psychiatrie den Gang entlang. Die wirren Haare hingen in filzigen Strähnen in ihr ausgemergeltes Gesicht, und die Augen waren eingesunkene Gruben in der Mitte ihres Schädels. Als sie passierten, machten ihre Socken ein kratzendes Geräusch auf dem Brandschutzteppich. Ich roch die strenge Note von ungewaschener Haut.

Ich fuhr auf wie vom Blitz getroffen und verschüttete dabei fast den Kaffee. Hinter ihnen zog etwas einher, ich fühlte mich von einer Präsenz gestreift – beinahe greifbar, beinahe sichtbar. Kalt wie der Keller von Waterview Court 111. Es beschwor den Gedanken an abgestorbenes Herbstlaub und ungeölte Türscharniere in heimgesuchten Häusern herauf.

Die Bürotür öffnete sich und ich erhaschte einen Blick auf mehrere Personen – darunter auch David Dentman –, bevor Strohman sie rasch hinter sich zumachte. Er hielt den Dienstplan mit der Anwesenheitsliste in der Hand, die jetzt am Rand mit messingfarbenen Heftklammern zusammengehalten wurde. Als er mich dort stehen sah, musste er zweimal hinschauen, wobei die Gummisohlen seiner Schuhe auf dem Linolboden quietschten. »Sagte ich Ihnen nicht, Sie sollten sich aus meiner Arbeit heraushalten?« Er hielt mir die zusammengehefteten Papiere vor.

Bevor ich wusste, wie ich antworten sollte, machte er auf dem Absatz kehrt und schritt den Flur hinunter in ein anderes Zimmer, wo er barsch nach Kaffee verlangte.

Als Adam zurückkehrte, begleitete ihn ein zweiter Beamter, der eine Skimütze und eine Jacke der Redskins über seiner Uniform trug. »Das ist Officer McMullen«, stellte mein Bruder ihn vor. »Er wird dir ein paar Fragen stellen.«

»Ich glaube, euerem Chef wäre ich schweigend lieber«, bemerkte ich.

»Nennen Sie mich Rob«, bot McMullen an, statt auf meine Worte einzugehen. Er hatte hohle Wangen und Augen wie graues gesplittertes Eis. Dabei wirkte er jung genug, um noch den Geruch der Gebärmutter an sich zu haben. »Möchten Sie mehr Kaffee? Nein? Reden wir am Automaten weiter, ja?«

Ein Rundtisch mit Stühlen, die am Boden mit Stahlschrauben fixiert waren, stand unten im Flur. Der Kaffeeautomat dahinter sah aus, als sei er seit dem Vietnamkrieg nicht mehr erneuert worden.

Wir setzten uns und McMullen zog einen Spiralblock aus der Brusttasche seines Hemdes. Über jede Frage, die er mir stellte, schien er sich eine Menge Gedanken zu machen, wobei es in erster Linie darum ging, wie ich an die Dokumente der Baufirma gekommen war. Ich antwortete so wahrheitsgemäß wie möglich, ohne Earl Parsons Namen preiszugeben. McMullen schien sich ohnehin nicht dafür zu interessieren; stattdessen sorgte er sich um die rapide abstumpfende Spitze seines Bleistiftes.

»Sie schreiben Bücher, nicht wahr?«, lautete seine abschließende Frage.

»Was hat das hiermit zu tun?«

McMullen zuckte mit den Schultern und schaute gelangweilt. »Habe es einfach mitbekommen. Bisher bin ich niemandem persönlich begegnet, der Bücher schreibt.« Während er seine Notizen durchsah, fügte er hinzu: »Außer einmal in Philadelphia, wo Pamela Anderson ihre Bücher signiert hat. Sie ist umwerfend, in natura. Sind Sie ihr mal über den Weg gelaufen bei Schriftsteller-Messen oder zu was ihr Typen so geht?«

Ich verneinte.

»Mhm. Schade. Sie ist die verdammt heißeste Braut, in Person. Wirklich … ich meine, manchmal, du weißt schon, sind die … « Er machte eine schlaffe Handbewegung zum Zeichen der Enttäuschung über andere Prominente, denen er vermutlich in der Vergangenheit begegnet war.

»Verdammt riesige Titten.«

»Stehen die Dentmans unter Arrest?«

»Sie werden verhört.«

»Aber offiziell festgenommen hat man sie nicht?«

»Schon mal ein Verhör mitverfolgt?«

»Nein.«

Mit einem Grinsen so breit wie der Kühlergrill eines Sattelschleppers sagte Rob: »Kommen Sie.«

Nachdem wir ein Labyrinth sägemehlfarbig gestrichener Gänge hinter uns gelassen hatten, standen wir vor einer geschlossenen Metalltür mit kleiner Scheibe aus Rauchglas. Sie sah aus wie der Einstieg zu einem U-Boot. McMullen summte eine Melodie, die wie der Titelsong der Muppet Show klang, und tippte einen Code ins Zahlenschloss. Dann öffnete er die Tür und zog sie ein Stück weit auf, ohne mich hineinzubitten. Stattdessen betrachtete er seine Fingernägel, bis ich eintrat. Dann folgte er mir und schloss die Tür, ohne sein Summen zu unterbrechen.

Außer uns war niemand im Raum, welcher kleiner und finsterer war als die Dunkelkammer eines Fotografen. Zwei Klappstühle standen vor einer breiten Glasscheibe, die auf der anderen Seite verspiegelt war. Dort – in einem fensterlosen Zimmer, das ungefähr die Maße von Strohmans Büro hatte – saß Veronica am Ende eines gemeißelten Holztisches. Den Beamten, der ihr gegenüber saß und in sein Notizbuch schrieb, erkannte ich als Officer Freers wieder.

»Nur zu.« McMullen nickte zu den Klappstühlen. »Nehmen Sie Platz.«

»Können sie uns hören?«

»Nö«, sagte er, es klang als hätte er Kaugummi im Mund.

Freers Fragen waren obligatorisch – Veronicas voller Name, Geburtsdatum, Sozialversicherungsnummer (die sie nicht wusste), Adresse, Telefonnummer (welche sie nicht hatte), und ihren Beruf (dito Telefonnummer).

»Ist es möglich, David Dentmans Befragung anzuhören?«, fragte ich Rob nach einer Weile.

»Er sitzt im Büro des Chefs.« Damit wollte er mir wohl zu verstehen geben, dass es tabu war, dort zu lauschen.

Freers stand auf und verließ das Zimmer, um kaum eine Minute später mit einem Plastikbecher Wasser zurückzukehren, den er vor Veronica abstellte. Als sie den Kopf senkte, um ihn zu betrachten, fiel ihr das struppige Haar ins Gesicht und einiges davon wie Teebeutel in den Becher.

Das Zahlenschloss klickte und die Metalltür sprang auf. Ein Streif Neonlicht vom Gang zerschnitt die Dunkelheit des Raumes. Zwei oder drei Personen schlurften schweren Atems herein, und mit einem Mal stank es nach schlechten Zähnen und abgestandenem Schweiß. Zwei wuchtige Leiber schoben sich seitlich hinter die Stühle, während der dritte Mann neben McMullen stehen blieb. Die beiden hinter mir fingen zu flüstern an. Ich glaubte, einen Furz auf dem Metall eines Klappstuhls zu hören.

»Wir werden Ihnen Fragen zu dem Tag stellen, an dem Ihr Sohn ertrunken ist«, kündigte Freers Veronica an.

Sie sagte nichts.

»Womit würden Sie gerne beginnen?«, fragte Freers.

Sie schwieg weiter.

»Wir brauchen Ihre Aussage von –«

»Ich habe geschlafen«, gab sie automatisch an. Ihre Stimme klang durch die Lautsprecher, die an beiden Seiten der Spiegelwand angebracht waren, sehr leise.

»Dann fangen wir an dem Punkt an, als sie noch wach waren. Woran erinnern Sie sich zuletzt?«, versuchte es Freers.

»An heftige Kopfschmerzen«, erwiderte sie. »Dann habe ich geschlafen.«

»Verdammt schaurig«, bemerkte einer der Männer hinter mir. »Wie ein Roboter oder so.«

»Besessen«, meinte sein Partner. »Wie in dem Film, wo in der Kleinen der Teufel steckte«

»Der Exorzist?«

»Nein, ich meinte den neuen.«

»Wenn du mich fragst, hat ihr jemand eine Gehirnwäsche verpasst.«

Ich versuchte, ihr Gerede auszublenden, beugte mich nach vorn und konzentrierte mich. Freers versuchte vergeblich, sie mit einer anderen Herangehensweise zum Reden zu bringen.

Der dritte Polizist, der neben McMullen, stand dicht genug vor dem Spiegel, um seinen Atem an der Scheibe zu hinterlassen. »Komm schon, Freers«, murmelte er. »Gib es gleich auf.«

Einer der beiden Paviane hinter mir stimmte die Melodie von Twilight Zone an.

Als hätte sich die Bitte durch die Wand übertragen, legte Freers seinen Stift nieder und ließ sich seufzend auf seinem Stuhl zurücksinken. Eine Reihe trockener Knackgeräusche dröhnte durch die Boxen, die entweder von der Sessellehne oder seinem Rücken herrührten. Den letzten Satz, den er an Veronica richtete, verstand man nicht, da er sich mit seinem fleischigen Daumen über die Unterlippe fuhr. Dann stand er auf, nahm das Notizbuch mit dem Stift und ging aus dem Zimmer.

Allein im farblosen Licht der Verhörzelle sah Veronica aus wie ein Wachsmodell ihrer selbst.

»Strohman wird es versuchen«, ahnte einer der Männer hinter mir. Der Unmut in seiner Stimme war so subtil wie die Explosion einer Kanone.

»Das wird auch nichts bringen«, sagte irgendjemand. »Schau sie dir an. Da bekommt man mehr Antworten von einem Telefonmast.«

»Ich wette, sie weiß überhaupt nicht, was passiert ist.« Das kam von McMullen, der neben der Tür stand und sich ins Getuschel seiner Kollegen einmischte.

Wenige Minuten später langweilten sie sich. Irgendjemand wollte etwas von Kuchen im Aufenthaltsraum wissen, das wirkte wie Feuer unter ihren Hintern.

Ich beobachtete ihre Umrisse, wie sie aus dem Dunkeln hinaus auf den Flur gingen. Vor mir hockte Veronica reglos und allein am Holztisch im Verhörzimmer.

»Was wird mit ihr geschehen?«, fragte ich McMullen, der mit dem Hinausgehen wartete.

»Weiß nicht«, gestand er. »Kommen Sie! Folgen Sie mir.«

Draußen auf dem Gang herrschte reges Treiben. Sehr wahrscheinlich war das Department lange nicht mehr so umtriebig gewesen. Im Getümmel stieß ich gegen Adams Schulter, als er an mir vorbeiging.

»Ich rief Beth an und sagte ihr, sie solle Jodie Bescheid sagen«, bemerkte er, ohne stehen zu bleiben. Er ging neben mir her mit zwei anderen Beamten. »Ich meinte zu ihr, du seist hier, um mir bei etwas zu helfen, und dass du sie später zurückrufen wirst.« Er hielt sich den gespreizten Daumen ans Ohr und den kleinen Finger an den Mund, ehe er in einem anderen Zimmer verschwand.

»Kann ich irgendwo telefonieren?«, fragte ich McMullen, der seinen Mitarbeitern in den Aufenthaltsraum folgte.

»Herrgott!« Er blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften und leckte wie ein Hund den Schweiß von seiner Oberlippe. Er sah wie ein Achtzehnjähriger aus. »Die Büros sind alle belegt.« Dann leuchteten seine Augen auf. »Ach, wir könnten zu Mae gehen.«

Mae war die kleine, gedrungene Frau, die Strohman und mir an dem Tag Kaffee gebracht hatte, als ich vom Friedhof hierher gebracht wurde. Sie saß vor ihrem Computer in einer Mischung aus Abfertigungsstelle und Sekretariat. Eine Reihe Telefone standen auf einer Bank, deren Hörer alle eine mit ehemals roter Flüssigkeit aufgemalte Ziffer trugen.

Rob schwenkte einen Arm über die Geräte, deutete an, jedes davon erweise mir nur zu gern seine Dienste. »Mit der Neun wählen Sie sich nach draußen«, bemerkte er, bevor er verschwand.

»Hey«, grüßte ich, als Jodie zu Hause abhob. »Es wird spät, also dachte ich, ich rufe besser an. Hat Beth mit dir gesprochen?«

»Sie meinte, du seist mit Adam auf dem Revier. Stimmt es, dass man jemanden unter Mordverdacht festgenommen hat?«

»Keine Ahnung. Hier werden ein paar Leute verhört.«

»Womit hilfst du Adam?«

»Na ja, ich gelte wohl gewissermaßen als Zeuge.«

»Geht es um den ertrunkenen Jungen?«

Ich schloss die Augen und sagte: »Ja.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte längeres Schweigen. Ihre Miene wollte ich mir nicht ausmalen. Befürchtete sie, ich würde wieder rückfällig?

»Bist du okay?«, fragte sie schließlich.

»Ja, und du?«

»Mir geht‘s gut, wenn es dir gut geht.«

»Ich bin okay.«

»Wann kommst du heim?«

»Weiß nicht. Ich bin mit Adam hergefahren. Unser Wagen steht noch vorm Mockingbird, also muss ich mich nach Adam richten.«

»Soll ich dich mit Beth abholen?«

»Nein«, antwortete ich. »Bleib ruhig daheim. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es allzu spät wird.«

»Okay. Ich liebe dich.«

»Liebe dich auch.« Und legte auf.

»So nett«, bemerkte Mae und strahlte mich an. Sie hatte Lippenstift an ihren Zähnen. Ihr silbernes Haar hatte sie zu einem Nest am Hinterkopf zusammengebunden. »Ihre Frau?«

»Ja. Darf man hier irgendwo rauchen?«

»Draußen auf der Treppe.«

Am Eingang des Westlake Police Departments, frierend und nass, rauchte ich gleich mehrere Zigaretten, als harre ich meiner Hinrichtung. Windböen ließen die Bäume in der Umgebung wie das Meer rauschen. Der Himmel, ein schwarzes Netz, in dem Sterne hingen.

Kurz vor elf kam Adam durch die Tür und blieb hinter mir stehen. Sein Schatten fiel über mich. Ich saß auf den Betonstufen, zitternd in meinem Parka, und arbeitete mich zur letzten Zigarette vor. Die Parkplatzbeleuchtung tauchte das Pflaster des Gehwegs am Gebäude in unnatürlich orangefarbenes Licht.

»Hast du eine für mich?«

»Du stehst doch nicht auf Menthol«, warnte ich ihn und händigte ihm dennoch die letzte aus.

Er steckte sie an und hustete beim Inhalieren. Dann lehnte er sich ans Geländer und sagte: »Ich habe viel über jenen Sommer nachgedacht.«

Er musste nicht weiter erklären, was er meinte.

»Vielleicht liegt es daran, dass du hergezogen bist, oder weil sich die Ereignisse in letzter Zeit überschlagen. Ich weiß es nicht.«

Er zog fest an der Zigarette. Seinen Kopf umgab eine Aura kalt orangefarbenen Scheins.

»Verdammt«, fluchte Adam, nachdem er die nur halb gerauchte Kippe mit dem Stiefel zertrat. »Lass uns hier verschwinden.«

Auf der Fahrt zurück fragte ich ihn, was als Nächstes geschehen würde.

»Wir werden sie über Nacht festhalten. Der Bezirksstaatsanwalt wird klare Aussagen verlangen, bevor er weitere Schritte einleitet.«

»Wird das klappen?«

»Mit den Aussagen?« Da war eine nicht zu überhörende Resignation in der Stimmlage meines Bruders. »David wird dichthalten, und Veronica ist sowieso von allen guten Geistern verlassen. Selbst wenn sie irgendetwas gesteht, wird es erst wasserdicht, sobald ihr Bruder etwas äußert, das sich mehr oder weniger damit deckt. Weiters müssen wir die Aufzeichnungen der Baufirma einholen, was eine Weile dauern wird.«

»Aber ihr habt sie doch.«

»Sicher, aber wir müssen auf legalem Weg Einsicht erlangen.«

»Hat es irgendwas versaut, weil ich sie dir vorab gegeben habe?«

»Sollte es nicht, selbst wenn uns ein findiger Strafverteidiger einen Strick daraus drehen wollte. Es hat dich niemand von uns genötigt, es zu tun. Uns als Behörde trifft keine Schuld, etwas Unlauteres begangen zu haben. Im Grunde genommen läuft es so, damit wir keine Löcher im Fall haben und alles rechtmäßig ist.«

»Rechnest du wirklich damit, dass die Sache vor Gericht kommt?«

»Ich habe keine Ahnung. Mit so etwas hatte ich noch nie zu tun.«

In meinem Kopf hörte ich Paul Strohmans Stimme, begleitet von einem statischen Rauschen wie über CB-Funk: Die meisten meiner Delegierten haben noch nie Blut gesehen, geschweige denn Mordermittlungen durchgeführt. Im Anschluss daran knarrte als deutliche Mahnung: Ich könnte Ihnen Dinge erzählen … Sie würden die ganze Nacht kein Auge zumachen, weil Sie zwanghaft auf die leisesten Geräusche im Haus horchen müssten.

Während Adam durch die dunklen Straßen fuhr, starrte ich durch das Fenster auf die vorbeihuschenden Bäume dahinter.

»Nehmen wir an, Dentman deckt seine Schwester tatsächlich«, sagte ich mit Blick aus der Beifahrerscheibe. »Wenn sie ihren Sohn ohne sein Wissen und Zutun umgebracht hat: Was blüht ihm dann?«

»Eine Anklage wegen Justizbehinderung oder Falschaussage, Verabredung, Beihilfe und Vorschub. Himmel, ich weiß es nicht.«

»Jesus«, murmelte ich.

»Jetzt erzähl mir nicht, du hättest einen Sinneswandel! Nicht nach allem, was passiert ist.«

»Nein«, beschwichtigte ich. »Ich versuche nur, die ganze Sache zu verdauen.«

Adam verschluckte sich an seinem Lachen. »Willst du mich verarschen? Du allein hattest einen Verdacht. Stell dir bloß vor, wie sich Paul fucking Strohman gerade vorkommen muss.«

»Ich lag aber falsch, es war Veronica, nicht David.« Ich dachte darüber nach; meine Gedanken rasten dahin. »Was meintest du eigentlich damit, David werde dichthalten?«

»Er verweigert die Aussage, wird nicht singen. Niemandem gegenüber hat er ein Wort geäußert, seit wir ihn festgenommen haben.«

Wir, dachte ich. Seit wir ihn festgenommen haben. Das ist so verdammt surreal.

»Würde Strohman die Anklage im Austausch für ein Geständnis fallen lassen?«

Das Licht des Armaturenbretts beleuchtete Adams Gesicht schauderhaft grün. »Das müsste der Staatsanwalt entscheiden, nicht Strohman. Bist du dir überhaupt sicher, dass Dentman dazu bereit wäre? Er log von vornherein für seine Schwester, ich bezweifle stark, dass er sie mit der Aussicht auf Strafmilderung im Stich lässt.«

»Nein, so meinte ich das nicht«, erwiderte ich. »Nicht ganz.«

Er warf mir einen kurzen Blick zu. »Wie dann?«

»Es ist … nur eine Idee. Besteht irgendeine Chance, dass Strohman beim Staatsanwalt vorfühlt?«

»Ob er sich Dentman gegenüber nachsichtig zeigt, wenn er seine Schwester belastet?«

»Nicht belastet«, verbesserte ich. »Er soll einfach nur aussagen. Ich glaube nicht, dass er irgendetwas zu bekennen hat.«

»So«, antwortete er, nicht ganz ohne brüderliche Herablassung. »Wenn du damit mal nicht von deiner bisherigen Linie abweichst.«

Er drehte am Lenkrad und der Wagen bog in die Hauptstraße ein, die nur von unseren Lichtern erhellt wurde. »Wie auch immer, geht es um Mord, wird der Staatsanwalt darauf pochen, dass jemand in den Knast wandert.«

»Veronica wird es nicht treffen, oder?«

»Du hast sie gesehen und mit ihr gesprochen«, sagte er. »Keine Geschworenenbank der Welt wird diese Frau ins Gefängnis bringen, welch schweres Verbrechen sie auch immer begangen hat. Ganz zu Schweigen von der fehlenden Leiche«, schob er nach, als sei irgendetwas davon meine Schuld. »Angesichts ihrer Vergangenheit wird selbst ein Pflichtverteidiger auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren und damit durchkommen. Die einzigen Gitter, die diese Frau zu sehen kriegt, sind die vor den Fenstern einer Nervenheilanstalt.«

Ich ließ das erst mal sacken.

»Denkst du, wir finden jemals heraus, was Elijah zugestoßen ist?«, fragte ich schließlich, als wir in der Waterview Court einfuhren.

Adam schien sich die Worte durch den Kopf gehen zu lassen. »Kann ich nicht sagen, aber zumindest sind wir der Antwort einen Schritt näher, nicht wahr?«

Die Scheinwerfer durchbrachen die Dunkelheit der Straße. Die Laternen waren nicht eingeschaltet und es war, als würden wir am Grund des tiefsten Ozeans dahingleiten.

»Du hast mir an dem Tag am See einen Scheißschrecken eingejagt«, meinte Adam plötzlich unvermittelt, »als du mit der Axt …«

»Ich erschrak vor mir selbst«, gestand ich und war gleichzeitig überrascht, mich so offen zu zeigen. »Ich musste es einfach wissen.«

»Wie bist du überhaupt darauf gekommen?«

Althea Coulter meldete sich in meinem Gedächtnis: Die Natur kennt kein Aussterben, sondern nur Veränderung. Sie weiß, dass die Seele, wenn sie einen Körper verlässt, dessen Licht ausgegangen ist, laut Definition, irgendwo unterkommen muss. Glaubt man weder an Gott oder ein anderes höheres Wesen noch an Himmel und Hölle – wohin zieht das Ich dann?

»Geister«, sprach ich, als wir am Ende der Sackgasse langsamer wurden und schließlich stehen blieben. »Glaubst du an so etwas?«




Kapitel 32

Jodie saß mit dem Kissen im Rücken auf dem Bett und las unter der Lampe am Kopfende in einem Taschenbuch von Louis L‘Amour. Ich streifte meine Schuhe ab, kroch ins Bett zu ihr hoch, küsste Hals, Kinn und Lippen.

»Spann mich nicht auf die Folter«, sagte sie. »Was ist los?«

»Ich weiß nicht, wie viel ich dir überhaupt sagen darf.«

»Tu es einfach.«

»Ich glaube, sie haben David und Veronica Dentman unter Arrest gestellt.«

»Weiß man jetzt, was mit dem kleinen Jungen passiert ist?«

»Nein.« Mein Kopf lag auf ihrer Brust und ich sprach zu ihren Brüsten.

»Weshalb brauchten sie deine Hilfe?«

»Informationen.« Ich konnte es nicht im Einzelnen ausführen, nicht jetzt. Wie aus dem Nichts packte mich die Erschöpfung, als hätte mir jemand eins übergezogen. »Details. Dinge, die ich im Zuge meiner Nachforschungen in Erfahrung gebracht habe.«

»Mein schlauer Schriftsteller.« Sie gab mir einen Kuss auf den Kopf. »Wow. Und stinkender Schriftsteller.«

»Ich geh duschen.«

Im Bad schälte ich mich aus meinen Klamotten und stellte mich unter den heißen Strahl, bis er erkaltete. Als ich ins Schlafzimmer zurückkehrte, war die Leselampe aus, und Jodies leises Schnarchen übertönte das Ticken der Uhr auf dem Gang.

Die Gestalt eines kleinen Jungen stand im Türrahmen. Um ihn genau zu erkennen, fehlte das Licht, aber ich wusste, dass es Elijah war.

»Was ist los?«, wisperte ich. »Was willst du noch?«

Der Schatten schwebte geräuschlos hinaus. Ich ging hinterher. Das Treppenhaus im Obergeschoss war verlassen, und Mondlicht fiel durch die Fenster auf den Boden. Ich stand auf der oberen Stufe und schaute in den dunklen Schacht der Diele. Die Uhr im Flur tickte lauter.

Elijah bewegte sich als Schatten vor noch dunkleren Hintergründen über den Flur.

Die Stufen unter meinen nackten Füßen fühlten sich kalt an, als ich die Treppe hinunterging. Ich trug nur eine Jogginghose und war noch nass vom Duschen, eine Gänsehaut überzog meine Brust.

»Elijah!«, zischelte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen – etwa wie ein Vater, der sein Kind in der Kirche zum Schweigen anhält. »Wo bist du?«

Der Junge war zwischen Sofa und Beistelltisch, Lampen, Fernseher und Sesseln verschwunden. Von oben hörte ich immer noch das Ticken der Wanduhr, das einzige Geräusch, das sich unter mein verhaltenes Keuchen mischte.

Aber … es war nicht die Uhr …

Das Geräusch kam von den Holzklötzen, auf dem Kaffeetischchen. Es war zu dunkel um sie zu sehen, aber ich konnte sie hören, nicht einmal fünf Fuß vor mir – klack, klack, klack. Langsam und gleichmäßig.

Ich bückte mich, um den Beistelltisch gegen das dumpfe Licht zu erkennen, das durch die Vorhänge fiel. Mein Atem stockte: Die Klötze formten eine Pyramide, die sich schwarz gegen die Fenster abzeichnete, und als ich noch genauer hinschaute, sah ich einen auf den anderen stapeln, so als schwebten sie.

Ich hatte keine Angst. Vielmehr überkam mich seltsamer Gleichmut. Mein Körper prickelte und ich hatte weiche Knie. Ich landete mit dem Hintern hart auf dem Boden. Neben mir erwachte die Heizlüftung zum Leben – ein Dröhnen wie das Nebelhorn auf hoher See.

Etwas huschte am Fenster vorbei, definitiv der Umriss eines Kindes; plötzlich da und dann wieder verschwunden.

Ich spürte mein Herz bis zum Hals schlagen. Althea raunte in meinem Kopf: Eines Nachmittags spielte ich zwischen den Palmen, als ich durch die Äste ein kleines Mädchen auf dem anderen Feld sah. Die Erinnerung an ihre Worte ließ mich aufspringen.

Ich konnte ihn hören, wie er sich hinter dem Sofa regte, dann vor der hohen Kommode, das Geräusch kleiner nackter Füße bis auf den Fransenteppich. Er bewegte sich schnell.

Ich rief seinen Namen, mein Atem rasselte durch zusammengebissene Zähne. Dann hechtete ich blindlings im Dunkeln auf das Geräusch zu, doch jedes Mal, wenn ich die Stelle erreichte, an der ich ihn vermutete, hörte ich ihn aus einer anderen Ecke. Er flatterte umher wie ein verstörter Vogel, der sich ins Haus verirrt hatte und in verzweifelter Panik wieder hinausfinden wollte.

Es gibt keine Welt mehr dort draußen, kam mir in den Sinn. Wir alle sind unter Wasser.

Ungewissheit packte mich plötzlich. Ich verharrte mit dem Rücken an der Wand und lauschte der Bewegung im Raum. Einen Augenblick später durchzuckte meine rechte Schulter ein Schock, es fühlte sich an wie ein elektrischer Schlag, der durch meinen Arm fuhr, die Energie strahlte aus meinen Fingerspitzen und verflüchtigte sich im finsteren Raum.

Er hat mich berührt, stellte ich fest und begann zu zittern.

Dann waren die Schritte am anderen Ende der Diele. In einer Mischung aus Furcht und Perplexität horchte ich, ohne mich zu rühren. Die Kellertür flog auf, so heftig, dass ich glaubte, sie werde aus den Angeln gerissen. Die Schritte, die folgten, waren eindeutig; jede einzelne Stufe knarrte unter einem imaginären Gewicht, und mein Herz schlug wie ein Echo. Als es auf der Diele still wurde, hallten die Geräusche durch den Heizungsschacht zu meinen Füßen wider: Unruhe und Erschütterungen von jemandem, der dort unten im Keller rumorte. Ein tiefes resonantes Klappern kam durch die Rohre, vermutlich aus dem Inneren des Heizungskessels.

Zuletzt wurde es totenstill. So schnell, als hätte mir jemand Watte in die Ohren gestopft, oder wie vom Schlachtfeld in einen stillen Bunker.

Ich stand sehr lange einfach nur da, bevor ich wieder Herr über meine Muskeln wurde. Als es so weit war, wagte ich mich in den Keller und tappte über den eiskalten Betonboden. Ich schaltete das Deckenlicht ein, beschattete meine Augen, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnten, und ging mit ausgestrecktem Arm auf die Heizung zu. Mit Bestimmtheit näherte ich mich dem Ofen und öffnete die Kolben in der Metallverblendung. Dahinter kam eine Eisenklappe zum Vorschein, ich hob sie an und schaute in die finstere Luke. Es kam einem Blick in den Bauch eines altertümlichen Roboters gleich.

Wenn die Leiche hier verbrannt wurde, hätte man sie in kleine Teile zerstückeln müssen, um sie durch die Öffnung zu zwängen; wenn die Leiche hier verbrannt wurde, werde ich höchstwahrscheinlich keine Spuren im Kessel finden.

Oder doch?

Als sich die ersten Sonnenstrahlen am Himmel blicken ließen, hatte ich mehrere Handvoll klebrigen Ruß aus der Heizung geschaufelt. Die Masse lag nun auf Zeitungspapier am Boden, stank nach Öl und sah aus wie schwarzer Eiter, den ein fieberkrankes Pferd abgesondert hatte. Zu Anfang hatte ich noch gehofft, Knochensplitter oder so etwas in der Art in dem Brei zu finden, aber nun, da die Schlacke auf der Zeitung vor mir ausgebreitet lag, wusste ich, dass alles gelogen war, was ich in Filmen gesehen und in Büchern gelesen hatte: Außer Kohlenstoff und nasser Asche bleibt von uns nichts übrig.

Erschöpft und deprimiert kehrte ich nach oben zurück, wo der Wecker neun Minuten nach sechs zeigte. Im Bett schmiegte ich mich an Jodie und hoffte, dass ihr Atemgeräusch mich in den Schlaf wiegen würde.

Tat es nicht.







Kapitel 33

Gegen Mittag klingelte das Telefon.

»Wir brauchen deine Hilfe«, sprach Adam nahezu atemlos.

»Worum geht es?«

»Dentman will unter einer Bedingung aussagen.« Er hielt inne, vielleicht um es dramatischer klingen zu lassen. »Er möchte zuerst mit dir reden.«

»Ich bin in zehn Minuten da«, versprach ich und legte auf.

»Das«, rief Paul Strohman, »ist kompletter Bullshit.«

Wir saßen in seinem engen Büro, er hinterm Schreibtisch, Adam neben mir auf einem der beiden Stühle ihm gegenüber. Strohman hatte seine langen Füße auf die Tischplatte gelegt, weshalb sie leicht durchhing.

»Es wird schon nichts schiefgehen«, befand Adam.

»Oder aber, es lässt das ganze Department aussehen wie einen Schulbus voller Schwachköpfe.«

»Er hat ausdrücklich nach Travis verlangt. Danach wird er seine Aussage machen.«

»Na, wenn er es versprochen hat, ist ja alles klar.« Hätte Strohman im selben Moment nicht geseufzt und wäre mit der Hand durchs Haar gefahren, hätte sein Sarkasmus ein wenig härter getroffen. Er wandte sich an mich: »Bevor Sie da reingehen, möchte ich Ihnen die Grundregeln erklären. Zuallererst gab es von unserer Seite aus keinerlei Versprechungen. Wenn er also plaudert, tut er es aus eigenem Antrieb. Ich will diesen Narren nicht lossprechen, nur um mir dann anhören zu müssen, dass er das Kind zu Hackfleisch verarbeitet und die Einzelteile im Wald verscharrt hat.«

»Müssen Sie auch nicht«, entgegnete ich. »Stellen Sie ihm nur Straffreiheit für die Taten in Aussicht, derer er gegenwärtig am Pranger steht, Justizbehinderung oder Beihilfe, egal.«

»Ich denke ungern daran, ihn mit Samthandschuhen anzupacken, während wir seine zurückgebliebene Schwester richtig in die Mangel nehmen.«

»Wollen Sie seine Aussage oder nicht?«, fragte ich. »Und nebenbei ist sie nicht zurückgeblieben.«

Strohman fuhr mit dem Daumen über sein Kinngrübchen. »Falls das brutal klingt, liegt das daran, dass diese Angelegenheit ein stinkender Haufen Scheiße ist, der mir jetzt am Schuh klebt. Und dass Sie Ihre Nase überall reinstecken, macht es nicht besser.«

»Ich giere nicht danach, irgendwem davon zu erzählen.«

»Nun gut. Wahrscheinlich sind Sie einfach nur ein feiner Kerl, was?« Strohman stand auf und reckte sich, ein Meter neunzig und mehr. »Sie gehen zu ihm und hören sich an, was er zu sagen hat. Keine Versprechen – und erzählen Sie ihm nichts, was er nicht sowieso schon weiß und in seiner Aussage preisgibt.«

»Alles klar«, bestätigte ich und erhob mich ebenfalls. »Wo ist er?«

»In einer der Arrestzellen.«

Eingesperrt in einer Einzelzelle sah David Dentman aus wie ein zu groß geratenes Kind, das die Schultern hängen ließ. Als ich eintrat, schloss Adam die Tür hinter mir, doch David machte sich nicht einmal die Mühe, mich anzusehen. Trotz Mittagszeit drang nur fahles Licht durch die vergitterten Fenster hoch oben in der Wand. Der ganze Platz roch nach Mottenkugeln und gebrauchten Socken.

Ich ließ mich auf dem Klappstuhl vor seiner Zelle nieder und sagte nichts.

Dentman hockte auf der Kante seiner Pritsche und scheinbar gefiel es ihm, seine riesigen Füße anzustarren. Man hatte ihm die Schnürsenkel aus den Schuhen gezogen, und seine gefalteten Hände zwischen den Oberschenkeln kamen der Größe von zwei Radkappen gleich. Mir fiel auf, dass der Haarwirbel auf seiner Schädeldecke allmählich einer Glatze wich. Als er mich endlich anschaute, tat er es mit versteinerter Miene, die keine Gefühlsregung durchblicken ließ. Das überraschte mich, denn ich hatte erwartet, dass er weinte.

»Was weißt du sonst noch?« Seine Stimme war kaum lauter als ein Wispern.

Ich streckte die Hände mit den Flächen nach oben aus.

»Nichts.«

»Lüg mich nicht an. Es ist vorbei.«

»Was macht dich so sicher, dass ich mehr weiß?«

»Du hast alles herausgefunden, nicht wahr?«

»Einen Scheiß habe ich. Bin nicht weiter als vorher.«

»Du kotzt mich an.«

»Sag mir, was passiert ist.«

Er ließ den Kopf wieder hängen.

»Sie brauchen eine Aussage von dir.«

»Wieso? Um meine Schwester ins Gefängnis zu stecken?«

»Veronica wird nicht ins Gefängnis kommen, und wenn du dich kooperativ zeigst, du auch nicht.«

»Und was bringt mir das?«

»Dir mag es nicht viel bedeuteten, aber Veronica vielleicht umso mehr. Zeigst du guten Willen, indem du ihnen alles sagst, was an jenem Tag wirklich vorgefallen ist, erhältst du Strafminderung und wirst auch weiterhin für deine Schwester sorgen können. Falls man sie irgendwo in eine Klinik schickt, wird sie dich brauchen. Bei ihr nach dem Rechten sehen und auf sie aufpassen kannst du nicht vom Knast aus.«

David hob den Kopf und starrte mich an. Trotz der Entfernung zwischen uns konnte ich die blonden Härchen seiner Augenbrauen beinahe zählen. »Ich traue der Polizei nicht«, erwiderte er, »also werde ich denen nichts sagen, bis ich genau weiß, dass sie nicht mit falschen Karten spielen.«

»Das tun sie nicht. Sie haben nichts gegen dich in der Hand außer der Tatsache, dass du für deine Schwester gelogen hast.«

»Wo ist sie?«

»Auch irgendwo hier.«

»Was hat sie ihnen gesagt?«

Wir näherten uns gefährlichem Territorium, von dem mir Strohman mitgeteilt hatte, es zu meiden. Ich antwortete ihm trotzdem. »Noch überhaupt nichts.« Scheiß auf Paul Strohman, dachte ich.

»Und das wird sie auch nicht«, sagte er. Erstaunlicherweise glaubte ich, den Anflug eines Lächelns zu erkennen. Das sich nicht ganz entfaltete, wie auch immer, dafür war ich in gewisser Weise auch dankbar, denn ich befürchtete, ein solches Lächeln würde mich jahrzehntelang in meinen Träumen verfolgen.

»Sag mir, was du weißt«, drängte ich ihn und lehnte mich näher an die Gitterstäbe.

Er schwieg lange. Als er sich mit der Hand übers Gesicht fuhr, rechnete ich damit, dass seine Augen feucht vor Tränen würden, aber das trat nicht ein. Er sah mich an, und ich fühlte ein Ziehen, als hätte er mich mit einer Lanze aufgespießt. »Sag dem Chef, ich sei bereit, mit ihm zu reden«, antwortete Dentman und wandte sich ab.

»Komm mit«, bat Adam.

Ich folgte ihm den Flur hinunter in den Protokollraum, den mir McMullen am Vortag gezeigt hatte. Diesmal blieb kein Klappstuhl vor der Spiegelwand frei, es war warm und stank nach schlechtem Atem. Ich blieb an der Mauer neben meinem Bruder stehen. In der Verhörzelle flackerte die Beleuchtung auf.

Als die Tür aufging, klang das durch die Lautsprecher wie der Sound eines Horrorhörspiels im Radio aus den Dreißigern. David Dentman trat in Begleitung zweier Uniformierter ein. Seine Unterarme waren in Handschellen vor dem Bauch verschränkt. Die beiden Beamten, die im Vergleich neben ihm kümmerlich wirkten, lotsten ihn zu dem Stuhl, auf dem jüngst seine Schwester gesessen hatte.

Danach kam Strohman herein und schloss die Tür hinter sich. Er trug das gleiche legere Hemd über entsprechender Hose wie während unseres ersten Treffens und hatte ein Jackett angezogen. Er sah so aus, als hätte man ihn gerade aus einem unruhigen Schlaf geweckt. »Okay, David«, begann er, nachdem er sich auf einem Stuhl gegenüber am Tisch niedergelassen hatte. Er legte einen dicken Ordner auf die Platte, während sich seine zwei Männer an die Wand zurückzogen.

Ich hatte erwartet, das Verhör laufe nach bestimmten Klischees ab, direkt und als schneller Schlagabtausch, wie in etwa in einem Roman von Elmore Leonard, jedoch sah ich mich enttäuscht, da sich Strohman keinen Zwang antat.

Er hing auf dem Stuhl und schien sich einmal mehr zu Tode zu langweilen, so als wohne er ungewollt einem AA-Treffen bei. Beiläufig schlug er den Ordner auf, dann fragte er Dentman, ob er sich seiner Rechte bewusst sei.

»Ja«, murrte Dentman. Selbst leise ließ seine Stimme die Boxen dröhnen.

Einer der Zuseher stand auf und drehte an einem Lautstärkeregler an der Wand.

»Sind Sie zur Aussage bereit?«, fragte Strohman.

»Noch nicht.«

Strohman sah verwirrt aus – eine Miene, die nicht zu ihm passte. »Ach ja?«

»Ich möchte zuerst eines klarstellen«, sprach Dentman weiter.

»Das wäre?«

»Meine Schwester; es geht ihr nicht gut, und zwar nicht erst seit gestern. Ich schätze, das muss ich Ihnen nicht sagen.« Sein Blick wanderte beinahe unmerklich zum Spiegel. Er schien zu wissen, was beziehungsweise wer dahinter steckte und ihn beobachtete. »Trotzdem will ich es noch einmal offiziell zum Ausdruck bringen.«

»Okay.«

»Ich liebe meine Schwester. Nach Elijahs Tod ist nur noch sie von meiner Familie übrig.«

»Verstehe. Fertig jetzt?«

Dentman nickte.

Strohman tastete seine Brusttaschen ab. Ein Arm kam aus dem Schatten und einer der Uniformierten reichte ihm einen Stift. »Erzählen Sie uns, was an dem Tag geschah, als Ihr Neffe verschwand.«

»Ich war bis zum Abend auf der Arbeit. Wann ich nach Hause fuhr, weiß ich nicht mehr, aber die Sonne ging auf jeden Fall schon unter, daran erinnere ich mich genau. Veronica war wie jeden Tag allein mit dem Jungen im Haus. Sie hat sich immer als gute Mutter erwiesen. Selbst dann, wenn sie wieder einmal einen ihrer Momente hatte.«

»Was meinen Sie? Welche Momente?«

»Manchmal ist sie einfach fix und fertig. Dann starrt sie nur vor sich hin und gibt keine Antwort. Ein Teil ihres Geistes zieht sich in ihr Innerstes zurück, glaube ich. Es ist wichtig, dass Sie auch das verstehen.«

»Die haben es bereits auf Unzurechnungsfähigkeit abgesehen«, bemerkte einer der Anwesenden im Protokollraum. Andere pflichteten ihm bei.

»Verstanden«, bedeutete Strohman. »Fahren Sie fort.«

»Als ich durch der Haustür hereinkam, saß Veronica auf den Stufen und starrte gegen die Wand. Da dachte ich, sie wissen schon, es sei mal wieder so weit. Mehrmals sprach ich sie an, doch sie reagierte nicht, also ging ich zu ihr, nahm sie an den Schultern und zwang sie zum Aufstehen.« Dentman imitierte die Bewegung, was seltsam aussah, da ihn die Handschellen behinderten. »Das schien sie halbwegs aufzuwecken, denn sie blinzelte ein paarmal und schaute mich schließlich an. Erst dann bemerkte ich, dass sie voller Schlamm war und ein nasses Hauskleid trug.«

Strohman zog eine Augenbraue hoch. »Nass?«

»Nass von Kopf bis Fuß. Auf der Stufe, auf der sie gesessen hatte, war eine Dreckpfütze.« Leise fügte er hinzu: »Blut klebte an ihr. Das beunruhigte mich sofort.«

»Okay.«

»Als ich sie fragte, was los sei, sagte sie: ›Er ist verschwunden.‹ Immer und immer wieder. ›Er ist verschwunden. Er ist verschwunden.‹ Ich wusste, dass sie Elijah meinte – denn niemand sonst war im Haus –, also fing ich meine Suche auf dem Grundstück an und rief immer wieder nach ihm. Dass ich keine Antwort erhielt, überraschte mich bei Elijah nicht; er war etwas Besonderes – wie seine Mutter. Jedenfalls durchkämmte ich jeden Winkel des Hauses, bevor ich Veronica erneut fragte, was vorgefallen war. Aber sie wiederholte stets das Gleiche. Zuletzt setzte ich sie an den Küchentisch und bat sie in aller Ruhe, mir zu sagen, was passiert sei. Sie sagte, Elijah sei am Nachmittag zum Schwimmen an den See gegangen. Sie habe sich im Garten aufgehalten und ein Auge auf ihn gehabt. Der Junge schwamm sehr gern, bloß musste man dabei auf ihn achtgeben. Sie meinte, er sei auf das Stufending im Wasser geklettert, und sie habe ihm zugerufen, er solle da runterkommen. Es war gefährlich für einen Jungen wie Elijah da herumzuturnen.«

Strohman zog wieder die Augenbraue nach oben. »Einen Jungen wie ihn?«

»Er war speziell, wie gesagt«, wiederholte Dentman ein wenig irritiert. »Er war nicht so wie andere Kinder.«

»Gut. Fahren Sie fort.«

»Sie sagte, irgendwann hat sie ihn oben auf dem Gestell gesehen, da bekam sie Angst und schrie lauter, woraufhin er fiel.«

»Das Blut auf dem Holz«, murmelte einer aus der hinteren Reihe im Zuschauerraum.

Strohman lehnte sich auf dem Stuhl zurück und klopfte mit dem Stift an sein Kinn. Er schien sich damit zu begnügen, in anhaltender Stille zu sitzen, ohne Dentman zum Weitersprechen anzuhalten.

»Veronica behauptete, er habe sich, als er stürzte, den Kopf hart an einer der Stufen gestoßen. Sie rannte hinunter und sprang in den See. Deshalb waren ihre Kleider nass und dreckig. Wissen Sie, meine Schwester ist zwar recht schmächtig, aber irgendwie schaffte sie es, Elijah an Land zu ziehen. Sie sagte, sie habe ihn den ganzen Weg zurück zum Haus getragen, während er stark an einer Seite der Stirn geblutet habe. Sie hatte Angst, die Wunde genauer anzusehen, weil sie so stark blutete. Deshalb, wissen Sie, war ihre Kleidung voller Blut.«

»Wie ging es weiter, als Veronica Elijah zurückgebracht hatte?«

»Sie schaffte ihn ins Haus. Er fing zu stöhnen an und seine Lider hätten gezuckt, und sie habe ihn am Fuß der Treppe an die Wand gesetzt, ehe sie in die Küche gelaufen sei, um etwas zum Reinigen der Wunde zu holen und die Blutung zu stoppen.«

»Wieso hat sie keinen Notarzt gerufen?«

»Weil Veronica nicht so weit denkt. Ihr ganzes Leben setzt sie nur auf eine Person, wenn es darum geht, Dinge wieder in Ordnung zu bringen.«

»Und das sind Sie«, schlussfolgerte Strohman. Er fragte dies nicht; er stellte es fest.

»Sie würden es begreifen, wären Sie in unserem Haus aufgewachsen.«

»Weil Ihr Vater gemein war, ausfallend.« Er sagte dies kurz angebunden, ich glaubte, Dentman springe sofort vom Stuhl auf und erdrossle ihn, Handschellen hin oder her.

»Ja, so etwas in der Art«, knirschte Dentman. Er rutschte auf der Sitzfläche herum, wobei seine Augen erneut über die Spiegelwand schweiften.

Mir lief ein Schauer über den Rücken.

»Okay«, sagte Strohman und warf einen Blick in sein Notizbuch. Immer noch ließ er den Stift zwischen den Fingern wippen, dieses Mal auf der Tischkante. Dass niemand im Raum wahnsinnig wurde, war ein Wunder. »Sie hat also keinen Notarzt gerufen, aber wie ging es weiter? War das der Moment, da Sie nach Hause kamen?«

»Nein. Sie hat sich auf die Suche nach Verband und Desinfektionsmittel gemacht. Das Zeug lag unter der Spüle in der Küche.«

»Natürlich«, sagte Strohman.

»Als sie ins Treppenhaus zurückkehrte, sei Elijah weg gewesen.«

Strohman hörte nur mit dem Klopfen auf, um etwas aufzuschreiben. Dann sah er Dentman an. »Weg?«

»Verschwunden«, erklärte Dentman.

Nein. Ich zitterte an der Wand, während ich all dies mitverfolgte wie jemand, der einem Theaterstück beiwohnte. Nein, das stimmt nicht. Menschen verschwinden nicht einfach. Die Natur kennt kein Aussterben.

Strohman atmete übertrieben geräuschvoll aus: »Verschwunden.«

»Sie kam zurück und alles, was sie sah, war ein nasser Fleck auf dem Teppich. Seewasser und Blut.«

»So hat sie es Ihnen geschildert?«

»Ja.«

»Sagte sie auch, was sie daraufhin getan hat?«

Der Officer, der mir am nächsten saß, fluchte, als sein Handy vibrierte und einen Klingelton spielte, der verdächtig nach einem Britney-Spears-Song klang. Er fuhr hoch und ging eilig auf den Flur hinaus. Er machte solchen Wirbel, dass ich den ersten Teil von Dentmans Antwort nicht mitbekam.

»– seinen Namen rief und sie das Haus absuchte. Sie dachte, er habe sich vielleicht aufs Sofa gelegt, doch dort fand sie ihn nicht, also ging sie nach oben. Er war aber weder im Bad noch in einem der Zimmer.«

»Auch nicht in seinem?«

»Elijahs Zimmer befand sich im Keller. Er hätte an der Küche vorbei über den Flur gehen müssen, um nach unten zu gelangen. Das wäre Veronica aufgefallen.«

»Aber hat sie trotzdem im Keller nachgesehen?«

»Am Schluss auch dort, aber er war nirgends.«

Strohman checkte seine Notizen. »Sie sagten, sein Zimmer sei im Keller gewesen?«

»In einem Raum, den mein Vater vor langer Zeit gebaut hatte. Elijah gefiel er, weil er sich dort verstecken konnte, weil es dunkel und ruhig war. Veronica hasste es, dass er sich dort wohlfühlte und nichts konnte ihn davon überzeugen, auszuziehen. Letztlich brachten wir sein Bett mitsamt allen Spielsachen nach unten.«

Strohman kratzte sich an der Stirn und sah aus, als habe er ein Nickerchen nötig.

Die zwei Beamten im Verhörzimmer bewegten sich geräuschlos im Schatten.

»Okay, David. Veronica hat also gesucht und den Jungen nicht gefunden. Was dann? Setzte sie sich einfach auf die Treppe, um auf Sie zu warten? So haben Sie sie angetroffen, richtig?«

»Nein. Ich meine, ja, so habe ich sie gefunden. Aber das ist nicht … So lief es nicht.«

»Dann erzählen Sie mir, wie es wirklich gelaufen ist.«

»Sie sagte, sie könne sich nicht an alles erinnern. Vorübergehend wurde alles schwarz.«

Strohman hakte nach.

»Sie hatte einen ihrer Anfälle«, führte Dentman aus. »Sie muss sich selbst in etwas hineingesteigert haben und dann hatte sie einen ihrer Anfälle.«

»Ein Blackout«, wiederholte Strohman. »Wie, äh …« Er schnippte schnell hintereinander mit den Fingern. »Wie … Hallo, keiner daheim. Richtig?«

Strohmans Respektlosigkeit in dieser Sache rührte David Dentman auf. Selbst von dort, wo ich stand, erkannte ich, dass es in ihm rumorte. Seine Augen sprühten Funken.

Auch wenn er Elijah nicht umgebracht hat, diese Augen gerade eben, sind die Augen eines kaltblütigen Mörders.

»Veronica weiß nicht, wie lange ihr Aussetzer gedauert hat«, fuhr Dentman fort, »als sie zu sich kam, war Elijah immer noch nicht aufgetaucht. Dann erst setzte sie sich auf die Treppe und wartete auf mich.«

»Also gut, Sie kamen nach Hause – und dann?«

»Genau wie ich schon sagte, sie erzählte mir das, was ich Ihnen gerade erzählt habe.«

»Und Sie glaubten ihr? Dass sich der Junge einfach so in Luft aufgelöst hat?«

Dentman reagierte nicht.

»Wollen Sie mir keine Antwort geben?«

»Meine Schwester ist sehr zerbrechlich.«

»Ich verstehe. Das haben wir bereits erörtert. Antworten Sie jetzt auf meine Frage?«

»Was wollen Sie hören?«

»Was Ihrer Ansicht nach passiert ist.«

»Ich weiß es nicht. Aber was immer es war, es war ein Unfall.«

»Ich glaube, ich weiß es.«

Dentman grinste. »Ach ja?«

»Diese Blackouts –«

»Ich glaube ich weiß, worauf Sie hinaus wollen. Nein, sie hat nichts getan, was dem Kind wehtun würde.«

»Okay. Aber vielleicht ungewollt –«

»Hören Sie auf. Sie möchten mir die Worte im Mund herumdrehen. Das sagte ich nicht.«

»Dann erklären Sie mir, weshalb wir überhaupt zu diesem Punkt gekommen sind. Wieso hören wir jetzt diese Geschichte von Ihnen, wo Sie letzten Sommer eine völlig andere parat hatten – dass Sie selbst daheim gewesen wären und den Kleinen beobachtet hätten, weil Veronica mit Kopfschmerzen zu Bett gegangen sei? Dass Sie das vorgeschoben haben, um sie zu decken, ist offensichtlich, auch dass Sie ihr verboten hatten, Fragen zu beantworten. Aber schauen Sie, wohin es Sie beide gebracht hat.«

Dentman sprang auf. Sein Stuhl kippte rückwärts, die beiden Beamten behinderten sich gegenseitig im Versuch, ihn aufzufangen. David legte die Hände mit den Handschellen nachdrücklich auf die Tischplatte und sah aus, als spucke er jeden Moment Feuer.

Auf der anderen Tischseite hingegen hätte Strohman sich genauso gut einen alten Schwarz-Weiß-Schinken auf AMC ansehen können.

»Hinsetzen!«, befahl einer der Uniformierten, indem er eine von Dentmans bulligen Schultern packte.

Der zweite Officer schob ihm den Stuhl in die Kniekehlen. »Setzen!«

Gleich einem sinkenden Schiff ließ sich Dentman nieder.

»Ihr Temperament stellt alles, was Sie mir geschildert haben, in Zweifel«, gab Strohman zu bedenken. »Allmählich beschleicht mich das Gefühl, dass wir hier alle unsere Zeit verschwenden.«

»Sie wollten eine beschissene Aussage, und ich habe Ihnen eine gegeben.«

»Wie ging es weiter, nachdem Sie ins Haus gekommen waren und Veronicas Geschichte gehört hatten – nachdem Sie das Grundstück abgesucht und mit leeren Händen zurückgekehrt waren?«

»Sie wollen unbedingt, dass ich es sage, nicht wahr? Falls nicht, nötigen Sie mich dazu.«

»Genau«, bestätigte Strohman. »Das werde ich.«

Dentman beugte sich über die Tischplatte. »Ich vermutete, sie habe ihn böse verletzt und nichts gemerkt.«

»Ihn verletzt?«

»Ihn umgebracht«, brachte Dentman endlich hervor. Es kam einer Beichte gleich.

In diesem Augenblick merkte ich, dass ich die Luft anhielt.

»Ich fragte Veronica wiederholt, was sie getan habe, doch sie sagte, sie könne sich nicht erinnern. Auf der Suche nach Elijah sei alles um sie herum schwarz geworden. Ich fragte, ob es möglich sei, dass ihm etwas im Wasser zugestoßen sei. Sie weinte und sagte, er habe sich den Schädel gestoßen. Wiederholte es immer wieder. Ich ging schließlich hinunter ans Wasser. Ich rief Elijahs Namen, streifte den Wald in der Umgebung ab und watete schließlich in den See. Ich konnte ihn nicht finden … aber das Blut an den Stufen habe ich entdeckt.«

»Wie lange haben Sie gesucht?«

»Lange. Über eine halbe Stunde. Ich fragte mich, wo er steckte. Falls er … falls er untergegangen und irgendwo hängengeblieben war, gab es keine Möglichkeit, es herauszufinden, ihn aufzuspüren und zu retten.«

»Weiter.«

»Ich ging zurück ins Haus und wies Veronica an, sich oben umzuziehen, was sie auch tat. Dann nahm ich ihr nasses, blutbeflecktes Kleid und warf es in den Ofen im Keller.«

Mein Herz tat einen Sprung. Das Blut raste durch meine Adern, es kam mir vor wie ein vorbeirauschender Güterzug.

»Dann bereitete ich sie darauf vor, dass wir die Cops einschalten mussten, weil ich Elijah, falls er untergegangen war, nicht allein bergen konnte. Wir brauchten Hilfe, um ihn rauszuholen. Sie stand abwechselnd neben sich und fasste sich wieder, ich rechnete mit einem weiteren Anfall. Während ich die Polizei rief, saß sie auf dem Sofa, und sobald ich aufgelegt hatte, ging ich zu ihr hinüber. Sie legte den Kopf auf meinen Schoß; ich streichelte ihn und gab ihr genaue Anweisungen, was sie sagen sollte, wenn ihre Leute eintrafen – dass sie die ganze Zeit über mit Migräne im Bett gewesen sei, während ich den Jungen von unten aus beobachtet hätte. ›Ich werde mich darum kümmern‹, versprach ich ihr.«

Strohman war kaum mitgekommen, so schnell hatte Dentman gesprochen. Das Notizbuch hatte er nach gut der Hälfte zur Seite gelegt, um einfach nur zuzuhören. Die Hände des Polizeichefs ruhten auf seinem Schoß, und er hatte die Beine übereinandergeschlagen. Kurz darauf ließ er Dentman alles noch einmal aufsagen, der wiederholte alles Wort für Wort, bevor er anordnete, Veronica zu holen.

»Sie müssen natürlich draußen warten, während wir mit ihr reden«, sprach Strohman und klappte sein Notizbuch zu.

»Dann wird sie nichts sagen.«

»Warum?«

»Weil ich ihr zuletzt sagte, sie solle erklären, dass sie geschlafen habe. Wenn ich nicht bei ihr sitze und ihr etwas anderes sage, werden Sie nichts zu hören bekommen.«

Strohman fing leise zu kichern an, was auf seine Männer im Protokollraum übersprang.

»Kein schlechter Trick«, befand er, nachdem er sich gefangen hatte. »Sie verstehen aber, dass wir Sie nicht beide –«

»Holen Sie sie herein und lassen Sie mich hier sitzen. Ich sage ihr nur, dass sie die Wahrheit sprechen soll.«

Strohman saugte an der Innenseite seiner linken Wange. Dann klatschte er in die Hände, was alle erschreckte, außer Dentman. »Also gut«, sagte er. »Machen wir es so. Zuerst gehe ich aber pissen.«

Auf der Treppe vor dem Eingang rauchte ein Teil von uns Zigaretten und schauderte in der Kälte.

»Kältester beschissener Winter seit Jahren«, meinte McMullen. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen. »Und das am Arsch der Welt.«

Fünf Minuten später kehrten wir wieder in den Zuschauerraum zurück. Man führte Veronica herein – ohne Handschellen – und ließ sie auf einem Stuhl in der Mitte zwischen Strohman und ihrem Bruder Platz nehmen.

Strohman schlug eine leere Seite seines Notizbuches auf, und schon fing der gottverdammte Stift wieder zu klopfen an.

Ihre Antworten auf seine ersten Fragen fielen so einstudiert aus, dass es fast komisch wirkte … dann deprimierend und teilweise auch beängstigend. »Ich habe geschlafen.«

»Veronica, Ihr Bruder berichtete uns gerade –«

»Ich habe geschlafen.«

»Sie müssen begreifen –«

An ihren Haaren ziehend fing sie wie ein Kind zu kreischen an: »Ich habe geschlafen! Ich habe geschlafen! Ich habe geschlafen!« Sie schlug mit den Händen auf den Tisch und kratzte mit den Fingernägeln über das Holz.

Nicht wenige von uns zuckten zusammen.

»Verfluchte Scheiße«, schnaubte Strohman.

»Warten Sie«, sagte Dentman. Überraschend zärtlich umschloss er eine der dürren Hände seiner Schwester. Er rieb mit den Daumen über ihren Handrücken, es klang, als strich er über Kohlepapier. »Darling«, sagte er ruhig. »Es ist jetzt Zeit, die Wahrheit zu sagen.«

Veronica zitterte wie ein neugeborenes Reh, als sie sich der Anwesenheit ihres Bruders bewusst wurde und ihn musterte, als müsse sie ihn kennen, obwohl er ihr eigentlich fremd vorkam. Ich ahnte schon eine Sekunde vorher, dass ihr die Tränen kamen, und dann strömten sie unaufhaltsam über ihre eingefallenen, blassen Wangen. Ihre schmalen Lippen bebten, und die Sehnen an ihrem Hals waren dick wie Telefonkabel. »Er … hat sich den Kopf angeschlagen … auf den Stufen … im See … Blut … an mir, an ihm … ins Haus getragen … überall Blut … ich ging … ließ ihn allein … den Rücken gekehrt … als ich zurückkam … weg.«

Niemand sagte etwas. Alle Augen waren auf die fragile Frau gerichtet, die gerade vor uns zusammenbrach. Ihre Worte waren plötzlich nicht mehr wichtig. Auch nicht die ihres Bruders. Es stand ihr ins Gesicht geschrieben, einfach alles. Ich betete darum, dass jemand etwas sagte – irgendetwas. Bis dahin hoffte ich inständig, dass mich die Stille nicht umbrachte.

Im Verhörzimmer klappte Strohman sein Notizbuch zu.







Kapitel 34

Adam setzte mich an diesem Abend zu Hause ab. Körperlich wie seelisch ausgezehrt trat ich ein und hatte nichts weiter im Sinn, als unter die Dusche zu kriechen und die Müdigkeit mit warmem Wasser aus meinen Knochen zu treiben.

Jodie stand unten an der Treppe, halb im Schatten.

Ihr Gesichtsausdruck ließ mein Blut in den Adern gefrieren.

»Ich glaube …« Sie schaute sich um wie ein blindes Kind, das auf einmal wieder sehen konnte. »Ich glaube, hier ist jemand eingebrochen.«

»Wovon redest du? Hast du geschlafen?«

»Ja, aber irgendein Geräusch hat mich geweckt, dumpfe Laute. Es hörte sich an wie ein Tier, gefangen im Speicher oder hinter einer Mauer. Ich stand auf, um nachzuschauen, was es war. Ich dachte, du seist vielleicht nach Hause gekommen und ich hätte die Haustür nicht gehört. Also rief ich deinen Namen.« Ich sah, wie ein Schauer sie durchlief. »Oh Gott.«

»Was denn? Jodie …«

»Ich rief nach dir, dann hörte ich jemanden durchs Wohnzimmer laufen, und die Haustür zuschlagen.«

»Babe.« Ich ging zu ihr und nahm sie in den Arm. »Du hast geträumt.«

»Nein, ich war wach.«

»Hier ist niemand. Die Haustür war abgesperrt, ich musste sie eben aufschließen.«

»Bist du sicher?«

»Ich schwöre.«

»Jesus …« Ihr Kopf ruhte an meinem Schlüsselbein. Sie lachte nervös. »Oh, Jesus.«

Am Morgen tauchte Adam auf und brachte mir ein Dokument, das ich unterschreiben sollte. Es sah sehr offiziell aus, mit dem Titel »Durchsuchungserlaubnis« ganz oben. Dazu bemerkte er: »Strohman braucht dein Einverständnis, damit wir, sobald der Boden ein bisschen auftaut, deinen Garten umpflügen können.«

»Er glaubt, Elijah liegt verscharrt unterm Rasen?«

»Er glaubt, wenn David Dentman seine Schwester so leicht zum Lügen bringt, ist nicht gesagt, dass irgendetwas von gestern Nacht die Wahrheit war.«

»Im Ernst?«

Er reichte mir die Blätter und einen Füller. Es war sein voller Ernst.

»Sie stehen beide unter Anklage.«

»Weil sie die Cops belogen haben?«

»Wegen Mordes«, sagte Adam. »David sitzt nach wie vor in der Zelle. Ihm blüht eine Strafe wegen Beihilfe. Veronica wird heute Nachmittag in eine Klinik in Cumberland eingewiesen. Sie war praktisch die ganze Nacht katatonisch.«

»Mein Gott.«

»Was ist los? Du siehst gar nicht gut aus.«

Ehrlich gesagt fühlte ich mich auch nicht gut. »Das fühlt sich falsch an.«

Adam nahm mir die unterschriebene Verfügung ab und faltete sie in der Mitte, um sie in die Gesäßtasche seiner Khakihose zu stecken. »Das Gesetz fällt hier strenger aus, als du dachtest, hm?« Er ging zur Tür.

»Hey, glaubst du wirklich, dass ihr die Leiche im Garten finden werdet?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, bekannte er und brach auf.

Ich rief Earl an und erzählte ihm alles, was ich wusste. Er sollte die Story vor allen anderen an die Öffentlichkeit bringen.

»Was tun Sie jetzt?«, fragte er, nachdem ich ihm alles zugesteckt hatte.

»Nichts«, sagte ich ihm. »Ich habe meinen Teil geleistet.«




Kapitel 35

Der Februar wurde kalt, wütete und erschütterte uns bis ins Mark. Noch einmal schien die ganze Welt einzufrieren. Doch Anfang März war der Schnee weitgehend geschmolzen und graue Streifen, die aussahen wie aus Asche, erhoben sich auf unserem Rasen. Der böige Wind schwächte ab und wurde wärmer. Wir feierten Jacobs elften Geburtstag und er verblüffte uns mit Kartentricks. Jodie schrieb ihre Dissertation zu Ende und konnte es kaum erwarten, im Mai zur Doktorin zu promovieren. Die Vollzeitstelle als Dozentin hatte sie bereits mündlich angenommen, und obwohl sie erst im kommenden Herbst antreten sollte, ging sie mit Beth einen Nachmittag lang shoppen, für eine komplett neue Garderobe.

Waterview stieg im Verkaufsrang weiterhin an. Und nun, da das Drama um die Dentmans fast einen Monat zurücklag, verspürte ich allmählich wieder den Drang, zu schreiben. Das war gut; ich fühlte mich wie ein Vater, der ungeduldig darauf wartete, dass sein Kind unbeschadet aus dem Sommerlager zurückkehrte.

Jodie überließ mir unser Büro im Obergeschoss. Ich verstaute meinen Schreibkram darin, Stapel neuer Blöcke, meinen Textcomputer und meine Glücksporzellantasse. Morgens arbeitete ich schon, bevor Jodie aufstand, und kippte einen starken Sumatra-Kaffee nach dem anderen in mich hinein. Manchmal, wenn ich mir sicher war, dass sie tief und fest schlief, öffnete ich das Einzelfenster und rauchte, mit dem Kopf weit draußen in der frischen Morgenluft.

Nachdem ich die Story über die Dentmans und die Treppe im See verworfen hatte, widmete ich mich erneut dem unvollendeten Manuskript, das Holly Dreher bereits auszugsweise zugekommen war. Es entspann sich zügig, wirkte unverkrampft und offen. Letzteres ist bei allem, was man verfasst, wichtig.

(Einmal, im Rahmen einer Literaturtagung in Seattle unterhielt ich mich mit einem Bestseller-Autor bei ein paar Drinks. Wie Teenager, die sich ihrer sexuellen Neigungen unsicher sind, vollzogen seine Romane die oft fatale und schwimmende Gratwanderung zwischen verschiedenen Genres. Außerdem trank er teuren Scotch und hörte auf seinem Hotelzimmer Jazzplatten, weil er meinte, dadurch besser schreiben zu können. Wir müssen uns an dem Abend stundenlang an der Hotelbar unterhalten haben, aber das Einzige, was ich mitnahm, war sein Kommentar, dass alle guten Bücher ehrlich und offen geschrieben seien, und den Rest könne man stecken lassen. Die halbe Aussage schrieb ich mir hinters Ohr. Bis heute bin ich gut damit gefahren. Alle guten Bücher sind ehrliche Bücher.)

So schrieb ich, und zwar wortgewaltig und eben aufrichtig.

Eines Nachmittags hörte ich das Pochen. Es war das gleiche Geräusch, das Jodie in der Nacht aufgefallen war, als ich vom Department zurückkehrte – da war ich mir sicher. Als ich es zum ersten Mal vernahm, war ich allein im Haus und stand in Unterwäsche in der Küche, um Kaffee zu kochen. Es schien von oben zu kommen, verstummte aber, als ich die Treppe hinaufgegangen war.

Beim nächsten Mal lag ich nachts im Bett, und Jodie schlief in seliger Unschuld neben mir. Da kam es vom Flur, und einen irrigen Moment lang glaubte ich, ein Dutzend winziger Elfen tänzelte über die Tastatur meines Computers, um den Roman für mich zu vollenden. Ich stand aus dem Bett auf und ging über den Flur ins Büro, wo ich das Licht anknipste. Da war das Geräusch wieder versiegt. Ich stand mit angehaltenem Atem da und horchte sehr lange, doch es kehrte nicht wieder.

Beim dritten und letzten Mal war es helllichter Tag. Ein riesiger, gelber Bulldozer rollte über unseren Hinterhof und grub unsere Wiese um. Beamte beobachteten das Geschehen und selbst Strohman ließ sich kurz blicken. Ich streifte rasch ein paar Klamotten über und traf draußen auf ihn. Wir rauchten schweigend ein paar Zigaretten. Die Abgase des Baufahrzeugs waren abstoßend.

Zurück im Haus bereitete ich das Mittagessen vor. Jodie saß mit Beth und den Kids im Kino. Trotz des Lärms hinterm Haus traute ich mir zu, den Entwurf meines neuen Werkes noch an diesem Tag zu beenden. Die Vorstellung stimmte mich glücklich. Alleine aß ich auf der Vorderterrasse zu Mittag, bis die Abgaswolken des Bulldozers irgendwann übers Dach stiegen und um mich herum niedersanken wie während eines nuklearen Winters.

Ich duschte, rasierte mich und zog frische Sachen an. Im Büro setzte ich mich, fuhr den Rechner hoch, roch seine elektronischen Innereien und ließ meine Finger über die leicht summende Tastatur gleiten.

Dann begann das Pochen wieder. Es kam direkt von der Wand hinterm Schreibtisch.

Auf Händen und Füßen schob ich ihn, da er nicht schwer war, von der Mauer fort. Augenblicklich fühlte ich mich töricht. Der Übeltäter, natürlich, war die Aushöhlung hinter der Wand. Das Türchen war aufgesprungen und stieß gegen die Rückseite des Schreibtischs, wenn der Wind durch den Dachvorsprung fuhr und sie so zum Schwingen brachte.

Ich drückte die Öffnung wieder zu, stand aber nicht sofort wieder auf. Draußen röhrte die Planierraupe und jemand brüllte etwas.

Ich zog die Schwanenhalslampe auf dem Schreibtisch nach unten und schaltete sie ein. Das Licht war nicht sonderlich stark, erfüllte aber seinen Zweck. Als ich wieder mit einer Hand gegen das Türchen drückte, sprang es erneut auf, und kalte Luft strömte heraus.

Ich dachte daran, wie Elijah Althea Coulter gesagt hatte, er sei weggegangen.

Dann fiel mir Veronica während der Befragung ein: Als ich zurückkam … weg …

Ich bückte mich tiefer und schob die Lampe ins Loch, um besser zu sehen.

Es war nichts weiter als ein quadratischer Raum mit rosafarbenem Dämmstoff und Stützbrettchen, der sich als Schrank verwenden ließ, das Versteck eines kleinen Jungen. Der zerschlissene Baseball lag darin, sowie Matchbox-Autos und ein Dagobert-Duck-Comic. Ich erinnerte mich daran, wie Adam und ich unter dem Pier auf der Stelle geschwommen waren, um dem Irren mit dem Gewehr zu entgehen, der auf den Brettern über uns marschierte. Verstecken, dachte ich mir. Kinder verstecken sich.

Als ich zurückkam … weg …

Aber es versteckte sich niemand darin. Die Ausstanzung war leer. Ich hatte es gewusst, und zwar schon damals, als ich sie zum ersten Mal geöffnet und den Schuhkarton mit den toten Vögeln entdeckt hatte. Was hatte ich erwartet zu finden?

Und dann roch ich es.

Widerlich süß wie tagelang abgestandener Kamillentee. Getragen durch die kühle Luft wurde es mit jedem Atemzug intensiver. Ich knickte den Hals der Lampe an der Öffnung fest und steckte meinen Kopf hinein. Auch wenn ich mitnichten ein stämmiger Kerl bin, war es trotzdem zu eng für mich, um meine Schultern hineinzuzwängen. Ich entsann mich der Albträume, die mich Wochen zuvor heimgesucht hatten – zu Tode gequetscht zwischen sich zusammenziehenden Wänden. Plötzlich brach mir der Schweiß auf der Stirn aus.

Es ist ein Kommen und Gehen.

Gehen, entschied ich in diesem Fall. Er ist hier drin verschwunden.

Ich streckte meine Hand und nestelte an einem Stück der Papierfolie, die an den Isoliermatten klebten. Schälte sie langsam von den Holzbalken ab. Eigentlich rechnete ich damit, dahinter auf eine Gipswand zu stoßen, die Seite zum Büro hin. Doch was mir die Schwanenhalslampe zeigte, war ein schmaler Durchlass zwischen Wand und Dachsims, ein vertikaler Schnitt. Dies war nicht bloß eine Öffnung, sondern eine zum Durchkriechen.

Ich zog die Lampe dichter an den engen, finsteren Spalt, hielt die Luft an und fühlte, wie mir der Schweiß übers Gesicht lief.

Kommen und Gehen, dachte ich.

Atmete nicht.

Ich sah ihn.




Kapitel 36

Der ungewöhnlich harte Winter hatte den Leichnam praktisch konserviert und verhindert, dass das ganze Haus stank. Das jedenfalls mutmaßte der Forensiker und die Polizisten, die die Zimmer, Flure (und Wände) von Waterview Court 111 mehrere Stunden lang in Beschlag nahmen.

Ich stand vor dem Haus, als sie Elijah Dentman bargen. Zwei Officers trugen den Körper zum Krankenwagen, obwohl klar ersichtlich war, dass es einer allein auch geschafft hätte, ohne Schweißausbrüche zu bekommen. Sie benutzten eine Holzbahre mit je zwei Griffen an den Enden und hatten sein Gerippe mit einem weißen Laken zugedeckt. Von der Seite betrachtet sah es wie eine ferne Gebirgskette aus. Ein paar Hunde aus der Nachbarschaft kamen und schnüffelten herum, die ein weiterer


Officer davonscheuchte.

Zu diesem Zeitpunkt war bereits eine Traube Schaulustiger in der Sackgasse zusammengekommen, manche von ihnen traten auf die Grünfläche vor dem Haus und schauten an der Seite vorbei nach hinten. Sie alle sahen entsetzt zu, wie man den Leichnam heraustrug und in den Wagen schob. Als er losfuhr, blieben Blaulicht und Sirene ausgeschaltet.

Oben blieb ich in der Bürotür stehen. Ich durfte nichts anrühren, wie man mir gesagt hatte. Meine Erfahrung mit Verbrechensschauplätzen (zugegebenermaßen von zu viel Fernsehen) war eine sterile Umgebung, aufgeräumt, in der die Beamten grimmig bis gefühllos arbeiteten und Krawatten zu steifen Anzughemden trugen.

Hier allerdings versuchte jeder die Atmosphäre so zwanglos wie möglich zu halten, selbst in dem andächtigen Augenblick, als die Leiche durch einen Schnitt in der Wand aus dem Spalt in den Flur gezogen wurde. Da war nirgendwo gelbes Band ausgerollt, und die Cops trugen Uniform. Weder sahen sie aus, als hätten sie alles unter Kontrolle, noch als hätten sie Antworten, obwohl alles geregelt ablief. Sie wirkten so jung und sahen aus, als würden sie hier dazulernen, mehr als ich. Diese Officers waren nicht allwissend und allmächtig; es waren Normalsterbliche, die ihren Job erledigten, die unverhohlen ihre Emotionen auf den Gesichtern zeigten. Realer ging es nicht.

All diese Jahre, dachte ich mir, habe ich Verbrechensszenen falsch beschrieben.

Adam tauchte neben mir auf. »Du siehst grün aus«, bemerkte er.

»Ja? So wie du.«

»Mir ist auch schlecht.« Sein Blick schweifte durchs Zimmer.

Zwei Beamte fotografierten den Teppich sowie die vergrößerte Öffnung, die sie in die Wand geschnitten hatten, um zu dem Spalt zu gelangen.

Eines dritten Officers schwarze Stiefel kamen zum Vorschein, er kroch aus der Nische heraus. »Ziemlich eng dort«, befand er, schwitzend, er glänzte wie ein Aal. »Der Tunnel führt die ganze Wand entlang bis hinter die Stufen. Liegt auch eine Menge Müll herum; das Kind muss es als Räuberlager oder so genutzt haben.«

Nein, dachte ich. Kein Räuberlager. Dort versteckte er sich, wenn er sich fürchtete oder wenn er sich verletzte.

Adam fasste mir an die Schulter. »Du hattest recht, weißt du.«

»Vielleicht«, sagte ich. »In manchen Dingen.«

»Nein«, beharrte Adam. »In jeder Hinsicht. Wie du selbst sagtest: Des Rätsels Lösung lag in der Treppe, und dieser Geheimgang führt hinter der Wand bis unter die Treppe. Damals am See hast du einfach die falsche Treppe erwischt.«

Getrieben von einer schwer zu erklärenden Treue rief ich Earl an und bat ihn, die Kamera sowie seinen besten Schreibblock mitzubringen. Als er am Ort des Geschehens eintraf, schoss er Fotos von der Stelle, an der die Polizisten die Wand im Obergeschoss aufgebrochen hatten. Auch den Gang zwischen den Wänden, in dem Elijahs Leichnam verborgen gewesen war, knipste er.

Bevor Earl wieder aufbrach, umarmte er mich mit einem überraschenden Maß Emotion, dann hielt er mich auf Armeslänge fest, während er grinste. »Wenn das vorbei ist, werden Sie wegziehen«, meinte er.

»Wir können nicht bleiben.«

»Danke, dass Sie mir das gegeben haben.«

»Sie haben es erst möglich gemacht«, erinnerte ich ihn.

Earl sah aus, als wolle er noch etwas Herzliches und Rührseliges sagen. Was er vielleicht auch getan hätte, wenn wir dazu gekommen wären, uns besser kennenzulernen. Aber so wie es war, waren wir einander mehr oder weniger fremd, am Ende blieb es bei einem kräftigen Händeschütteln mit begleitendem Nicken. »Sie behalten meine Telefonnummer«, wies er mich an. »Melden Sie sich hin und wieder.«

Ich versprach es ihm. »Passen Sie auf sich auf«, fügte ich hinzu und sah ihm nach, wie er durch den schwindenden Schnee zu seinem Altwagen trottete.

(Seinen Zeitungsartikel sollte später die Presse landesweit übernehmen, was Earl zum ersten und gleichzeitig einzigen Mal auf breiter Ebene ins Rampenlicht rückte. Und ja, ich blieb mit ihm in Kontakt … bis er eines Nachts anderthalb Jahre später einen tödlichen Schlaganfall erlitt.)

Als er davonfuhr, fühlte ich mich leer.

Adam kam irgendwann gegen Mitternacht zurück. Alle im Haus schliefen, inklusive Jodie, die auf der ausziehbaren Couch im Wohnzimmer lag. Ich hatte in der Küche ein Lager aufgeschlagen und das Licht gelöscht. Der Kleinbildfernseher flimmerte ohne Ton im Dunkeln.

»Hey. Du hast doch nicht etwa auf mich gewartet, oder?«

»Machst du Witze?«

»Wo ist Jodie?«

»Auf der Couch. Ihr geht es gut.«

»Und dir?«

Ich hielt eine Hand hoch, um ihm zu zeigen, wie stark ich zitterte. »Bereit um die Operation durchzuführen«, witzelte ich.

Adam knipste die Lampe über dem Becken an und drehte das Wasser auf. Er schrubbte seine Hände mit Spülmittel ab.

»Hast du Hunger?«, fragte ich. »Ich mach uns ein paar Sandwiches.«

»Yeah. Klingt gut, danke.«

Ich öffnete den Kühlschrank und nahm Truthahnbraten, Mayonnaise, einen halben Salatkopf sowie zwei Dosen Pepsi Light heraus. Auf der Arbeitsfläche lag ein Stück Weißbrot, von dem ich zwei dicke Scheiben ab- und in der Mitte durchschnitt. Dann fragte ich Adam, ob er großen oder nur wenig Hunger habe.

»Riesigen«, gab er zu, gerade als er sich die Hände am Küchentuch abwischte. »Weiß gar nicht mehr, wann ich zuletzt gegessen habe.«

Ich belegte das Brot dick mit Truthahnscheiben und streute etwas Pfeffer darauf. Über dem Spülbecken wusch ich den Salat und garnierte das Geflügel mit Blättern. Zuletzt bestrich ich die andere Hälfte des Brotes mit Mayonnaise. Nachdem ich die Teller auf den Tisch gestellt hatte, fiel mir auf, dass mein Bruder aus dem Fenster hinaussah, zwischen den Bäumen sprenkelten Lichter wie Stecknadelköpfe die Sackgasse. Die Cops hatten die Eingangslampen nicht ausgemacht.

»Keine große Sache.« Adam wandte den Blick nicht von draußen ab.

»Ich möchte es wissen.«

»Er starb an den Folgen eines schweren Schädeltraumas. Eine schwere Fraktur am Hinterkopf, die sich Elijah bei dem Sturz von der Treppe zugezogen haben könnte. Wenn die Ergebnisse der Autopsie vorliegen, wissen wir natürlich mehr, aber schon jetzt zeichnet sich relativ deutlich ab, was geschehen ist.«

Er drehte sich um und nahm am Tisch Platz, um gemeinsam mit mir zu essen.

Mehrere Minuten vergingen, bis Adam weitersprach. »Kein Erwachsener würde in diese Nische passen. Nicht Veronica, geschweige denn David.«

»Ich weiß.« Überraschend war es nicht. Ich hatte schon am Nachmittag darüber nachgedacht. »Er muss dort hineingekrochen sein, nachdem sie ihn ins Haus getragen hatte. Als sie ihm den Rücken kehrte, zog er sich in sein Geheimversteck zurück.« Ich redete, ohne mir selbst zuzuhören. Nebenbei erinnerte ich mich wieder an die Geschichte, die mir Althea Coulter im Krankenhaus erzählt hatte, wie sie die Dentmans zwei Tage hintereinander besucht hatte, ohne den Jungen anzutreffen. Dass David jedes Mal persönlich zur Tür gekommen war, mutete schon skurril an, doch am dritten Tag hatte es obendrein geheißen,


Elijah sei schlicht fort gewesen.

»Der Bezirksstaatsanwalt hat die Anklagen gegen beide fallengelassen«, erzählte Adam mit Mayonnaise im Mundwinkel. »David könnten sie zwar belangen, weil er die Polizei belogen hat, doch sowohl die Staatsanwaltschaft als auch Strohman sind übereingekommen, dass die Sache eine einzige Schande sei, weshalb man sie so schnell wie möglich unter den Teppich kehren und abhaken wolle.«

»Was wird nun mit den beiden geschehen?«

»Weiß nicht. Schätze, man lässt sie ihr Leben weiterführen. Zumindest kennen wir jetzt die Wahrheit.«

Die Vorstellung, der Junge sei wie ein verwundetes Tier zum Sterben in seine Höhle gekrochen, überstieg mein Fassungsvermögen. Aus welchen Gründen auch immer wäre ich leichter damit fertiggeworden, wenn ihn jemand umgebracht hätte.

»Hör mal«, sagte Adam, als er aufstand und seine Hose hochzog. »Wieso gehst du nicht rüber und haust dich aufs Ohr?«

»Werde ich, aber jetzt noch nicht.«

»Das ist mein kleiner Bruder. Ständig nachdenklich.« Er kratzte sich die Stirn, wirkte mit einem Mal so alt, dass mir Tränen in die Augen traten. Er lächelte erschöpft und ging aus der Küche. Dann drehte er sich noch einmal um, sein Gesicht verhüllt im Dunkel. »Lässt dich das mit seinem Tod abschließen?«

Ich wusste, Adam meinte nicht Elijah. Nach einem Moment sagte ich: »Ich weiß es nicht.«

»Entschuldigung«, sagte Adam.

»Wofür?«

Er zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht genau.«

»Wie auch immer … danke.«

»Ich liebe dich, Bro.«

»Yeah«, erwiderte ich, »Ich liebe dich auch.«

Fünf Minuten später schlüpfte ich nur noch in Unterwäsche und Socken unter die kühlen Laken auf die Ausziehcouch meines Bruders. Ich gab acht, Jodie nicht zu wecken, doch als ich meinen Kopf aufs Kissen legte und ihrem Atem lauschte, erkannte ich, dass sie wach war.

»He du«, murmelte ich.

»Du weißt, dass wir nicht hierbleiben können«, flüsterte sie mit dem Rücken zu mir.

»Ich weiß.«

»Er wird dir fehlen.«

Für einen kurzen Moment, dachte ich, sie meinte Elijah Dentman und meine Besessenheit zu ihm.

Als würde sie meine Gedanken lesen und müsse mir Klarheit verschaffen, präzisierte sie: »Adam.«

Ich schloss meine Augen. »Ja.«

»Es ist so traurig. Das war die Gelegenheit, euch wieder näherzukommen.«

Zu meiner Verwunderung musste ich gegen Tränen ankämpfen.

»Jodie?«

»Was ist?«

»Ich muss dir etwas sagen.« Meine Stimme erstarb wie ein verglühender Stern. »Es geht um Kyle … was damals wirklich geschehen ist.«

Sie rutschte dichter zu mir. Ich spürte ihre Wärme. »Gut«, entgegnete sie. »Darauf warte ich schon lange.«




Kapitel 37

Das wahrscheinlich einzig erwähnenswerte Ereignis während unserer letzten Tage in Westlake, Maryland, trug sich zwei Nächte vor unserer geplanten Abfahrt nach Kalifornien zu, wo nicht weit von San Diegos Gaslight Quarter ein nettes, kleines Appartement auf uns wartete. Ich hatte den letzten Monat damit verbracht, unsere Sachen zusammenzupacken und einen Großteil davon in einer privaten Lagerstätte in der Stadt zu verwahren. Seitdem man Elijahs Leichnam aus dem Haus geborgen hatte, wollte Jodie nicht mehr dorthin zurückkehren, nicht einmal für eine Sekunde. Verübeln konnte ich es ihr nicht. Wir durften für den Rest der Zeit bei Adam und Beth wohnen, während ich versuchte, ein neues Zuhause für Jodie und mich zu finden – weit, weit weg von Westlake, dem Haus am See und der Tragödie der Dentmans.

Dafür ließ ich meine verbliebenen Kontakte aus College-Zeiten spielen. Ich schloss mich mit einem alten Bekannten kurz, einem Drehbuchautor in Los Angeles, der in erster Linie unser Telefongespräch dazu nutzte, mir zu gestehen, dass er auf den Erfolg seines Pseudonyms eifersüchtig war, und kurz vor einer klinischen Depression stand. Nichtsdestotrotz trug die Unterhaltung Früchte: Er wusste von einem Appartement, das erst kürzlich frei geworden war, und kannte den Eigentümer des Wohnhauses, in dem es sich befand, über den Freund eines Freundes und so weiter. Die Aussicht darauf, die kalten Winter zurückzulassen, gefiel Jodie, was bedeutete, dass sie auch mir gefiel.

Zwei Tage bevor der Trip quer durch die Staaten losgehen sollte, saß ich ein letztes Mal im Tequila Mockingbird und wartete auf Adam, mit dem ich mich nach seinem Dienst treffen wollte. Ich hatte eine Karte vor mir ausgebreitet und markierte infrage kommende Strecken mit verschiedenfarbigen Stiften. Der Plan war, nichts dem Zufall zu überlassen. Wir wollten die Zeit nutzen, um das nachzuholen, was während der vergangenen Monate zwischen Jodie und mir zu kurz gekommen war.

»Hier.« Tooey servierte mir ein frisches Bier. »Geht aufs Haus.«

»Das sieht richtig gut aus«, lobte ich, nachdem ich das Glas in die Hand genommen und gegen das Licht gehalten hatte. »Denke, du hast endlich die perfekte Rezeptur.« Nach einem Schluck sagte ich: »Wow, schmeckt großartig.«

»Danke, aber es ist ein Samuel Adams.« Er beugte sich über den Tresen, um auf die Karte zu schauen. »Kalifornien, mh?«

»Ich kann es selbst kaum glauben. Am Pazifik bin ich eigentlich noch nie gewesen.«

»Hatte mal eine Flamme dort.«

»Echt?«

»Charlie hieß sie. Lustiger Name für ein Mädchen … Charlie …«

»Was ist passiert?«

»Sie verlor den Verstand.«

»Ohne Witz?«

»Ja. Sie war davon überzeugt, dass sich die Zeit ändert.«

»Die Zeiten ändern sich«, informierte ich ihn. »Hat dir das nicht schon Bob Dylan gesagt?«

»Nicht die Zeiten, Travis. Die Zeit

»Versteh ich nicht.«

»Sie bildete sich ein, jeder Tag verkürze sich um dreißig Sekunden. Nach zwei Tagen also wäre es zur gleichen Zeit eine Minute früher. Da fehlen einem echt die Worte, was?«

Ich stieß einen Pfiff aus.

»Sie machte sich große Sorgen deswegen«, fügte Tooey hinzu. Dann lehnte er sich näher zu mir, wie ein Verschwörer. Er starrte über meine Schulter auf irgendetwas. »Hast du unseren Freund dort hinten bemerkt?«

Ich wollte mich umdrehen.

»Mach es unauffällig«, warnte er und glitt zurück hinter seine Theke.

Einen großen Schluck Bier nehmend drehte ich mich beiläufig auf dem Barhocker um.

David Dentman saß allein in einer Ecke der Kneipe und brütete wie ein Raubvogel über einem Krug Bier. Er trug schwarz-rot gemustertes Flanell mit bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Ärmeln. Seine Gesichtshaut hing schlaff vom Schädel, und die borstigen Stoppeln an seinem Kinn bedurften einer Rasur. Als er sich beobachtet fühlte, schaute er auf und starrte zurück.

Geschlagen wandte ich mich ab.

Meine Gedanken kehrten zu jenem Abend auf dem Friedhof zurück, als er das Grab seines Neffen so eindringlich betrachtet hatte. Nach allem, was wir herausgefunden hatten, stellte ich fest, dass sich meine Meinung über ihn nicht verändert hatte. Mit ihm stimmte irgendwas nicht.

»Glasgow.« Dentmans Bariton Stimme fuhr mir unter die Haut wie ein eisiger Stachel. »Travis Glasgow. Glasgow, der Schriftsteller.«

Ich schwenkte auf dem Hocker herum. »David«, entgegnete ich mit einem Nicken. Wir mochten wie alte Bekannte anmuten; in gewisser Weise, schätze ich, waren wir es auch.

»Komm her«, forderte er mich auf, »nimm Platz und trink ein Bier mit mir.«

»Danke, aber ich bin mit jemandem verabredet.«

»Sei kein Spielverderber, Hemingway.« Sein Blick hielt mich gebannt, ich konnte mich nicht wegdrehen. Angeschlagen, wie ein Schatten seiner selbst wirkte er – eine leere Hülle.

Außerdem grinste er mich an.

Es kostete einiges an Willenskraft, um aufzustehen und an seinen Tisch zu gehen. Es kam einer Gebirgspassüberquerung gleich. Ein paar Holzfäller unterbrachen ihr Billardspiel und schauten zu mir herüber, während jemand aus der Jukebox beteuerte, seine Braut sei eine ganz heiße Nummer.

Ein einzelner Stuhl gegenüber von Dentman schien geradezu auf mich zu warten. Ohne Worte zog ich ihn näher und ließ mich darauf nieder.

»Wie das Schicksal so spielt«, bemerkte er humorlos.

»Die Runde geht auf mich.«

Dentman beäugte mich als wäre ich ein Erntedank-Truthahn. »Dein Gesicht ist gut verheilt.«

»Sieht nicht besser aus als vorher.« Als ich bemerkte, dass ich meine Wange kratzte, nahm ich rasch die Hand herunter.

»Wie auch immer … ich fasse das als Abschiedsgeschenk auf.«

»Shots«, entschied David. »Bourbon.«

Ich winkte Tooey an unseren Tisch. Er beobachtete mich, seit ich mich hingesetzt hatte. »Bring uns die härteste, übelste Flasche Bourbon, die du hast.«

In weniger als einer Minute kehrte Tooey mit zwei Schnapsgläsern und einer dunklen Karaffe zurück, die bereits Staub angesetzt hatte. Er schraubte den Deckel ab und stellte sie neben die Gläschen auf den Tisch. »Ich hab auch Gläser gebracht, außer ihr wollt das Zeug aus dem Aschenbecher saufen.«

Ich bedankte mich. »Gut so.«

Als er fortging, sah er aus wie jemand, der jederzeit damit rechnete eine Kugel in den Rücken zu bekommen.

Dentman öffnete die Karaffe. Ich dachte schon, sie würde brechen. Beim Füllen der beiden Gläser verschüttete er eine Menge, dann hob er seines an und betrachtete es. »Auf den Weltfrieden.«

Gemeinsam kippten wir einen nach dem anderen. Es schmeckte nach Pisse mit Flüssiganzünder. Ich fühlte, wie sich meine Eingeweide verkrampften.

»Tut mir leid, was geschehen ist«, sagte ich zwischendurch, als der abartige Geschmack nachließ.

»Es braucht dir nicht leidzutun.«

»Lass mich ausreden«, bat ich. »Tut mir leid, was mit deiner Familie geschehen ist, aber ich traue dir immer noch nicht über den Weg.«

»Das ist gut«, antwortete Dentman, »weil ich teilweise immer noch scharf drauf bin, dir dein Gesicht zu zerquetschen.«

»Scheiße. Hätten wir besser mal auf gute Freundschaft getrunken.«

Zu meiner Überraschung brach Dentman in Gelächter aus. Es war ein tiefes Dröhnen, der Sound eines Rasenmähers oder besser noch eines Pick-up-Motors, auch wenn man es als Lachen erkannte. Als sein Lachen erstarb, sprach er: »Ich bin dir wohl, was manches betrifft, meinen Dank schuldig.«

»Warum das?«

Er machte ein Schnalzgeräusch mit der Zunge. »Meine Schwester braucht mich. Jemand muss nach ihr schauen. Es geht ihr nicht gut.«

Ich fragte mich, ob er wusste, dass ich seine Aussage durch die Spiegelwand mitverfolgt hatte.

»Unsere Mutter starb, als wir noch sehr jung waren, bei einem Autounfall. Ich erinnere mich nicht mehr sonderlich deutlich an sie.« Nüchtern sah er mich an – direkt in mich hinein, möchte ich wetten. »Mein Vater war ein schlechter Mensch.« Er schüttelte langsam seinen massigen Kopf, als versuche er, Erinnerungen loszuwerden. »Wie war deiner so?«

Mein Vater war warmherzig und verständnisvoll, obwohl er seine Launen hatte und gereizt wurde, wenn er trank. Vor Kyles Tod hatte er sich als guter Dad erwiesen – ich hasste mich plötzlich, weil ich unfähig war, mich an etwas anderes zu erinnern außer an jenen Tag, da er mich mit seinem Gürtel grün und blau geschlagen hatte.

»Ein ganz normaler Kerl«, sagte ich.

»Unser Vater«, sprach er, und es klang wie ein auswendig gelerntes Gebet, »war geisteskrank, noch bevor er offiziell für verrückt erklärt wurde. Dieser Irre war in der Lage, seine Kinder, als sie noch klein waren, an Bäume im Wald zu fesseln. Wenn du ein Geschirr zerbrichst, kriechst du in den Splittern. Wenn du den Herd schmutzig hinterlässt, bekommst du die heißen Platten zu spüren. Mit deinen Händen. Lange. So lange, bis du deine Lektion gelernt hast.« Er schob das Kinn vor. »Hast du es auch auf die Tour lernen müssen, als du ein Kind warst?«

»Nein, nicht auf diese Weise.«

»Er zwang mich dazu, Dinge zu tun, die kein Erwachsener – vor allem kein Vater – je von einem Kind verlangen sollte. Veronica tat er weit Schlimmeres an. Dinge, die er mit mir nicht machen konnte.«

Dies rief so bestürzende, brutalste Bilder in meinem Kopf hervor, dass mir speiübel wurde. Wie Gift breitete sich dieses Gefühl vom Magen aus und rauschte durch meine Adern. Was für entsetzliche Dinge Veronica in diesem Haus widerfahren sein mussten …

»Als ich alt genug war, brach ich aus, kehrte aber für Veronica wieder zurück. Ich durfte nicht zulassen, dass er … dass er weiterhin … Ich musste wiederkommen. Das Zimmer im Keller? Das hinter der Wand? Er hat es für sie gebaut. Sie fürchtete sich davor, doch er sperrte sie jeden Abend dort ein.«

»Mein Gott …«

»Manchmal blieb er dort unten bei ihr«, fügte er hinzu. »Im Dunkeln.«

»Stopp«, hörte ich mich selbst sagen, wie von fern und leidlich überzeugend – wie das Miauen einer Katze, die sich im Wald verirrt hatte.

»Ich kam zurück, um sie mitzunehmen. Wir kehrten ihm gemeinsam den Rücken. Aber zum Teufel mit ihm, sie war ein einziges Wrack.« Dentman klang angewidert, schien aber trotzdem auf seltsame Weise daran gewohnt zu sein, sich derart zu öffnen. »Sie tat sich schwer und verbrachte eine Menge Zeit in Kliniken. Natürlich geriet sie auch an Leute, die nicht verstanden, wie empfindsam sie war. Sie wurde schwanger und bekam Elijah.« Seine Stimme klang befremdlich abweisend und dennoch voller Zuneigung. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich begriff, dass er den Jungen wahrscheinlich auf eine verdrehte, schwer zu ergründende Weise geliebt hatte.

David schenkte zwei weitere Bourbons ein und stürzte seinen hinunter, ehe ich überhaupt zum Glas greifen konnte.

»Als sie erfuhr, dass er erkrankt war, meinte sie, wir müssten zurückkehren, denn es sei ihre Pflicht als Tochter, ihm in seinen letzten Tagen beizustehen.« Seine Augen glitzerten wie Edelsteine. So aufmerksam wie ihn hatte ich noch nichts und niemanden im Leben angesehen. »Kannst du dir das vorstellen? Nach allem, was er ihr angetan hat?«

»Warum erzählst du mir das?«

Er schaute auf mein Schnapsglas. Ich hatte die Finger darumgelegt, rückte es aber nicht von der Stelle. »Trink«, gebot er.

»Ich will nicht.«

»Trink, oder ich ramme dir das Glas in den Schädel.«

Es brannte wie Säure meinen Hals hinunter. Das stimulierte meinen Würgereflex und ich glaubte, mich übergeben zu müssen.

»Sieh dich an«, knurrte Dentman befriedigt.

Meine Augen schwammen in Tränen, als ich das Glas auf die Tischplatte knallte.

»Ich hasse dich und trotzdem muss ich dir danken.« Er starrte auf seine Hände. Handflächen nach oben, die Finger leicht gebogen, sahen sie aus wie ein Paar unbekannter Meereswesen, die man aus einem Netz befreit und aufs Deck eines Schiffes geworfen hatte. »Ich hasse dich, weil sie deinetwegen eine Weile von der Bildfläche verschwinden wird. Die Ärzte wollen sichergehen, dass sie stabil bleibt, damit sie okay ist. Du hast sie ziemlich aufgewühlt. Meine kleine Schwester hat ganz schön gelitten wegen dir.«

Unter lautem Lachen wurde die Tür der Kneipe aufgestoßen. Ich drehte den Kopf, um zu sehen, ob Adam gekommen war. Die beiden Männer, die hereinkamen, kannte ich als Tooeys Stammkunden, aber mein Bruder war nicht unter ihnen. Als ich mich wieder David widmete, hatte er neu eingegossen. »Mann, ich kann nicht mehr …«

»Trink schon. Wir ziehen das durch, oder?«

»Was denn?«

»Trink.«

Mit zittriger Hand kippte ich den Drink. Dann sah ich Dentman doppelt und dreifach, bevor mein Blickfeld an den Rändern ausfranste. Abwesend bekam ich mit, wie er eine seiner geröteten Hände zu einer enormen Faust ballte. Ein Mann wie er war am gefährlichsten, wenn er nichts mehr zu verlieren hatte.

»David«, brachte ich nach zu langem ungemütlichem Schweigen über die Lippen.

»Du bist ein scheißverflucht guter Schriftsteller«, befand er in ruhigem, gleichmäßigem Ton. Mit zwei Fingern fuhr er in die Brusttasche seines Flanellhemdes und zupfte ein gefaltetes Papier heraus. Ich dachte, dass er es aus einer Zeitung gerissen hatte. Als er es jedoch offen auf den Tisch legte, erkannte ich es als Buchseite. »Meine Lieblingsstelle«, bemerkte er.

Er hatte den Text in der Mitte des Blattes unterstrichen – nur eine Zeile, nicht mehr.

Weil er mein Bruder ist, will ich tausend Tode sterben, um seinen zu vergelten.

Ich schob das Papier wortlos zurück.

Dentman nahm es, faltete es sauber zum Quadrat und steckte es zurück in die Brusttasche. »Ich dachte nächtelang darüber nach, was passiert war.« Er wirkte geistesabwesend, schien zwischen Wirklichkeit und Erinnerung zu schweben. »Wusste Veronica, was mit Elijah geschah, oder hatte ihr Geist alles verdrängt? War sie nach all den schrecklichen Dingen, die unser Vater ihr antat, letztlich eingeknickt? Ich bin nicht blöd. Es heißt, der Hang zum Missbrauch sei erblich und werde wie Alkoholismus weitergereicht. Ich ging jeden Abend in der Annahme zu Bett, meine Schwester habe ihrem Sohn etwas Furchtbares angetan.«

Er schwenkte zurück in die Gegenwart und sah mich direkt an. »Sie ist meine Schwester. Ich danke dir, dass du bewiesen hast, dass sie kein Monster ist – dass Vater sie nicht völlig ruiniert hat. Danke, dass du mir diesbezüglich Klarheit verschafft hast.«

»Du verschweigst mir etwas. Etwas, das du geflissentlich aussparst.«

Mir war, als umspiele der Hauch eines Lächelns seine Mundwinkel. »Du schreibst toll, bist aber kein großartiger Schriftsteller. Dazu müsstest du jeden noch so kleinen Stein umdrehen und darunter nachschauen, fast wie es ein Detektiv täte. Keine Möglichkeit dürftest du außer Acht lassen. Egal wie gern du deine Charaktere in eine bestimmte Richtung führen möchtest, du kannst sie am Ende doch nur so handeln lassen, wie es für sie natürlich ist.«

»Scheiße, das klingt richtig scharfsinnig.«

»Erinnerst du dich an den Friedhof? Du hast mich als Mörder bezeichnet. Und ich habe dir versichert, dass ich meinen Neffen nicht umgebracht habe.« Er nahm die Flasche wieder zur Hand und füllte die Gläser erneut. »Was ich damit sagen will, Glasgow, ist Folgendes: Wir liegen vielleicht beide richtig.«

Wir starrten uns lange, lange an. Zuerst begriff ich nicht, was er meinte … als es mir schließlich dämmerte, geschah es nicht wie aus heiterem Himmel, sondern tröpfchenweise, bis alle Nischen und Winkel, alle Ausbuchtungen in meinem Geist ausgefüllt waren wie die Lungen eines Ertrinkenden mit schwarzem Wasser.

David Dentman lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Seine Stirn troff vor Schweiß. Er hob sein Schnapsglas und betrachtete es genau, als enthalte es den letzten Drink, den er zu sich nehmen sollte.

»Auf Väter«, toastete er.

Als Adam eintraf, saß ich immer noch am Tisch, obwohl Dentman längst gegangen war. Adam trat hinter mich und legte mir eine Hand auf die Schulter.

Ich fuhr erschrocken in die Höhe, wobei fast der Bourbon vom Tisch auf den Boden kippte, wo sich das Zeug vermutlich durch die Bretter geätzt hätte.

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte er.

»Vergiss es.«

»Alles in Ordnung?«

»Bestens«, beteuerte ich mit einem Lächeln. »Setz dich und trink einen auf deinen kleinen Bruder, bevor er dich für das sonnige Kalifornien verlässt.«

Adam setzte sich, nahm die Flasche zur Hand und verzog das Gesicht. »Was ist das für ein Zeug?«

Ich schob ihm ein leeres Gläschen zu. In der Jukebox begann ein Bruce-Springsteen-Song mit Mundharmonika. »Trink einfach.«

Wir verbrachten die Nacht in vollkommenem Schweigen, dachten an so viel und mussten doch nichts davon aussprechen.

Wie Brüder.








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