Veronica Dentman lebte in einem unscheinbaren Dörfchen in Maryland, das eine uneindeutige Grenze zwischen Cumberland und den Potomac Highlands von West Virginia beschrieb. Die Abendnachrichten empfing man hier von einem Sender in Pittsburgh.
Den Großteil der Strecke legte ich auf einer unwägbaren, namenlosen Straße zurück, die sich durch dichte, vom Schnee betupfte Wälder über Berg und Tal schlängelte. Den Morgen verbrachte ich damit, meinen Kreislauf mit schwarzem Kaffee auf Trab zu bringen und im Akkord Zigaretten zu rauchen – armselige Versuche, meiner überspannten Nerven Herr zu werden. Zudem war ich mit starken Kopfschmerzen wachgeworden und jeder meiner Muskeln fühlte sich lasch an, was ich als sicheres Zeichen dafür deutete, dass ich etwas ausbrütete. Der Abstecher aus der Enge des Hauses in die Wildnis tat mir andererseits gut, selbst wenn ich Unruhe im Leib verspürte, als winde sich ein Parasit durch meine Eingeweide.
Neben mir auf dem Beifahrersitz stand ein einzelner Karton voller Gegenstände, die ich gezielt aus Elijahs Zimmer mitgenommen hatte, um sie seiner Mutter zurückzugeben. Zwischen beiden Sitzen klemmten mehrere Straßenkarten vom Westen Marylands, wobei Veronicas Wohnort auf einigen gar nicht eingezeichnet war.
Ich rechnete mit ungefähr einer Stunde Fahrt – nicht nur aufgrund dessen, was Adam gesagt hatte, sondern auch wegen der Entfernung zwischen West Cumberland und Westlake auf den Karten –, aber gegen Ende der Strecke verlor ich unnötig viel Zeit und zuckelte einige schmalere Nebenstraßen durch den Wald, bis ich nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand. Ich hatte Geschichten über Leute gehört, die heutzutage in der Wildnis verlorengingen und nie lebend wiedergesehen wurden. Mit Ampeln und Straßenschildern kannte ich mich besser aus als mit ewig langen Pisten aus platt gedrücktem Schnee und Hartriegeln am Rand, soweit das Auge reichte.
Nachdem ich ungefähr zwanzig Minuten nach dem richtigen Weg gesucht hatte, fuhr ich mit dem Honda durch heruntergekommene, leere Straßen eines trostlosen Bergdorfes, das meinen Erwartungen absolut nicht entsprach. Während Westlake sauber und heimelig beziehungsweise zu sehr wie ein Stillleben von Norman Rockwell wirkte, handelte es sich bei dieser Siedlung um Westlakes degenerierten Bruder. Die Häuser hier – etwas weniger als doppelt breite Trailer – waren zusammengepfercht wie Waggons an einem Güterbahnhof. Sie wirkten klein, ärmlich und passten farblich nicht zueinander, ganz zu schweigen davon, dass die Verkleidungen abbröckelten und Fensterläden fehlten. Auf manchen Dächern hatte man alte Autoreifen festgenagelt. Wäschespinnen aus Aluminium sprossen wie zu kurz geratene elektrische Umsetzer aus den Gärten und glänzten matt in der Sonne.
Alle Häuser waren umzäunt, allerdings nicht mit weißen Lattenzäunen wie in Westlake; vielmehr wirkten sie wie Gefängnisse aus rostigem Maschendraht, der grob etwas von Fenstergittern von Nervenheilanstalten hatte. Neben einer Tür standen Einzelteile einer großen Fernsehantenne, die aussahen wie ein von Geiern abgenagter Torso. Selbst der Schnee kam mir dreckig vor.
Ich fuhr noch ein paar Minuten ziellos herum, bis ich Veronicas Straße entdeckte – was keine leichte Aufgabe darstellte, da das Schild mit dem Namen im rechten Winkel umgebogen war und wie die Schranke einer Mautstelle auf die Fahrbahn ragte. Ich lenkte scharf rechts, um im weiten Bogen auszuweichen, und schaute angestrengt durch die Windschutzscheibe, um die erstbeste Hausnummer auszumachen. Auch das fiel schwer, denn die schmiedeeisernen Lettern hingen an einigen der Heime neben dem Eingang und damit im Schatten ramponierter Vordächer, während man sie anderswo gegen den Pfosten des Briefkastens gehämmert hatte. Die unterschiedliche Farbe im Umriss der jeweiligen Zahl am Holz blieb dann der einzige Hinweis darauf, dass es sie überhaupt gab.
Es handelte sich um eine Sackgasse, die am Fuß einer bewaldeten Anhöhe endete. Da ich Veronicas Adresse nicht sichten konnte, fragte ich mich, ob Adams Angabe vielleicht nicht richtig war. Ich legte den Rückwärtsgang ein und fuhr auf selbem Weg zurück, um mich noch einmal zu versichern, während ich nicht umhinkam, die hochgeklappten Lamellen der Fensterrollos und Augenpaare im Dunkel hinter den Scheiben zu bemerken. Schließlich war ich erneut am Ende der Gasse angelangt und schaltete den Motor ab. Entweder hatte mir Adam die falsche Adresse gegeben, oder ein Tornado hatte Veronicas Haus fortgeweht.
Aber halt. Ich beugte mich über das Lenkrad und starrte durch die Windschutzscheibe. Meine Erbitterung ließ sie wohl beschlagen, also machte ich die Lüftung an und wartete ein paar Sekunden, bis mein Atemhauch vom Glas verschwand. Beim ersten Mal hatte ich es nicht bemerkt, doch jetzt sah ich ihn eindeutig, einen unbefestigten Weg mit Spurrillen, den man vom Schnee befreit hatte. Er führte zwischen den Kiefern hindurch den Hügel hinauf.
Ich löste die Handbremse wieder und fuhr weiter, wobei die niedrig hängenden Äste gegen die Motorhaube schlugen. Der Wald war so dicht, dass kaum Schnee bis auf den Grund gefallen war. Ich folgte dem Weg bis zum höchsten Punkt, der sich als weite, flache Lichtung herausstellte.
In der Mitte stand ein Haus, das deutlich geräumiger war als die auf dem Weg hierher, wenngleich es auch nicht gepflegter aussah. Wie der Rest der Anwesen in West Cumberland sah Veronicas Heimstatt aus, als sei es aus der Höhe auf dieses Fleckchen Land voller toter, gefrorener Unkräuter, viel zu großer, unechter Sonnenblumen sowie kaputter Gartenmöbel herabgestürzt. In der Nähe der Tür fungierte ein ausgedienter Traktorreifen als Gefäß für einen kahlen Strauch, der wie ein Skelett aussah. An der linken Wand stand eine Pyramide aus Drahtkäfigen – Krabbenköcher und Hasenfallen, in denen immer noch steif gefrorene Köder hingen.
Ich atmete schwer, weshalb die Scheiben erneut beschlugen.
Nachdem ich den Motor abgestellt hatte, nahm ich den Karton vom Beifahrersitz und stieg aus. Da wurde ich einer Bewegung rechts von mir gewahr und wandte mich erschrocken der einen Seite der Behausung zu. Zu meiner Erleichterung handelte es sich bloß um einen Wäscheschirm, der im Wind schwankte. In der Ferne verschaffte sich ein aufgebrachter Hund Gehör.
Ich trat auf die morsche Terrasse, in der schartige Löcher klafften, wie um mir hungrig die Knöchel aufzureißen, und klopfte an den Rahmen des Fliegengitters.
Dann wartete ich … einen endlosen Augenblick lang. Drinnen regte sich nichts, und vor dem Haus parkte außer mir niemand.
Dann ging die Tür auf, nur das schmutzige Gitter trennte uns. Es war Veronica Dentman – das wusste ich genau –, obwohl sie nicht einmal annähernd so aussah, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie war klein, beängstigend dürr mit großen dunklen Augen und schwarzen Haaren. Sie war vielleicht achtunddreißig, vierzig allerhöchstens, wirkte aber aufgrund des traurigen Blickes und ihrer abgehärmten Züge viel, viel älter.
Diese großen, umherschweifenden Pupillen bannten mich.
Ich wartete darauf, dass sie die Initiative ergriff, doch sie starrte mich nur an. »Miss …, ähm, Veronica Dentman?«
Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Wer sind Sie?« Die Worte kamen wie aus der Pistole geschossen, beinahe wie ein einziges. Ich erhaschte einen Blick auf ihre schlechten Zähne.
»Tut mir wirklich leid, sie zu stören, Ma‘am. Mein Name ist Travis Glasgow. Meine Frau und ich sind in Ihr altes Haus in Westlake gezogen.«
»Sie meinen das meines Vaters.« Die Kiste in meinen Armen fiel ihr auf. Dabei verfolgte ich mit, wie ihre Züge milder wurden; sie erkannte, was sich darin befand. Dann fixierte sie wieder mich, ein durchdringendes Schwarz, das sich durch das vom Moos grün gewordene Gitter bohrte.
»Tut mir leid«, wiederholte ich. Etwas anderes wusste ich nicht zu sagen. »Ich wollte mich nicht aufdrängen.«
Veronica drückte das Fliegengitter mehrere Zoll weit auf; das Quietschen der Scharniere klang wie eine Katze, die bei lebendigem Leib verbrannt wurde. »Sind das die Sachen meines Sohnes?«
»Ja, Ma‘am.«
Diese Suchscheinwerfer von Augen musterten mich erneut, sogen jede Nuance meines Äußeren auf, als wolle Veronica es für eine spätere Verwendung katalogisieren. Just als ich mir sicher war, sie werde mich zum Teufel jagen, öffnete sie das Gitter weiter und bat mich hinein.
Die Wohnung war zugestellt und entsprechend eng. Am Boden lag ein bräunlicher Zottelteppich, der geradewegs aus den Siebzigern stammen mochte, und die wahllos zusammengewürfelten Möbel wirkten wie sich gegenseitig fremde Menschen, die man gemeinsam in einen Wartesaal gezwängt hatte. Die Wände waren beinahe gänzlich kahl, die Vorhänge an den Fenstern aufgezogen. Von der Kochnische her roch ich schwach Kaffee, den sie wohl gerade aufbrühte. Die Lampen sorgten für kärgliches Licht, die Vertäfelung für eine Atmosphäre, bei der ich mich an einen Beichtstuhl in der Kirche erinnert fühlte.
»Hätte nicht gedacht, dass ich Ihre Adresse finde«, bemerkte ich im Versuch, Konversation zu betreiben.
»Wer hat Sie geschickt?«
Die Frage erwischte mich kalt, sodass ich ins Stottern geriet. »Eigentlich, äh … niemand.«
»Weshalb sind Sie dann hier?«
»Um Ihnen das hier zu bringen.« Der Karton wurde immer schwerer in meinen Armen, weshalb ich sein Gewicht unbehaglich von einem auf den anderen verlagerte.
»Stellen Sie es dort ab«, bat sie mit einem Fingerzeig in Richtung eines runden Tisches nicht weit weg von der Haustür, den man wohl einmal zum Kartenspielen verwendet hatte.
Ich stellte die Kiste auf mehrere Briefumschläge, die allesamt an David Dentman adressiert waren. Bis zu diesem Zeitpunkt wäre ich nicht darauf gekommen, dass sie womöglich noch mit ihrem Bruder zusammenlebte.
Ich steckte die Hände in meine viel zu kleinen Hosentaschen und drehte mich zu Veronica um. Sie sah so ungesund schmächtig aus, dass man glauben konnte, ihr mausgraues Hauskleid, das sie bestimmt selbst geschneidert hatte, hänge nach wie vor am Wäschehaken. Sie hatte lange, streichholzdünne Arme; unter ihrer Haut zeichneten sich die Adern allzu deutlich blau ab. Als sie glaubte, ich schaue nicht hin, klemmte sie ihre verlotterten Strähnen hinter die Ohren, und ich sah dabei, dass sie eine lange Narbe hatte. Diese fand ihren Ursprung deutlich über dem Haaransatz, streifte die linke Schläfe und kräuselte sich auf der gleichen Seite ums Ohr.
Was blieb mir übrig, außer meine Stimme wiederzufinden? »Ich weiß nicht, was ich damit machen soll. Mit den Kartons meine ich. Es sind so viele, und ich bringe es einfach nicht übers Herz, sie wegzuwerfen. Überhaupt dachte ich, Sie … vielleicht … ich fühle wirklich mit Ihnen.«
»David hat sie unten ins Zimmer gestellt, nicht wahr? Das hinter der Mauer.«
»Ja«, antwortete ich. »Im Keller. Was … was hat es mit dem Raum auf sich?«
In der Küche zischelte etwas, woraufhin es nach verbranntem Kaffee zu stinken begann.
Veronica sagte kein Wort. Sie wandte sich nur ab und schwebte wie ein Geist – sie trug keine Schuhe – in die Küche.
Ich hielt den Atem an, da hörte ich die Kaffeekanne klappern, und nacheinander Schränke auf- und zugehen, deren Angeln genauso geräuschvoll nachgaben wie die der Fliegentür. Solange sie nicht im Raum war, betrachtete ich alles genauer. Es roch und fühlte sich geradezu nach der Bleibe eines Menschen an, der sein Kind verloren hatte, nach Abschottung von der Außenwelt und Stagnation. Ich musste an ausgelaugte Batterien denken. Allerdings gab es da noch etwas; um darauf zu kommen, brauchte ich länger, aber zuletzt dämmerte es mir: Was vollkommen fehlte, waren persönliche Gegenstände. Keine Fotos, keine Zeitschriften, keine Bücher, Krimskrams. Einzig der Fernseher gehörte zu den Dingen, die nicht bloß praktischen Nutzen besaßen; er war auf stumm geschaltet und strahlte gerade QVC aus.
Veronica kehrte mit einer großen Tasse dampfendem, schwarzem Kaffee zurück, die sie andächtig wie eine Nonne beim Austeilen der Kommunion vor sich hielt. Sie bot sie mir wortlos an.
»Danke«, sagte ich. Mir war klar, dass ich fast flüsterte, als hätte ich Angst davor, dieses fragile Geschöpf mit lauter Stimme in die Flucht zu schlagen.
»Möchten Sie etwas von mir?«, fragte sie. »Sind sie deswegen gekommen?«
»Nein, ich sagte doch, ich wollte Ihnen nur ein paar von Elijahs Sachen wiederbringen.«
Als ich den Namen nannte, zuckte sie zusammen.
»Ich habe nichts weggeworfen«, fuhr ich fort. »Es steht alles noch im Keller. Meine Frau will, dass ich es fortschaffe, also suche ich Sie auf, um mich zu vergewissern, dass Sie es nicht zurückhaben wollen.«
»Reden wir nicht über das Zeug.«
»Okay.«
Von irgendwoher draußen näherte sich ein Fahrzeug. Veronica fuhr schreckhaft mit dem Kopf zum Eingang herum. Der Motor ging aus und ich hörte eine Autotür zuschlagen. Als sich Veronica wieder mir zuwandte, machte sie ein Gesicht, als sei sie gerade Zeugin eines grausigen Unfalls geworden.
»Ist das David?«, wollte ich wissen. »Ihr Bruder?«
»Sie hätten nicht herkommen dürfen.«
»Ich wollte Sie bestimmt nicht in Verlegenheit bringen.«
»Es ist nicht gut, dass Sie hier sind.« Sie entzog mir die Tasse, ein Schwall der dicklich braunen Flüssigkeit verbrannte mir die Hand. »Sie sollten nicht hier sein.«
Die Eingangstür ging auf. Ich hatte nicht bemerkt, wie düster es überhaupt war, als nun die Sonne hereinflutete, wie ein Fingerzeig Gottes. Ich zuckte zusammen. Der Mann, der im Türrahmen innehielt, sah urwüchsig aus mit seinen breiten Schultern; die Umrisse gehörten wahlweise zu einem Holzfäller oder wandelnden Betonlaster.
Ich nickte einmal kurz und eindeutig dem Neuankömmling zu.
David Dentman betrat das Haus und ließ das Fliegengitter hinter sich zufallen. Er hatte helle Haut und grobschlächtige Züge, sandfarbenes Haar und sehr helle, trist dreinschauende Augen, deren Farbe ich noch nie gesehen hatte. Sein Arbeiterhemd war bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, seine sonnengebräunten Arme hätten genauso gut Pythons sein können, die sich aus seinen Ärmeln wanden.
»Was geht hier vor?«, fragte er niemanden direkt.
»Ich bin Travis Glasgow.« Ich verhaspelte mich fast und hatte zu schwitzen begonnen, nur teilweise des Fiebers wegen, von dem ich wusste, dass es in mir aufkeimte. »Meine Frau und ich sind in Ihr ehemaliges Haus in Westlake gezogen.«
»Glasgow«, wiederholte er, als müsse er sich den Namen einprägen. Eine seiner jedem Ringer Ehre machenden Pranken verschwand hinter dem Rücken. Er kramte in der Gesäßtasche seiner Hose.
Eine Sekunde lang setzte mein Herzschlag aus, denn ich war mir sicher, dass er gleich ein Messer ziehen und mich bedrohen würde, doch er holte nur eine abgegriffene Ledergeldbörse hervor, die fast so dick wie ein Taschenbuch war, und warf sie neben die Pappkiste auf den Tisch.
»Das Haus gehörte meinem Vater«, sagte er sachlich nüchtern. Genau wie seine Schwester es getan hatte. »Kann ich etwas für Sie tun, Mister Glasgow? Sind Sie den ganzen Weg von Westlake bis hierher gekommen?«
»Ich wollte bloß ein paar Dinge vorbeibringen.«
Dentman widmete sich dem Karton. Er schien die Gegenstände sofort wiederzuerkennen.
Vermutlich hatte er sie nach dem Tod seines Neffen zusammengepackt. Leicht vorstellbar, dass diese dicken Arme Plüschtiere in die Kisten gezwängt hatten. Das Bild hätte komisch wirken müssen, aber wie ich nun in seinem Haus stand und es mir vorstellte, fand ich es schlicht grauenhaft.
»Sind Sie ein Cop?«
»Sehe ich wie ein Cop aus?«
»Hat Strohman Sie geschickt?«
»Wer ist Strohman?«
Dentman stellte sich vor den Karton, öffnete den Deckel und schaute hinein, wobei er auf seine Unterlippe biss. Das schummrige Licht traf ihn günstig, reflektierte den Glanz der Stoppeln an Kinn und Hals. Als er mich ansah, wirkte er desinteressiert. »Haben Sie die Cops hierhergeschickt?«
»Natürlich nicht. Ich fand diese Dinge im Keller und hielt es für angebracht, sie Ihnen zu bringen.« Ich schluckte, als müsste ich einen Brocken aus Granit verdauen, und hängte an: »Offenbar war das ein Fehler.«
»Sie haben das Haus gekauft, wie wir es hinterlassen haben.«
»Wie bitte?«
»Das Haus. Die Bank hätte Sie in Kenntnis setzen sollen. Was dortgeblieben ist, gehört nun Ihnen.« »Sie missverstehen mich. Ich bin nicht hier, um mich zu beschweren, sondern wollte bloß …«
»Glasgow ist ein Cop«, sagte er. »Ich kenne den Namen.«
»Ich bin kein Cop. Sie meinen Adam Glasgow, der ein Stück weit gegenüber von Ihrem alten Haus wohnt. Er ist ein Cop. Er ist mein Bruder.«
»Hat er Sie hergeschickt?«
»Nein«, beharrte ich. Meine Beklommenheit schwand rasch, und ich wurde wütend. »Hören Sie, David, ich dachte einfach –«
»Schätze, Sie hören besser zu«, unterbrach er erneut, indem er einen Schritt auf mich zukam, woraufhin sich meine Eingeweide verkrampften. »Meine Schwester ist mit mir weggezogen, um zu vergessen, was in Westlake passierte. Wir brauchen mit Sicherheit niemanden, der plötzlich auf der Matte steht und uns daran erinnert, verstehen Sie?«
»Ich verstehe, dass Sie mich vollkommen falsch einschätzen.«
Er hielt mir einen ausgestreckten Zeigefinger vor, so dicht, dass ich quasi die Härchen auf seinem Handrücken zählen konnte. »Sie stehen jetzt in meinem Haus, mein Freund, und zwar ungebeten. Lassen Sie sich das beim nächsten Mal besser durch den Kopf gehen, bevor Sie hereinplatzen.« Er öffnete das Fliegengitter mit dem Fuß. »Es ist wohl an der Zeit zu gehen, meinen Sie nicht?«
Auf dem Weg zur Tür wollte ich Veronica einen Blick zuwerfen. Sie hatte die ganze Zeit über geschwiegen, also hoffte ich, ihren Gesichtsausdruck auf die eine oder andere Weise deuten zu können, um diese seltsame Auseinandersetzung zu begreifen. Leider war sie nicht mehr da, sondern aller Wahrscheinlichkeit in den Nebenraum gegangen, während ich mich darauf gefasst machte, dass ihr Bruder mich windelweich prügelte.
»Hören Sie«, sprach ich zu ihm, nachdem ich die Schwelle nach draußen überschritten hatte. »Es tut mir leid. Ich schwöre, ich dachte mir nichts weiter dabei.«
Abgesehen davon, dass er mir die Tür vor der Nase zuschlug, gab David Dentman keine Antwort.
Das Fieber brach aus, gnadenlos und mit Schüttelkrämpfen. Die folgenden Tage verbrachte ich im Zustand geistiger Umnachtung. Meine Träume – soweit ich mich an sie erinnere – waren wechselhaft und paranoid, wie der Film eines Regisseurs auf einem schlechten LSD-Trip.
In einem rannte ich einen dunklen, schmalen Gang entlang, Wände, Boden und Decke rückten immer enger zusammen, bis ich wie ein kleines Kind auf allen vieren kriechen musste. Irgendwann erreichte ich eine winzige Tür wie in Alice im Wunderland. Sie schien aus mehreren bunten Holzstäbchen zu bestehen, die wie Bambusrohre eines Floßes verflochten waren.
Ich stieß die Tür auf und zwängte mich hindurch. Wie ein lebendiges Wesen schien die Finsternis meinen Brustkorb zu umschlingen. Vor mir veränderte sie sich. Formen – ob handfest oder eingebildet – näherten sich und verschwanden wieder in der Ferne wie im provozierenden Spiel. Licht erhellte ein kleines Vestibül. Nicht weit entfernt schmiegten sich vier haarlose, blinde Kreaturen in ein Gewebe aus Ästen mit toten Blättern und durchnässtem Zeitungspapier. Sie hatten graue Haut ähnlich einer Wasserleiche und bewegten sich nur unmerklich.
Ich klemmte zwischen Wänden oder unterschiedlichen Wirklichkeiten, zu denen auch das Kinderzimmer im Keller gehörte. Hier herrscht Klarheit. Ich roch etwas widerlich Süßes und dachte an Kamillentee. Dann brauste und grollte es laut hinter mir. Die Wände begannen zu wackeln, und im selben Augenblick der Kopflosigkeit flutete Wasser den Gang, in dem ich feststeckte. Es war so kalt, dass es wehtat. Ich ertrank.
In einem anderen Traum zitterte ich vor Nässe. Ein Handtuch lag wie ein Umhang auf meinen Schultern, und Detective Wren fragte mich, was in jener Nacht am Fluss geschehen sei. Hinter ihm kroch langsam die Sonne am Horizont herauf, während weitere uniformierte Police Officers die Waldwege patrouillierten und das Gebiet mit gelbem Band absperrten. Ich hörte die Motoren ihrer Boote an der Anlegestelle und roch den Diesel, den ihre Auspuffrohre in die Bucht pusteten.
Plötzlich trug Detective Wren eine Riesenlast von Büchern auf den Armen. Er warf sie auf einen Tisch, der augenblicklich vor uns auftauchte, denn wir befanden uns in einem Verhörraum mit grün fluoreszierenden, summenden Lampen und farblosen Betonwänden.
»Sind das deine Bücher?«, fragte er. »Hast du sie geschrieben?«
Ich nickte.
»Wie bist du darauf gekommen?«
Ich antwortete, dass ich es nicht wüsste.
»Alles, was du darin beschrieben hast, ist gestern am Fluss passiert.« Der Detective war ein Riesenkerl mit öliger Haut und scharfem bis in die Seele dringenden Blick. »Alles, Junge, ist so passiert, wie es auf diesen Seiten steht.« Detective Wren fuhr fort, weshalb ich vermutete, alles sei von langer Hand geplant.
Ich schluchzte und beharrte darauf, es nicht absichtlich getan zu haben.
Wren schaute mich verächtlich an, ehe seine Gesichtsmuskeln erschlafften. Er verfärbte sich dunkelrot, die Augen traten hervor und richteten sich an den Seiten seines rasch schmaler werdenden Schädels aus. Die Arme zogen sich ins zerknitterte Hemd zurück, und die Hose schlackerte an seiner Taille, bis sie schlicht auf den Boden rutschte. Was dann vor mir lag, waren mitnichten Beine, sondern der gewundene Körper eines Aals. Entsetzt schaute ich zu, wie Detective Wren als enorm großer Fisch aus seinem Anzug schlüpfte und über den schlammigen Uferhügel kroch, ehe er in den dunklen Fluss platschte. Dann zeigte sich eine Rückenflosse ähnlich der eines Hais, und er schwamm im Zickzack durch die schwarzen Fluten davon.
Zuletzt stierte mich David Dentman an, der meinen Kopf mit einer Hand immer wieder seitlich gegen die Treppe im See schlug.
Ich erwachte völlig verschwitzt und mit rauem Hals. Jodie strich mir mit kühler Hand das Haar von der Stirn. Am Horizont glühte die untergehende Sonne, dass es durchs Schlafzimmerfenster aussah, als stünden die Baumwipfel in Flammen. Ich schaute zum Straßenrand, wo auf einmal Jodie mit Beth im Schnee schwatzte. Ich verkrampfte innerlich; die kalten Finger ließen von mir ab, ehe ich schreien konnte.
Träume …
Der nächste Traum führte mich an eine Burg aus Pappkartons und Bootsstege, die sich zu einer Leiter geradewegs in den Himmel türmten. Schließlich heiratete ich eine Frau, die mit einem Monster schwanger war. Ich hieß Alan und lebte mit ihr an einem anderen See irgendwo im Land. Ein imaginärer Sommer brannte auf meinem Rücken und den Schultern, was mir sehr real vorkam, obwohl ich wusste, dass ich es mir nur zusammenspann. Mein Shirt klebte am Oberkörper, die Haut verkohlte und zischte vor Hitze. Konfuse Fieberträume.
In einem anderen Traum kroch ich aus dem Bett und schwebte über den Flur. Unten hörte ich jemanden sprechen, unwirklich nur, wie ein Phantom. Als ich mich über den Treppenabsatz bewegte, hielt ich mich mit beiden Händen am Geländer fest und schaute hinunter. Dort wich ein Schatten an die Wand zurück, also drehte ich mich um und glitt über die Stufen auf die Diele. Die Stimme wurde ein wenig lauter, da wusste ich intuitiv, dass es Jodie war, die da redete.
Während es mich ins Wohnzimmer zurückzog, kam ich mir einmal mehr vor wie im halluzinogenen Wahn, und dies wiederum trotz des Bewusstseins, dass ich träumte. Meine Füße streiften den Teppich allenthalben, und mein Kopf kam einem Heliumballon gleich. Ein brutaler Wind peitschte im Wohnzimmer und blies die Gardinen durch die geöffneten Fenster in den Vorgarten hinaus, wobei ich mich kurz fragte, woher er überhaupt rührte. Von dort, wo ich innehielt, sah ich Jodie von hinten auf dem Sofa sitzen. Ich näherte mich, lauschte ihrer Worte … und realisierte, dass sie eigentlich nichts sagte, sondern leise und gefühlvoll sang, liebreizend und wohltönend. Meine Mutter hatte ähnliche Weisen geträllert, als ich noch klein war.
A, du bist liebenswert!
B, du bist so wunderschön.
C, du bist ein Kind voll Charme!
D, du bist so entzückend.
E, du bist so aufregend!
F, du bist eine Feder in meinen Armen …
Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ihre Stimme stockte. Dann starrte ich hinab auf ihren Schoß … wo kurz, kurz das Bild eines Jungen aufflackerte, den sie in ihren Armen wiegte, ehe es wieder erlosch.
»Wo ist er hin?«, fragte ich.
»Er wird wieder zurückkommen«, sprach Jodie leise und fing wieder zu summen an.
»War er …?«
»Ja«, antwortete sie. »War er.«
»Ich ahnte, es könne vielleicht sein.«
Ihr Säuseln entspannte.
»Du singst wunderschön«, sagte ich ihr.
Das brachte sie zum Lächeln. Ich spürte es, ohne es zu sehen.
»Danke.«
»Zu dumm, dass ich bloß träume«, bedauerte ich.
»Nein«, behauptete Jodie. »Tust du nicht.«
Wenn man dem Alltag entflieht, bemerkt man, dass sich die Welt ebenso zurückzieht. Alles, was am Ende übrig bleibt, ist graue Leere. Sie wuchert in einem wie eine Krebszelle, wie eine Probe kranken Gewebes in einer Petrischale. Man schaut in sich hinein und erkennt es, das klaffende, trübe Loch im Kern seiner selbst. Wenn man so starrt, sieht man sich irgendwann selbst zurückstarren.
Ich war du, sagte Jodie. Ist das nicht witzig?
Man gerät in Vergessenheit, wird von Luft ersetzt, von Molekülen und Partikeln elektrischen Lichts. Man wurde gelöscht, entfernt. Ein Geräusch, fast wie wenn etwas platzt, begleitet euer Verschwinden, wenn jene Teilchen die Stelle einnehmen, die ihr noch eine Millisekunde zuvor ausgefüllt habt. So decken sie Zeit und Raum ab, radieren jedwede Erinnerung an euer Leben als Mensch aus. Man existiert nicht mehr.
Ist das nicht witzig?
Im Zuge dieser Selbstisolation wird man sich der Tatsache bewusst, dass man nie wirklich da war – nie richtig auf der Welt gewesen ist, denn die Natur kennt kein Aussterben, also bedeutet das Verschwinden, dass man von vornherein nie gelebt hat.
Ins Land der Lebenden kehrte ich an einem Mittwoch zurück. Im Haus herrschte Stille, denn Jodie war am College. Ein weiterer Sturm hatte die Stadt heimgesucht und im Schnee begraben und die Kiefern in der Ferne sahen aus wie weiße Spitzhüte von Hexen.
Im Haus war es eiskalt, obwohl das Thermostat konstante zwanzig Grad verhieß, aber ich traute ihm längst nicht mehr. Meine Krankheit hatte mir arg zugesetzt und mein Kopf fühlte sich wie in Watte gepackt an, und der Geschmack auf meiner Zunge entsprach dem des Inhalts eines Aschenbechers, also begab ich mich in die Küche und setzte Kaffee auf.
Nach der zweiten Tasse ging es mir besser. Ich entschloss, den Steins einen Besuch abzustatten, um etwas über die Dentmans zu erfahren. Nach meinem Abstecher zu Veronica und David in West Cumberland am Sonntag war es für mich allzu offensichtlich, dass etwas mit dieser Familie ganz und gar nicht in Ordnung war. Die bizarre Charakterzeichnung der fiktiven Dentmans aus meinen Notizbüchern wurde der Wirklichkeit nicht einmal annähernd gerecht. Adam hatte mir alles, was er wusste, über sie erzählt, doch das genügte nicht. Als unmittelbare Nachbarn mussten die Steins viel vom Familienleben nebenan aufgeschnappt haben. Ich war begierig darauf, möglichst alles in Erfahrung zu bringen, sowohl für mein Buch als auch zur Befriedigung meiner wachsenden Neugierde.
Die Geschichte, die sich in meinen Aufzeichnungen herauskristallisierte, beschrieb einen gebeutelten Jungen, der von seiner geistesgestörten Mutter sowie einem Onkel, der sich am Quälen seines Neffen erfreute, in einem Kellerverschlag gefangen gehalten wurde. Irgendwann ist der Junge alt genug, um seine Meinung auszusprechen, weshalb sich sein Onkel – mein David-Dentman-Charakter, um Kontinuität zu wahren, hatte ich ihn ebenfalls so genannt – zum Handeln gezwungen sah. So brachte er den Jungen um und ließ es wie einen Unfall aussehen. Bis dorthin hatte ich es ausgearbeitet, drei Notizblöcke voll mit meinem manischen Gekritzel, doch inwieweit ich damit ins Schwarze traf, wusste ich nicht sicher …
Das Telefon klingelte. Die Stimme am anderen Ende klang so alt und kratzig, wie ein verwitterter Kartoffelsack aussah. »Bin ich richtig bei Travis Glasgow?«
»Ja. Wer spricht denn?«
»Nun Mr. Glasgow, mein Name lautet Earl Parsons, und ich schätze, Sie können mich als Westlakes Antwort auf die Watergate Reporter Woodward und Bernstein bezeichnen. Ich erhielt einen Anruf von Sheila Brookner – einen Hinweis, wenn Sie so wollen – und erfuhr, dass eine echte Berühmtheit unter uns weilt.«
»Sheila Brookner?«, wiederholte ich unverständig. Dann fiel es mir ein: »Oh.« Sie war die Bibliothekarin, die mir das Zeitungsarchiv gezeigt hatte. Einen verrückten Moment lang dachte ich, der Kerl wolle mich des herausgerissenen Artikels wegen belangen.
»Sie meinte, Sie hätten die Bibliothek aufgesucht, um für ein neues Buch oder so etwas in der Art zu recherchieren.«
»Hmmm, so etwas in der Art.« Ich ließ mir seinen Vergleich mit Woodward und Bernstein durch den Kopf gehen, ehe ich schlussfolgerte: »Sie sind Journalist.«
Earl Parsons lachte wie ein alter Traktor, den man bei Kälte auf Hochtouren zu bringen versucht. »Ach, Sie machen mich richtig verlegen, wenn Sie das behaupten. Ich bin eigentlich ein pensionierter Arbeiter einer Mühle und freier Mitarbeiter für The Muledeer, wo ich eine Menge zu tun habe und immer wieder feststelle, wie klein unsere Stadt doch ist. Es ist mir ein wenig peinlich, aber ich muss zugeben, dass meine Kollegen größtenteils Studenten der Journalistik vom College sind.«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Eine Bekanntheit wie Sie schlägt ihre Zelte nicht alle Tage in Westlake auf.« Er gackerte erneut. »Eigentlich überhaupt nicht.«
»Bekanntheit ist etwas übertrieben, finde ich. Ich habe nur ein paar Horrorromane verfasst.«
»Von denen ich einen gerade lese«, erwiderte Earl, vielleicht um mich zu beeindrucken, obwohl ich nicht das Gefühl hatte, dass er log. »Schauriges Zeug, das steht fest.«
»Ja, sie sind gruselig«, entgegnete ich.
»Ich habe vor, eine nette Story fürs Feuilleton über Sie zu schreiben, falls Sie es erlauben. Dass Sie hergezogen sind, ist vermutlich die aufregendste Nachricht seit Dolly Murphys Sieg beim Kuchenesswettbewerb im vergangenen Herbst.«
Ich dachte an Elijah Dentmans Tod im See hinter meinem Haus, der definitiv aufsehenerregender war, verkniff mir aber, Earl darauf hinzuweisen.
»Ich muss betonen, dass ich Ihnen nicht auf die Nerven fallen möchte«, fuhr er fort. »Falls Sie Zeit haben – und das Wetter hält –, würde ich mich gern zum Interview mit Ihnen treffen.«
Ich wollte zusagen, als ich einer Bewegung im Wohnzimmer gewahr wurde. Wissend, dass es mitten im Winter kein offenes Fenster im Haus gab … blähten sich die Gardinen wie bei Durchzug. Ich spürte einen Kloß im Hals und konnte mehrere Sekunden lang keinen Satz formulieren.
»Natürlich nur«, Earl kam mir zuvor, zweifellos weil er mein Schweigen als Missbilligung auffasste, »wenn es nicht allzu viele Umstände bereitet.«
»Ach was«, brachte ich schließlich hervor. Die Wörter kamen als Pieplaut hervor, aber ich glaubte nicht, dass Earl es bemerkt hatte. »Geht schon klar. Ich fühle mich geschmeichelt.«
»Was halten Sie von morgen?«
»Kommt mir gelegen.«
»Ich arbeite nicht von zu Hause aus, also müssen sie zu –«
»Kommen Sie einfach bei mir vorbei«, bot ich an, während ich die Gardinen im Auge behielt. Sie waren halb durchsichtig und das Tageslicht auf der anderen Seite zu einem melancholischen Nimbus abgestumpft. Hinter dem Stoff erkannte ich ohne Zweifel die Umrisse eines kleinen Kindes, eine ätherische Gestalt zwischen Scheibe und Gardine, die wie ein Totenschleier über ihm hing.
Er, dachte ich. Elijah Dentman.
»Wie klingt Mittag für Sie?« Earls Stimme klang, als töne sie vom Mond her.
»Prima.«
»Hey! Fantastisch! Dann sehen wir uns, Mr. Glasgow.«
»Bis dann«, murmelte ich und legte auf.
Meine Handinnenflächen waren schmierig vom Schweiß, und immer noch hatte ich diesen widerlichen Geschmack im Mund. Langsam legte ich den Weg von der Küche ins Wohnzimmer zurück. Mit jedem Schritt nahm das Kind, das ich für Elijah Dentman oder seine wie auch immer gearteten Überreste auf dieser Welt hielt, die Gestalt der Stechpalmen vor dem Haus an. Diese schlugen im Wind gegen die Fenster, deren Vorhänge ich, als ich davorstand, nicht mehr aufziehen musste, um genau zu wissen, dass ich die Zweige für den Geist eines verstorbenen Kindes gehalten hatte. Das Kratzen der gezackten Blätter am Glas klang wie Zähneknirschen.
Ich bückte mich, um die Hand über den Heizungsschlitz am Boden unter den Gardinen zu halten, unterbrach damit den Ausstoß kalter Luft von unten, und der Stoff kam zur Ruhe. Einen Augenblick lang hielt ich den Atem an, dann raschelte es empfindlich laut hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass sich die Seiten meines Notizblocks wellten und flatterten, ohne umzuschlagen, jedoch sah es so aus, als ob nicht viel dazu fehlte.
Ich sprach Elijahs Namen aus und wartete.
Keine Antwort.
Ich spürte einen Umschwung in mir und ich probierte es ein zweites Mal. Lauter diesmal. Ich war verwirrt und hielt mich vorübergehend wieder für einen Jungen von dreizehn oder vierzehn, der mitten in der Nacht konfus im Haus seiner Eltern in Eastport aufwachte. Aber nein, ich befand mich hier in meinem eigenen Heim und war erwachsen. Geister gab es nicht, genauso wenig tote Jungen beziehungsweise einen toten Bruder.
Fünf Minuten später, nachdem ich ein Paar Arbeitsstiefel und einen Mantel angezogen hatte, schnappte ich mir eine ungeöffnete Flasche Pinot Noir und trottete hinaus in den Schnee. Der Wind wehte beißend kalt, und es schneite, während ich den Hügel erklomm, der zum Haus der Steins führte. Hinter den Bäumen konnte ich Schwaden pechschwarzen Rauches erkennen, die aus dem Steinkamin aufstiegen, der sich wie ein dünnes Gehölz im Nordwind neigte. Auf der Veranda klopfte ich mit vom Frost steifer Faust gegen die Tür aus massiver Eiche. Ich bildete mir ein, eine beschwingte Bigband-Musik aus dem Haus zu hören.
Hinter dem Fenster links teilten sich die Falten eines Seidenvorhangs und fielen gleich wieder zurück. Kurz darauf öffnete Ira Stein die Tür. »Mr. Glasgow«, grüßte er, zweifellos überrascht, mich auf der Veranda zu sehen. Er trug eine leichte Hose mit Bügelfalten und ein Sweatshirt mit Reißverschluss, das hellbraun wie Sägemehl war. Sein Lächeln wirkte ein wenig belämmert, nicht zuletzt wegen der auffallend dicken Brillengläser. »Kein sonderlich angenehmes Wetter für einen Spaziergang, nicht wahr?«
»Als wir einander auf der Weihnachtsparty meines Bruders begegneten, benahm ich mich ein wenig ungeschickt. Ich wollte Ihnen das hier vorbeibringen.« Ich reichte ihm den Wein.
»Oh, vielen Dank. Hoffentlich habe ich an dem Abend nicht irgendetwas aufgewirbelt.«
Oh doch, Freundchen, du hast ja keine Ahnung, hätte ich gern gesagt. Fast ließ ich mich zu einem manischen Lachen hinreißen. »Überhaupt nicht. Gut, ich wusste zwar nicht, was mit dem Jungen der Dentmans passiert ist, aber Adam erklärte es mir. Ist schon okay. Es ist nichts weiter passiert.«
»Bitte, kommen Sie rein.« Ira trat zur Seite und hielt mir die Tür auf.
Ich stampfte mit den Füßen auf, schüttelte den Schnee ab und ging hinein. Ira schloss die Tür hinter mir.
Die Einrichtung erinnerte an ein Museum. An den Wänden hingen riesige Lithografien von Gebäuden aus dem alten Rom und mediterranen Grotten, zur See fahrenden Schiffen und zahllosen Szenen aus Landschaften in Europa, die kostspielig in ihren Messingrahmen wirkten. Die ganzen Möbel sahen ausnahmslos neu oder unberührt aus, wie auf Fotos in einem Katalog. Der Orientteppich war dick wie eine Matratze, resistent gegen Abdrücke von Schuhen, wenn man darüber lief. Ich schaute von der hübsch ummauerten Feuerstelle hin zu Bücherregalen hinter Glas, auf denen zahlreiche in Leder gebundene Bücher standen. Ihre Rücken reihten sich makellos aneinander. Es roch nach Mahagoni, gespitzten Bleistiften und erinnerte an den Geruch alter Zigarren wie im Versammlungssaal einer traditionsreichen Bruderschaft.
So sieht es nur bei Leuten aus, die keine Kinder haben, sagte mir eine Stimme aus dem Hinterkopf, die sehr deutlich nach Jodie klang.
»Wow«, sagte ich. »Schön haben Sie es hier.«
Ein weißer Malteser, der vor dem Kamin auf einem Polsterhocker aus Satin saß, hob den Kopf und musterte mich mit triefenden schwarzen Augen. Im Hintergrund kratzte und ächzte ein alter Victor-Victrola-Plattenspieler, als eine Orchesternummer endete und eine andere anfing.
Ira begab sich an einen prachtvoll gefertigten Getränkeschrank, neben dem gläserne Schiebetüren auf die Terrasse hinterm Haus führten. Nachdem er den Pinot geöffnet hatte, füllte er zwei Gläser mit der blutroten Flüssigkeit. Eines überreichte er mir, dann bot er mir einen Platz auf dem mit Knöpfen aus Messing bestückten Fauteuil. Er ließ sich mir gegenüber in einem ähnlichen Sessel vor dem Feuer nieder.
Der Malteser beäugte mich nach wie vor. Wie ein flauschig weißer Pascha sah er aus, während er die Augenbrauen mehrmals hochzog und wieder entspannte.
Nancys Stimme hallte durch den Flur. Sie rief den Namen ihres Gatten.
»Wir sind hier.«
Sie erschien in der Tür, noch genauso fragil, wie ich sie von der Weihnachtsparty her in Erinnerung hatte. Über der braunen Cordhose trug sie einen Pullover, der dem ihres Mannes aufs Haar glich. Der Malteser fing zu winseln an, woraufhin sie ihm husch zuraunte, und er solle ein braver kleiner Fauntleroy sein, husch jetzt, husch.
»Du erinnerst dich bestimmt noch an Mr. Glasgow von nebenan, Liebes?«
Nancy nickte mir distanziert und ohne Lächeln zu. Ich bemerkte Audubon-Kunstdrucke hinter ihr an der Wand. »Mr. Glasgow.«
»Bitte«, sagte ich, »nennen Sie mich Travis.«
»Ich lernte Ihre Frau auf der Weihnachtsparty kennen. Eine reizende Frau.«
»Ja, ist sie, und ich halte sie gehörig auf Trab.« Natürlich war das ein Witz, doch Nancy schien keinen Sinn für Humor zu besitzen.
»Er hat uns Wein mitgebracht«, ließ Ira sie wissen, was sich so ungewöhnlich leutselig anhörte, dass ich es auf möglichen Alkoholismus zurückführte. »Ich könnte dir ein Glas einschenken.«
»Nicht vor dem Abendessen«, sagte sie förmlich. »Ich lasse euch Männer mal allein.« Damit drehte sie sich um und ging den Flur hinunter.
»Ahhh«, seufzte Ira, mit dem Kopf gegen die Rückenlehne lehnend, während der Plattenspieler zum nächsten Stück überging. Ich war mir nicht sicher, aber es klang wie eine Nummer von Duke Ellington. »Wunderbare Musik, was?«
Ich schaute zur Terrassentür hinaus, wo die gefrorene Oberfläche des Sees zwischen den kahlen Zweigen der Bäume schimmerte. An der Wand neben der Scheibe hing eine große Kanadagans, die die Schwingen ausgebreitet hatte und so aussah, als fliege sie aus dem Holzschild, an dem sie befestigt war.
Ira dachte wohl, dass ich die Gans bewunderte, weil er fragte: »Gehen Sie jagen?«
»Nicht wirklich.« Dabei dachte ich an die toten Vögel, die ich im vergangenen Monat in dem Schuhkarton entdeckt hatte.
»Die erlegte ich im vorletzten Sommer an der Ostküste«, bemerkte er, indem er die Gans über die Schulter hinweg ansah. Sie starrte unbeeindruckt zurück. »Als kleiner Junge ging ich ständig mit meinem Vater zur Jagd. Heute komme ich kaum noch raus. Die Gicht, sie verstehen? Nehme mir aber vor, wenigstens einmal in der Saison loszuziehen.« Er beäugte sein Glas. »Ein guter Tropfen.«
Es war ein billiger Tafelwein und deshalb vermutlich weit weniger erlesen als das, was er gewöhnlich zu sich nahm, aber nach dieser Bemerkung sah ich mich in dem, was ich vermutet hatte, bestätigt: Ira Stein war Alkoholiker.
»Ich gebe zu, mit einem Hintergedanken hergekommen zu sein«, gestand ich, nachdem Ira uns wieder eingegossen und das Vinyl gewechselt hatte.
»Der wäre?«
»Ich schreibe gerade ein Buch über verschiedene Kleinstädte, insbesondere von Westlake.« Mit der Tür ins Haus fallen und direkt auf die Dentmans zu sprechen kommen wollte ich nicht, also versuchte ich diesen Umweg. Vielleicht gelang es mir, das Thema auf diese Weise zur Sprache zu bringen, ohne allzu offensichtlichen Übereifer durchblicken zu lassen. »Soweit ich weiß, leben Sie und Nancy schon viele Jahre hier.«
»Fast fünfundzwanzig Jahre, ja. Wir waren eines der ersten Paare im Ort. Wir zogen aus Pennsylvania her, nachdem ich einen Posten an der Universität erhalten hatte. Englische Literatur.« Ira verwies mit einer Armbewegung auf die Feuerstelle und die Schränke daneben. »Ich weiß noch, dass es in der Straße nur zwei Häuser gab und alles außer der Hauptstraße aus Wald bestand.«
»Dann waren das wohl Ihr Haus und das der Dentmans?« Es war eine logische Schlussfolgerung: Alle weiteren Anwesen befanden sich auf der anderen Straßenseite und glichen wie eine Tortenecke der anderen. Nur unser Haus und das der Steins besaßen eine eigenständige Architektur.
»Damals verstand man noch das Handwerk und baute solide Häuser. Nicht so wie diese Kartenhäuser heutzutage.« Er senkte die Stimme und schaute mich an wie einen Komplizen, mit dem er einen Bankraub plante. »Zwischen meinem und Ihrem Grundstück erstreckt sich eine größere Fläche, als alle anderen Bewohner dieser Straße zusammen besitzen. Haben Sie sich das schon genauer angesehen? Sie sind dort zusammengepfercht, um Himmels willen! Sie können dort nicht mal scheißen gehen, ohne dass der Nachbar am Gestank erstickt.«
»Ira«, schalt Nancy, die wieder hinter uns aufgetaucht war. »Himmel.« Sie schüttelte den Kopf, bis sie in die Küche ging, was ich anhand klappernder Töpfe und Pfannen vermutete.
»Es stimmt aber«, schloss er. Sein Ton klang wieder gefestigt. Dann wurde er noch lauter. »Nan? Kannst du uns das Album bringen? Nan!«
»Du brauchst nicht gleich zu brüllen«, rief sie zurück. »Was gibt‘s denn?«
»Der junge Mann will etwas über die Geschichte der Stadt wissen. Wo ist das Album?«
»Wirklich«, begann ich. »Das ist jetzt nicht nötig.«
»Liegt im Hocker«, antwortete Nancy.
»Dann mal los.« Ira erhob sich und ging hinüber, wo sich das weiße Bündel genötigt sah, seinen possierlichen Leib aus dem Weg zu hieven. »Auf, auf!«, rief Ira dem Hund zu und klatschte in die Hände.
»Schrei den Hund nicht an.«
»Auf!«
Entrüstet beziehungsweise rührseliger, als ich es von einem Hündchen erwartet hätte, schaute der Malteser Ira Stein an und sprang auf den Teppich. Vor dem Feuer kauerte es sich zusammen.
Ira klappte den Sitz auf und wühlte im Inneren herum, bevor er ein Fotoalbum mit Kunststoffeinband herauszog, das er mir ohne Aufhebens in den Schoß warf, bevor er sich wieder niederließ.
»Was ist das?«, fragte ich beim Aufschlagen. Die Zwischenfolien hafteten an den Seiten.
»Alte Bilder aus der Zeit kurz nach unserem Einzug.«
Ich blätterte darin und musste Interesse vortäuschen, denn viele der Fotos waren nicht in Westlake geschossen worden, sondern zeigten Ira und Nancy in jungen Jahren neben einer Reihe völlig Fremder, bei denen es sich um Freunde oder Verwandte handeln musste.
»Wir können uns aber nach all den Baumaßnahmen immer noch glücklich schätzen«, erklärte Ira. »Die Gegend ist nicht sonderlich dicht besiedelt; mir ist es recht.« Dann verzog er das Gesicht. »Was um alles in der Welt hat Sie dazu bewogen, ein Buch über Westlake zu schreiben?«
»Schätze, die Geheimnisse hier faszinieren mich.«
»Welche Geheimnisse wären das?«
»Welche auch immer es gibt.« Ich beugte mich in dem Fauteuil nach vorne, wobei das Album auf einem Knie ruhte und das Weinglas zwischen meinen Oberschenkeln klemmte. »Wie gut kannten Sie die Dentmans?«
»Nur flüchtig.«
»Wann zogen sie her?«
»Das weiß nur der Allmächtige.« Er trank leer, stand schwungvoll auf und ging wieder hinüber zum Getränkeschrank. »Sie lebten schon lange Zeit vor uns hier.«
»Also waren die Dentmans die erste Familie hier?«
»Liegt an der Definition von Familie. Es war nur ein alter Mann mit seiner Tochter. Bernard hieß er. Sein Sohn – er war ein wenig älter als das Mädchen, vielleicht sechzehn oder siebzehn damals – ging ständig ein und aus. Als Nan und ich herkamen, dürfte seine Schwester höchstens dreizehn gewesen sein.«
»Was geschah mit der Mutter der Kinder?«
Ira kehrte zu seinem Sessel zurück. Er nahm Platz, gleichzeitig schnaufte er schwerfällig, als koste es ihn all seine Kraft. »Habe nie etwas von ihr gehört.«
»Wie war Bernard Dentman so als Mensch?«
»Er galt als Einsiedler. Er lebte in dem Haus, bis er letztes Jahr starb. Ich glaube nicht, dass ich ihn in all den Jahren häufiger als ein Dutzend Mal draußen gesehen habe, oder, Nancy?«
Als ich mich umdrehte, stand seine Frau in der Tür. Sie hielt eine dampfende Tasse in den Händen. Sie wirkte unendlich gelangweilt. »Meine Mutter hätte ihn als geplagte Seele bezeichnet«, erklärte sie, und beim Nachklang dieses Ausdruckes wurde mir leicht kribbelig.
»Was hielten Sie von den Kindern?«, stocherte ich weiter. »David und Veronica?«
Falls es Ira überraschte, dass ich die Namen der beiden kannte, zeigte er es nicht. »Wie gesagt, der Junge kam und ging. Vielleicht zur Schule außerhalb der Stadt.«
»Oder er steckte regelmäßig in Schwierigkeiten«, fügte Nancy hinzu.
Ira zuckte nach kurzem Zögern mit den Achseln, was darauf schließen ließ, dass er seiner Frau nicht gänzlich widersprach.
»Und das Mädchen?«
»Ein seltsames Kind«, befand Nancy. Ihre Stimme klang wie eine verstimmte Geige, weshalb ich Gänsehaut bekam, sobald sie sie erhob. »Bleich wie ein Geist. Sie verließ das Haus selten, wenn sie nicht gerade die Schule besuchte, doch selbst das ging irgendwann vorüber. Es hieß, sie wurde dort arg gehänselt.«
»Demnach sind die Kinder ausgezogen, als sie alt genug waren«, fasste ich zusammen, um die beiden weiter gesprächig zu halten.
»Na ja«, schränkte Nancy mit einer Hand an ihrer Kehle ein. »Der Sohn kam nach einer Weile wieder zurück. Weißt du noch, Ira? Er blieb im Haus und half seinem Vater, wie ich glaube, mit der Erziehung des Mädchens.«
»Und danach?«, hakte ich gleich nach.
»Verschwanden sie«, übernahm Ira. Zum dritten Mal stand er auf, um sein Glas aufzufüllen, obwohl es nicht einmal leer war. Hinter mir schnalzte Nancy abschätzig. »Ich hatte die Kinder ganz vergessen, aber letztes Jahr, als der alte Mann krank wurde, kreuzten sie wieder auf.«
»Im Januar«, berichtigte Nancy. »Also ist es schon zwei Jahre her.«
Ira winkte ab, ohne sie anzuschauen. Dann trat er mit frischem Wein im Glas und dem Rest in der Flasche vor den Kamin. Nachdem er mir eingeschenkt hatte, stellte er die fast leere Flasche auf einen antiken Beistelltisch zwischen den beiden Sitzgelegenheiten.
»Sie waren kaum wiederzuerkennen«, sprach er weiter. »Das Mädchen hatte mittlerweile natürlich ihren eigenen Sohn im Schlepptau.«
»Elijah Dentman«, hörte ich mich selbst wie im Gebet murmeln. Verlegen stellte ich mein Glas auf den Tisch, bevor ich es mit der Hand zerbrach.
Der Malteser hob seinen struppigen Kopf vom Teppich und jaulte.
»Ei-ei-ei«, turtelte Nancy im lächerlichen Bariton, dass man meinte, sie sei aus dem Irrenhaus ausgebrochen. »Ei, mein Kleiner!«
Ira, der zweifellos an solche Ausbrüche gewöhnt war, schien es kaum zu bemerken. »Als der alte Mann starb, erwartete ich, dass die beiden Verbliebenen auch bald wieder verschwanden. Haus verkaufen, Geld machen. Sie blieben. Vermutlich wären sie noch immer hier, wäre das Kind nicht …«
»Sei lieb«, unterbrach Nancy, wobei ich unsicher war, ob sie ihren Mann oder den Hund meinte.
»Irgendetwas stimmte mit dem Jungen nicht«, behauptete Ira. »Sie schickten ihn nicht zur Schule, sondern ließen eine Frau kommen, die ihm zu Hause Unterricht erteilte, doch das währte nicht sonderlich lange.«
»Althea Coulter«, gab Nancy an. »Sie wohnte drüben in Frostburg. Ich erinnere mich an sie. Wir wechselten das eine oder andere Wort, wenn wir uns draußen über den Weg liefen.«
»Haben Sie sich auch über die Dentmans unterhalten?«
Ira runzelte die Stirn und übernahm für seine Frau. »Was hätte Althea schon berichten können?«
»Weiß ich nicht. Wenn die Familie wirklich so seltsam war, wie viele hier glauben, konnte sie bestimmt einiges vom Alltag im Haus erzählen. Ein paar eigentümliche Anekdoten, vielleicht?«
»Nun ja«, sagte Ira. »Ich hätte sie nie danach gefragt, und Nancy gewiss auch nicht.«
»Sie war eine anständige Frau«, meinte Nancy. Sie hob die heiße Tasse an. Ihre Worte klangen, als sei Althea Coulter schon tot.
»Das wäre unprofessionell gewesen«, fuhr Ira fort, als hätte seine Gattin nichts gesagt. Er rückte dichter zu mir, jetzt fiel mir die feuchte Trübe seiner Augen hinter den Brillengläsern besonders deutlich auf. »An jenem Tag hätte jemand am See auf ihn achtgeben müssen.«
Die Unterhaltung führte uns zu den Umständen von Elijahs Tod. Ich verspürte ein gewisses Hochgefühl – ein Empfinden, für das ich mich später verachten sollte, sobald ich Zeit fand, das Gespräch im Geiste zu rekapitulieren.
»Was genau geschah an dem Tag?«, wollte ich wissen. Mit dieser Frage kam es mir vor, als feure ich eine Leuchtrakete in den Nachthimmel.
»Niemand passte auf den Jungen auf«, erwiderte Ira schlicht.
»Er spielte dort draußen auf dieser verfluchten Treppe, schlug sich den Schädel an, als er abrutschte, und ertrank.«
»Haben Sie beide etwas gehört oder gesehen?« Da ich die Zeitungen durchstöbert hatte, wusste ich die Antwort natürlich bereits. Dennoch ich hielt es für den logischsten Anschluss, zumal ich ihren Redefluss auf diese Weise förderte.
»Nancy hörte ihn schreien.«
»Ich hörte jemanden schreien«, korrigierte sie.
Ich fragte sie, was sie damit meinte.
»Es war später Nachmittag. Es war etwas kühler, also hatten wir die Fenster geöffnet. Ich war gerade mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt, als ich dieses schrille … ich weiß nicht … ein hochtönendes Heulen hörte.«
»Um wieviel Uhr war das in etwa?«
»Rund um fünf Uhr dreißig. Wenn ich zu spät zu Abend esse, bekomme ich eine Magenverstimmung.«
»Aber Sie sind nicht sicher, ob es der Junge war.«
»Ehrlich gesagt dachte ich mir in dem Moment nichts dabei. Sie werden bald selbst feststellen, dass die Geräuschkulisse am See im Sommer ziemlich außergewöhnlich ist – ob Vogelzwitschern, andere Tiere oder spielende Kinder. Selbst den Verkehrslärm vom anderen Ende der Stadt bekommt man in kühlen Sommernächten über das Wasser hinweg mit, und Gott stehe uns bei, wenn die Seetaucher zurückkehren um sich zu rächen. Das Besondere an dem Gewässer besteht darin, dass sich Geräusche darauf verändern, außer Proportion geraten und verfremdet klingen, sodass man nur noch rätseln kann, was sich dahinter verbirgt. Man nimmt sie von links wahr, obwohl ihr Ursprung in Wirklichkeit eine Viertelmeile in der entgegengesetzten Richtung hinter den Kiefern liegt.«
»Wann wussten sie mit Bestimmtheit, dass es Elijah war?«
»Wahrscheinlich sobald die Polizei hier war und fragte, ob ich etwas Ungewöhnliches bemerkt hätte«, erwiderte Nancy. »Ich dachte lange und gründlich nach, ehe ich aussagte, dass ich jemanden schreien gehört hatte oder zumindest glaubte, es getan zu haben. Aber ich beharrte nicht darauf, dass es sich um den Kleinen handelte«, fügte sie rasch an, und dieses Verhalten verriet mir, dass sich die unglückliche Frau manche Nacht in Ungewissheit zermürbt hatte. »Das möchte ich ausdrücklich betonen.«
»Verstehe«, sagte ich. »Haben Sie beide Elijah nachmittags noch gesehen?«
»Ich sah ihn«, sagte Nancy, als bekenne sie sich eines grausamen Verbrechens. Sie sah elend aus.
Ihre Haut war so bleich geworden, dass ich dachte, sie würde, wenn ich sie mit einer Nadel stach, nicht bluten. »Ich ging etwas früher mit Fauntleroy am See Gassi, wo ich Elijah sah. Er stand auf dem Holzgerüst und sprang ins Wasser, wie von einem Sprungbrett. Ich weiß noch, dass ich den Kopf schüttelte, weil ich es für so gefährlich hielt.«
»Der Rest dieses Steges liegt unter Wasser«, unterbrach Ira. »Taucht man zu tief, stößt man dagegen.« Sein Gesichtsausdruck unterstrich, dass sich seine Befürchtungen, was die Risiken der halb versunkenen Treppe anging, allzu bitterlich bewahrheitet hatten. »Im Sommer müssen wir die Kinder aus der Nachbarschaft ständig von dort vertreiben.«
»Haben Sie auch etwas an diesem Tag mitbekommen, Ira?«
»Da es ein Werktag war, hielt ich am College Nachmittagsunterricht.«
»Um wie viel Uhr war das?«
»Der Unterricht endete gegen fünfzehn nach sechs. Für gewöhnlich ging ich danach ins Büro, um meine Sachen zusammenzupacken, bevor ich aufbrach.« Er dachte kurz nach und fuhr fort: »Wahrscheinlich kam ich um etwa sieben nach Hause zurück.«
Nachdem ich das verinnerlicht hatte, wandte ich mich wieder Nancy zu. »War er allein, als sie ihn auf dem See sahen?«
»Ja.« Sie sprach jetzt leiser, als stünde sie kurz davor, ein übles Gerücht in die Welt zu setzen. »Keines der anderen Kinder wollte mit ihm spielen.«
»Weshalb?«
Zum ersten Mal seit Beginn unserer Konversation schwiegen die Steins geschlossen. Nancy starrte in ihre Tasse, die nicht mehr dampfte. Ich rechnete vorübergehend damit, dass sie sich gleich wieder in die Küche flüchtete.
Schlussendlich sagte Ira. »Nur zu. Erzähl ihm von dem Hund.«
»Chamberlain war nicht bloß ein Hund«, wies ihn Nancy scharf zurecht. Sie klang aufrichtig verletzt.
»Wir hatten einmal zwei dieser Püppchen«, erklärte Ira, indem er mit einem Pantoffel auf Fauntleroy zeigte. (Der Hund musste wohl die Geringschätzung bemerkt haben, da er unterschwellig knurrte.) »Chamberlain bekam vor etwa zwei Jahren Krebs und starb im vergangenen Frühling.«
»Die Behandlung schlug nicht an«, bedauerte Nancy.
»Der Doc empfahl uns Tabletten, die wir, als die Zeit gekommen war, unter sein Futter mengten. Er schlief sanft ein.«
»Und schmerzlos«, ergänzte sie.
»Am Morgen darauf fand ich ihn tot dort drüben.« Ira zeigte auf einen rechteckigen Lichtfleck am Fußboden vor der Terrassentür. »Gut möglich, dass er in der Sonne sterben wollte.«
Nancy schniefte. Ich brachte es nicht zustande, sie anzusehen.
»Ich nahm ihn mit in den Wald und begrub ihn auf halbem Weg den Hang hinunter, kurz bevor der Boden zu felsig wird. Gut eine Stunde dauerte es; man unterschätzt die Größe eines Hundes, wenn man ihn unter die Erde bringen muss. Als ich müde und verschwitzt aufschaute, sah ich den kleinen Dentman zwischen den Bäumen. Er beobachtete mich aus einer Entfernung von etwa zwanzig Schritten. Ich dachte mir nichts dabei, bis ich ein paar Tage später wieder dort vorbeikam. Ich wollte zum Angeln an den See gehen und fand das Loch aufgegraben vor, und der Kadaver des Hundes fehlte.«
»Gott, sei ihm gnädig«, flüsterte Nancy. Sie ließ sich sogar dazu hinreißen, sich zu bekreuzigen.
Die Schallplatte gegenüber im Zimmer war zu Ende, man hörte nur noch die Nadel in der Endrille schleifen.
»Moment«, lenkte ich ein. »Wollen Sie damit andeuten, Elijah Dentman habe Ihren toten Hund ausgegraben und sich mit ihm davongemacht?«
»Ich behaupte nur,«, wiederholte Ira gereizt, »dass er der einzige Mensch gewesen ist, der wusste, wo ich den Hund bestattet habe. Wenige Tage später war das Grab offen, und von Chamberlain fehlte jede Spur. Jetzt dürfen Sie zwei und zwei zusammenzählen.«
»Aber … wieso?« Andere Worte fand ich nicht. Diese neue Einzelheit hatte mich kalt erwischt, auch nach den toten Vögeln, die mir im Vormonat in dem Geheimversteck zugefallen waren.
»Wer weiß?«, sagte Ira. »Erklären Sie es mir.«
»Das ist ein morbides Gespräch«, bemerkte Nancy im Umdrehen. Sie eilte in die Küche, wobei ich glaubte, sie schluchzen zu hören, sobald sie außer Sicht war.
»Was hat all dies überhaupt mit der Geschichte von Westlake zu tun?« Offenbar hatte Ira zu wenig Wein getrunken, um den seltsamen Verlauf unseres Gesprächs nicht zu hinterfragen.
Wie um mir keine Blöße zu geben, widmete ich mich wieder dem Fotoalbum und sah einige Seiten durch. »Wir haben uns wohl ein bisschen verrannt – sind vom Thema abgeschweift, nicht wahr?«
Ira stand auf, um eine andere Platte aufzulegen.
Ich blätterte weiter, ohne wirklich auf die Motive zu achten. Es bereitete mir Schwierigkeiten, alles zu verdauen, was mir gerade unterbreitet worden war. Stimmte es tatsächlich? Hatte Elijah den toten Hund der Steins ausgebuddelt, und falls ja – zu welchem Zweck?
Mit welchen Motiven darfst du bei einem verstörten kleinen Jungen rechnen?, fragte die Stimme des Therapeuten in mir. Erneut fielen mir die Küken ein, die ich in einer Mischung aus Wut und Verwirrung nach Kyles Tod zerquetscht hatte. Die Welt konnte ein gemeiner, verletzender Ort sein.
Ira wählte Billie Holiday und schwankte eine Weile betrunken zur Musik vor dem Plattenspieler.
Beim Umblättern hielt ich inne. Ich hatte nicht bewusst hingesehen, sondern nur zufällig den passenden Augenblick eingefangen. Es war das richtige Foto. Das eigentlich undenkbare Foto. Ich fing so heftig zu schwitzen an, dass ich befürchtete, Flecke auf dem Ohrensessel zu hinterlassen.
»Was ist das?«, brachte ich heraus, wobei ich sehr deutlich wahrnahm, wie die Wörter geradezu an meinem Gaumen klebenblieben.
Ira kam zu mir und schaute über meine Schulter. »Das ist die Treppe, bevor der heftige Sturm sie aus der Erde riss und mitten in den See schleuderte. Sie war ein alter Anglersteg – hatte ich davon nichts erzählt? Zum größten Teil liegt er ja unter Wasser. Für Kinder zu gefährlich, um ihn zum Springen zu benutzen.«
Mein Herz schlug so heftig, dass ich auf Iras Frage wartete, was denn hier so hämmerte. Eine einzelne Schweißperle tropfte von meiner Stirn auf das Foto, so laut, dass ich hätte schwören können es gehört zu haben: Platsch!
Auf dem Foto sah man einen Doppelsteg, eine Replik, wie jene aus meiner Kindheit. Derjenigen, die mir zwanzig Jahre zuvor an dem Mord meines Bruders behilflich war.
Im Sommer meines dreizehnten Lebensjahres war ich besonders aufständisch. Viel davon lag vor allem an meiner inneren Unruhe, die bereits im Schuljahr davor begonnen hatte, als mir der Unterricht sterbenslangweilig wurde, weshalb ich meine Gedanken immer weiter schweifen ließ. Ich kritzelte obszöne, pornografisch ähnliche Motive an die Seitenränder meiner Schulbücher und ersann groteske Märchen über Zombies und Werwölfe statt ordentlicher Aufsätze. Dafür, dass ich einem Vertretungslehrer ein paar Klugscheißer-Antworten gegeben hatte, musste ich eine Woche nachsitzen, und einmal flutete ich, nachdem mich Freunde dazu angestiftet hatten, die Jungentoilette, indem ich die Urinale mit Klopapier verstopfte und die Spülungen mit Industriegummibändern fixierte.
Es war mein letztes Jahr, bevor ich wie Adam zur High School gehen sollte. Dass ich so rebellisch war, rührte in erster Linie von dem Wunsch her, mir den Respekt meines Bruders und seiner Freunde zu erarbeiten.
Jener Sommer brachte eine zuvor unerlaubte Freiheit mit sich, denn ich durfte länger ausgehen und endlich ohne Erwachsenenbegleitung mit dem Rad über die Zugbrücke in die Innenstadt von Eastport fahren. Diese neuen Freiheiten brachten mir den Luxus, Adam bei seinen Streifzügen um die Häuser seiner Freunde zu begleiten, wenngleich er manchmal ungehalten war und mir sagte, ich solle abhauen. Meistens sagte er allerdings nichts.
Wir spielten oft Baseball im Quiet Waters Park und fischten im öligen Wasser am Segelhafen gelegentlich nach Krabben, mit Hühnerköpfen als Köder. Dort schwammen wir auch, obwohl wir es einfacher im Fluss hinter unserem Haus hätten tun können, wo Mutter uns dann für gewöhnlich zum Abendessen hineinrief, und die untergehende Sonne fuchsienfarbige Streifen am Horizont zog. Bisweilen ließ sich Kyle auf der Terrasse hinterm Haus blicken und schaute uns über das Dach des Schuppens hinweg zu.
In jenem Sommer wurde er zehn und durfte mit uns zum Fluss kommen, solange Adam versprach, auf ihn achtzugeben. Kyle konnte schwimmen – als Kinder aus einer kleinen Doppelhaushälfte in Eastport hatten wir alle es bereits früh gelernt –, doch die Strömung erwies sich manchmal als tückisch, ohne dass man es schnell genug merkte. Obwohl wir niemanden kannten, dem es bisher passiert war, rankten sich zahllose Legenden aus der Gegend um achtlose Jungen und Mädchen, welche die Flut mitgerissen und hinaus in die Bucht gespült hatte.
(Gil Gorman, ein bulliger Schlägertyp mit roten Haaren, der bei Miss McKenzie in Sozialkunde hockte, brüstete sich mit einem Cousin, der den Wellen zum Opfer gefallen und in den Chesapeake getrieben worden sei. Monate später erst habe sich der Leichnam des armen Jungen weithin von Fischen abgenagt wieder gezeigt, und zwar – Gil hob diesen Teil immer besonders hervor – am anderen Ufer des Atlantiks vor England. Natürlich hielt ich schon als Junge die Story im Großen und Ganzen für Bullshit, doch manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen konnte, kam mir Gils vom Schicksal gestrafter Cousin wieder in den Sinn. Ich stellte ihn mir auf hoher See vor, wie sein Kopf gleich einem Korken im tiefschwarzen Wasser des Meeres auf- und abtauchte, zu dem sternenübersäten Himmel um Hilfe brüllend, weil ihm ein übergroßes, ungesehenes Meeresungetüm die Zehen einzeln abknabberte.)
An manchen Abenden im Sommer, wenn Vater wenig zu tun hatte und etwas mit uns unternehmen konnte, schlugen wir gemeinsam mit ihm hinter dem Haus ein Lager auf, nachdem Mutter zu Bett gegangen war, lauschten den Nachtschwalben und blickten den Silbermond an, der durch das geschmeidige Geäst der Bäume strahlte.
Vater rauchte braune Zigarillos, die nach Bourbon rochen, und wenn wir ihn lange genug anbettelten, ließ er sich dazu herab, die haarsträubendsten Spukgeschichten zu erzählen, die ich je gehört habe, sogar bis zum heutigen Tag. Geister, sagte er, bevölkerten die Wälder und Wasserwege der Region, weshalb viele Häuser, Gaststätten und Absteigen in unserem geschichtsträchtigen Bezirk verwunschen seien. Wir erfuhren von Ellicott City, einer alten Stadt mit Mühle in Howard County auf sieben ausladenden, schwarzen Hügeln, wo an einem bewaldeten Hang weit oberhalb der Bahnschienen eine längst verlassene, ausgebrannte Nervenheilanstalt stand. Er beschrieb uns den Wendigo so eindrücklich, dass wir angespannt horchten, ob das Wesen nicht irgendwo in der Nähe atmete. Zudem machte er uns weis, ein kleines Mädchen habe aus reiner Gedankenkraft wie in einem Märchen einen Knaben erschaffen, der heute hoch oben in den Wäldern im Norden lebe, wo er sich von Kleintieren und bisweilen auch jungen Menschen ernähre.
Kyle ängstigte sich stets dabei, Adam wurde stets langweilig, ich hingegen bekam nie genug von diesen Geschichten und hätte zuhören können, bis die Sonne wieder über dem Fluss aufging. Nachdem wir alle zu Bett gegangen waren, versuchte ich, Kyle weiter Angst zu machen, indem ich mir eigene Geschichten ausdachte, bis Vaters Kopf als dunkler Fleck in der Tür auftauchte und uns zum Schlafen anhielt.
Dies sind ausnahmslos schöne Erinnerungen. Könnte ich sie bloß einpacken und in einem in Blei gefassten Tresor tief in meinem Hirn hinterlegen, um sie vor äußerer Beeinträchtigung zu bewahren. Und während ich daran dachte, diese Erinnerungen für immer in mir zu behalten, überschatteten die Ereignisse später in jenem Sommer alles andere, korrumpieren seine Schönheit und fransten sie aus wie Flammen, die an Kanten von Fotos züngeln.
Selbst jetzt, zwanzig Jahre später, weiß ich nicht mehr, wie es in jenem Sommer begonnen hatte. Wer war überhaupt zuerst auf den doppelten Steg gestoßen? Adam oder einer seiner langhaarigen, pickligen Freunde? Vielleicht hatten sie durch Klassenkameraden etwas darüber erfahren. So oder so wurde der doppelte Steg entdeckt, und man hätte glauben können, dass wir eine Schatztruhe aus dem Sand geborgen hätten.
Wie ich bereits beschrieben habe, war der Doppelsteg genau dies: ein Anglerpier mit einem identischen Gebilde obendrauf, das mit seinen moosbewachsenen Brettern als Dach des eigentlichen Gehweges fungierte und zudem mit einem Flaschenzug inklusive Winde ausgestattet war. Später erklärte uns einer von Adams Bekannten, dessen Vater ein Fährmann der Küste war, dass der Doppelsteg dazu diente, Boote aus dem Wasser zu hieven, nachdem man sie winterfest gemacht hatte, damit das Fiberglas der Rumpfkonstruktion vom Eis unbescholten blieb. So stimmig das auch klingen mochte, so egal war uns der praktische Nutzen des Stegs: eine erhöhte Plattform, von der wir, wenn es dunkel war, blindlings ins Schwarze sprangen, nicht wissend, wo unten und oben war, ohne Gewissheit, dass wirklich Wasser da war, bis wir die Oberfläche durchbrachen. Nervenkitzel.
Erst nach Kyles Tod erfuhren wir, wem der Steg gehörte – einem grauhaarigen alten Fischer in Gummihosen und Overall, mit einer Haut ledrig wie ein Football und dessen Augen sich in einem chronischen Zucken verengten –, durch das Wohnzimmerfenster konnte ich beobachten, wie Vater
von ihm auf der Straße angesprochen wurde. Er sprach sein Beileid aus und tastete – zumindest nehme ich das rückblickend an – meinen alten Herrn auf eine etwaige Klage ab. Zu einer Klage kam es allerdings nie.
Zuvor war ich dem Besitzer nur einmal begegnet, als Adam, seine Freunde und ich eines Nachts etwas zu laut waren – laut genug, um den alten Vogel aus seinem vermutlich dem Alkohol geschuldeten Tiefschlaf aus dem Sofa zu reißen. Er stürmte mit etwas, das wie ein Besenstiel aussah, aus dem Haus. Ein paar von Adams Freunden nahmen durchs Dickicht entlang am Ufer Reißaus, und ein einzelner schaffte es sogar auf die andere Seite, was keine geringe Leistung darstellte. Adam und ich schwammen unter den Pier, wo wir den Atem anhielten.
Ich erinnere mich noch genau an die Trittgeräusche, die der Mann auf den Brettern verursachte, während er brüllte: »Ihr Kinder, wer immer ihr auch seid, ich knall euch ab, wenn ihr euch noch einmal hier blicken lasst!«
Unsere Köpfe bewegten sich unter dem Steg auf und nieder wie die von Seehunden und wir taten uns schwer, das Lachen zu verkneifen.
Eine Sekunde später knallte es laut über unseren Köpfen und echote wie Donnerhall über den Fluss. Dann kehrte der Alte zu seinem Haus zurück, gewiss, um sich mit dem Stiel an der Schulter, der keiner war, sondern tatsächlich eine Waffe, im Schatten der Weiden auf die Lauer zu legen.
Danach schien keiner von Adams Freunden je wieder sein Leben für den Dreisekunden-Kick aufs Spiel setzen zu wollen, den uns das Springen vom Steg verschafft hatte.
»Feiglinge«, fluchte Adam, nachdem ich ihn andauernd mit der gleichen Frage löcherte, weshalb wir über eine Woche nicht mehr nachts aus dem Haus geschlichen waren. »Ein Haufen feiger Hühner. Willst du hingehen?«
Mich hatte dieses Erlebnis genauso verschreckt wie Adams Freunde, dass mein älterer Bruder mich jedoch als Feigling oder feiges Huhn bezichtigte, wollte ich verhindern. Also sagte ich, ich wolle wieder hin. Natürlich sagte ich das. Natürlich.
»Ich auch«, meinte Kyle, der uns vom Flur aus belauscht hatte.
Adam und ich waren in Adams Zimmer und wir drehten uns gleichzeitig um und schauten unseren kleinen Bruder an.
»Zieh Leine«, zischte Adam.
»Ich will auch im Dunkeln rausschleichen.«
»Darfst du nicht«, ließ Adam ihn wissen. »Bist noch zu klein.«
»Dann verrate ich euch.« Wir hatten schon einige Zeit damit gerechnet, dass er dieses Ass im Ärmel gegen uns ausspielen würde. »Ich sag es Dad.«
»Nein«, widersprach Adam. »Tust du nicht. Falls doch, werden wir dich nach dem Mittagessen nicht mehr mit zum Fluss nehmen.«
»Travis?«, fragte Kyle.
»Er hat recht«, beteuerte ich. »Ein Wort, und du darfst nicht mehr mit uns zum Schwimmen kommen. Und du musst die Nachttischlampe im Zimmer ausmachen, auch wenn du dich fürchtest.«
»Du bist erst zehn geworden«, erinnerte Adam, womit er auf unheimliche Weise wie unser Vater klang, ob bewusst oder nicht. »Da lässt man das Licht nachts nicht mehr an.«
»Das tue ich fast nicht mehr«, protestierte Kyle.
»Wenn du etwas verrätst, knipsen wir es dir für immer aus«, drohte ich.
Und damit hatte es sich. In jener Nacht, nachdem unsere Eltern zu Bett gegangen waren, kam Adam zu uns ins Zimmer und weckte mich. Ich setzte mich auf und zog mich geräuschlos an, während sich Kyle gegenüber im Raum auf der Matratze wälzte, um mich darauf hinzuweisen, dass er wach war. Ich sagte ihm, er solle weiterschlafen, was er mit einem leisen Winseln quittierte, als sei er ein Hund, der gerade gerügt wurde.
Mit Turnschuhen und Badehose schlich ich durch die Tür hinter Adam her über den Flur bis zum Wohnzimmer. Wir verließen das Haus durch die Terrassentür, weil sie am weitesten vom Schlafzimmer unserer Eltern entfernt war und den geringsten Lärm verursachte. Bevor ich ihm nach draußen folgte, blickte ich über die Schulter zurück. Da stand Kyle als milchig undeutlicher Klecks am anderen Ende des finsteren Flurs und starrte mich an. Wie ein Gespenst.
So ging es mehr oder weniger den ganzen Sommer lang weiter, bis Adam die Windpocken bekam. Er hatte sie ziemlich stark und lag deshalb zwei Wochen lang im Bett, wirkte erschöpft und unglücklich.
Seine Haut hob sich – abgesehen von den roten Pusteln – praktisch nicht von den weißen Laken ab, auf denen er ruhte.
Kyle und ich hatten die Krankheit bereits, als wir noch sehr klein gewesen waren. Adam war damals gesund geblieben, obwohl Mutter ihn absichtlich zu uns zwei Rothäuten mit Juckreiz gesteckt hatte. Es stand also außer Frage, dass wir uns erneut ansteckten. Ich weiß noch, wie Kyle und ich gegen Mittag Käsetoast am Fuß von Adams Bett aßen und dabei gemeinsam mit ihm fernsahen, nachdem Vater das tragbare TV auf die Kommode gestellt hatte. Dieser Eindruck, so alltäglich und ereignislos er war, ist einer der lebendigsten, die ich auch als Erwachsener noch in mir trage.
Natürlich schlugen wir uns nachts nicht mehr hinunter zum See an den überdachten Pier. Der Sommer neigte sich seinem Ende zu, und ich war süchtig geworden nach der Aufregung beim blinden Sprung von den Brettern ins Nichts, einem Nachtflug wie dem einer Fledermaus, unterbrochen einzig vom markerschütternden Eintritt durch die schwarze Wasseroberfläche ins salzig schmeckende, eisig kalte Nass. Ich fürchtete, er wäre bis zum Winter krank, wenn es zu kalt war, um die nächtlichen Spritztouren wieder aufzunehmen.
So wurde ich eines Nachts, als ich sicher war, dass unsere Eltern schliefen, wach und strampelte die leichte Decke von mir.
Ich hörte die Federn von Kyles Bett knarren, als er sich umdrehte und den Kopf auf eine Hand stützte. Er sah schweigend zu, wie ich mich im Dunkeln anzog. »Gehst du allein?«
»Ja. Sei still.«
»Mom und Dad haben gesagt, wir sollen nicht allein schwimmen.«
»Mom und Dad wollen auch nicht, dass wir mitten in der Nacht aus dem Haus schleichen – und?«
Kyle verstummte; er schien sich unschlüssig zu sein, ob ich ihm eine legitime Frage gestellt hatte und eine Antwort erwartete oder ihn aufzog.
Ich setzte mich auf den Boden und zog meine Turnschuhe über die nackten Füße. Ich hatte mich nach etlichen Malen daran gewöhnt, das Haus heimlich mit Adam zu verlassen, und mir kaum Gedanken darüber gemacht. Vermutlich war ich davon ausgegangen, dass Adam als älterer von uns beiden den Großteil von Vaters Zorn zu spüren bekam, gewissermaßen mein Puffer, falls wir je aufflogen. Diesmal jedoch nahm ich es allein und ohne Sicherheitspolster in Angriff. Zögerlich hinterfragte ich meine Bruderliebe: Würde ich versuchen, wenn Dad mich erwischte, meine Strafe zu mildern, indem ich Adam in den Rücken fiel und preisgab, dass er dieser Gepflogenheit schon seit Sommeranfang nachging und ich sie nur weiterführte?
»Lass mich mitkommen«, forderte Kyle aus seinem Bett. Mondlicht sickerte durch die halb geschlossenen Vorhänge herein, sodass sein blondes Haar gespenstisch weiß schimmerte.
»Nein.«
»Ich wäre ein guter Aufpasser.«
»Den brauche ich nicht.«
»Und wenn der Mann mit dem Gewehr wiederkommt?«
Ich band mir gerade die Schuhe und hielt inne. »Woher weißt du davon?« Wir hatten weder Kyle noch sonst jemandem gegenüber erwähnt, dass der alte Sack einen Warnschuss in die Luft abgegeben hatte.
»Adam hat es Jimmy Dutch im Hof erzählt, kurz bevor er krank wurde.«
»Hast du Mom und Dad was davon erzählt?« Ich wusste, dass dem nicht so war, denn andernfalls hätten wir es bereits zu spüren bekommen. Trotzdem konnte ich mir die Frage nicht verkneifen.
»Nein.«
»Und am besten bleibt es auch so.«
»Sicher, aber lass mich bitte mitkommen. Ich bin ganz leise und mache keinen Ärger.«
(Diesen Augenblick durchlebe ich jedes Mal wieder, wenn ich die Augen schließe und an die Geschehnisse jenes Sommers zurückdenke. Es gibt kein Entrinnen davor und kein Leugnen.)
»Okay«, sagte ich nach einer Weile. »Aber du musst still bleiben und alles tun, was ich dir sage. Verstanden?«
»Klar.« Er stellte sich aufrecht ins Bett; selbst im Dunkeln sah ich, dass er bis über beide Ohren grinste.
»Los, mach dich fertig.«
Zu sagen, in jener Nacht seien zwei Brüder gestorben, ist nicht vermessen, und ich werde es tun. Ich will es aussprechen als Zeuge. Als lebender Toter.
… und die beiden Brüder schleichen sich mucksmäuschenstill aus dem Haus, als träten sie auf den Holzfußboden eines Pfarrhauses. Sie gelangen mit nichts als Freizeitschuhen und Badehose am Leib in den Wald; nur ein Handtuch haben sie sich um den Hals gehängt. Die finsteren Umrisse der Bäume scheinen sie von allen Seiten zu bedrängen. Sie sind davon überzeugt, dass die Pflanzen wie lebendige Wesen um sie wandeln, doch sobald sie sich umdrehen und rundherum ins Gehölz starren, erstarrten sie wie eine Statue – Pflanzen eben. Sie bewegen sich forsch im Angesicht des Mondes über den Waldweg, bis sie endlich das Ufer erreichen. Es ist Sommer, es ist großartig; nichts erscheint ihnen in diesem Moment wichtiger.
Weiter vorne Richtung Bucht wird der Fluss breiter. Die zwei sind seiner Unermesslichkeit intuitiv gewahr. Der ältere, dreizehnjährige Junge läuft schnell hinunter zum Flussrand, wo sich der Steg wie eine Doppelhelix ausstreckt.
»Sind die Geschichten wahr?«, will der Jüngere wissen.
»Welche meinst du?«
»Die Sachen, die Dad erzählt.«
Der andere hat dunkle Locken und den Wuchs einer Echse oder eines Vogels mit langen Gliedern. »Natürlich sind sie es, Dummkopf«, behauptet er, um seinen Bruder zu verängstigen. »Weshalb sollte Dad uns belügen?«
»Weiß nicht.«
»Sie stimmen, und zwar alle von ihnen.«
»Selbst die vom Wendigo?«
»Besonders die. Vielleicht lauert er gerade irgendwo in der Nähe und beobachtet uns.«
»Nein«, quengelt der Kleine. »Hör auf damit.«
»Womit?« Der Ältere kichert.
»Du willst mir bloß Angst einjagen.«
»Passiert das auch, wenn es an der Zeit zum Springen ist?«
»Springen wohin?«
Der Dreizehnjährige zeigt auf die imposante Konstruktion, die wie ein Dinosaurierskelett aussieht. »Von dort, dem Pier aus ins Wasser.«
Der Jüngere wirkt mit einem Mal verstört. Alle Märchen, die ihnen ihr Vater erzählt hat, stellen für ihn die Wirklichkeit dar, kindliche Protagonisten und Monster, die in den Wäldern leben. Obwohl die Nacht sehr mild ist, zittert der Kleine. Die blasse Brust überzieht eine Gänsehaut, und seine mahlenden Zähne verursachen Geräusche gleich einer angriffslustigen Klapperschlange. Er leuchtet weiß – viel zu weiß, beinahe durchsichtig. Sein Bruder vergleicht ihn mit einem Gespenst.
»Klettere die Treppe nach oben«, befiehlt er ihm. »Dann tief einatmen, loslaufen und abspringen.«
»Abspringen«, wiederholt der Junge jeweils halb als Frage und Aussage, was an der Unsicherheit in seinem Tonfall liegt.
»Du fürchtest dich doch nicht etwa?«
Er schüttelt den Kopf.
»Dann hoch jetzt, und ab ins Wasser. Ich halte dein Handtuch fest.
»Zuerst?«
»Zuerst was?«
»Du willst, dass ich zuerst springe?«
»Es sei denn, du hast zu viel Angst; es sei denn, du bist ein Hosenscheißer.«
»Sag das nicht«, bittet der kleine Bruder. Seine Stimme ist zu schwach und brüchig, als dass es respekteinflößend klingt. »Sag nicht dieses Wort.«
»Hosenscheißer«, wiederholt sein Bruder. »Hosenscheißer, Hosenscheißer, Hosenscheißer.«
»Hör auf.«
»Und verdammt dazu«, hängt der Ältere leiser an, denn dies ist das verbotene Wort, der ultimative Fluch und fast biblisch in seiner Prägnanz beziehungsweise wegen der Geheimnisse, die es umgeben. »Bist du ein verdammter Hosenscheißer?«
Der Kleine scheint den Tränen nahe.
»Du wolltest mit herkommen«, erinnert der ältere Bruder. »Falls du mutig genug bist, dann los.«
Er zaudert lange. Paradoxerweise will der große dem kleinen Bruder gerade auf die Schulter klopfen und sagen, er solle sich ruhig ins Gras setzen, als dieser ihm sein Handtuch reicht und die Schuhe auszieht.
Sein Mut beeindruckt den Älteren. Wäre die Situation andersherum, wüsste er nicht, ob er dazu in der Lage wäre, sich genauso tapfer zu zeigen.
Der Jüngere geht barfuß ums Gestrüpp, wobei kleine Spuren im feuchten Grund zurückbleiben, und erklimmt die Stufen auf das Dach des Stegs. Auf halber Höhe wird er langsamer und schaut nach unten; schließlich legt er auch den Rest zurück. Oben ist er nur ein schwarzer Schatten, ein undeutlicher Schemen im Dunkel. Der Mond steht klein in der Ferne, verhüllt von Wolken und Baumwipfeln; die Nacht ist finster, wie ein Hort verdrängter Träume. Der ältere Bruder kann ihn kaum erkennen.
»Sei vorsichtig«, wispert er.
Eine schwachbrüstige Stimme versichert beklommen: »Bin ich.«
Er hört ihn tief Luft holen.
Er wird es wirklich tun, denkt sich der Ältere.
Kurze, hastige Schritte trippeln über die Dachplanken, dass an einen nahenden Zug erinnert, der eine hölzerne Brücke überquert.
Wow, er macht es tatsächlich. Kaum zu glauben.
Stille kehrt ein, als der kleine Junge die Kante erreicht und abspringt. Jetzt schwebt er in der Luft, hängt irgendwo in der Leere.
Ein Mississippi, zwei Mississippi …
Der ältere Junge erwartet den Aufprall; er hört und spürt ihn im Voraus.
Aber er kommt nicht.
Kein klatschendes Geräusch.
Dafür ein anderes – ein kräftiger, Übelkeit erregend dumpfer Knall vom Wasser her, der den Älteren an einen Baseball erinnert, der im Lederhandschuh des Fängers aufschlägt. Kein Platsch. Er ruft den Namen seines Bruders, wartet jedoch vergeblich auf eine Antwort.
Kein Platschen. Keine Antwort. Nur dieser abscheuliche Bums, der das Blut in seinen Adern gefrieren, seinen Körper zur Salzsäule erstarren lässt …
»Alles wird gut, Junge«, beschwichtigte Detective Wren, indem er eine fleischige Hand auf meine schmale, schlotternde Schulter legte.
Tränen trübten meine Sicht, und meine Brust bebte mit jedem Atemzug.
»Ist schon in Ordnung. Beruhige dich erst einmal. Sobald du gefasst bist, machen wir weiter.«
Ein kleines Schwimmdock – nicht größer als eine Doppelmatratze und mit vier Finger dicker Schieferplatte belegt – hatte sich früher am Abend von den Leinen gelöst, war mehrere Stunden lang haltlos und unbemerkt herumgetrieben, schlussendlich den Fluss hinauf Richtung Bucht. Als Kyle vom Dach des Stegs sprang, schwamm die Vorrichtung genau unter ihm, verborgen in der Dunkelheit.
Der dumpfe Laut, bei dem sich mir der Magen umdrehte, verursachte Kyles Schädel, der auf dem Schiefer brach. Dann rollte mein Bruder bewusstlos in den Fluss, versank wie ein Stein und ertrank.
Mit siebenundsiebzig hatte Earl Parsons ein Gesicht wie ein alter Bluthund, der zu häufig getreten worden war, weil er im Müll stöberte. Sein Körper war von der lang gezogenen Sorte und er wäre auch als Orang-Utan oder Riesenfaultier durchgegangen, bekleidet mit hellblauer Polyesterhose und kariertem Flanellhemd. Seine Träger waren wie die US-Flagge gemustert, und die unförmige Nylon-Skijacke darüber besaß einen Kunstpelzkragen, wie ihn vielleicht ein Sheriff in den Bergen von Colorado tragen würde. Sein schlecht gescheiteltes, grafitgrau meliertes Haar haftete dank vermutlich mehrerer Handvoll nach Kampfer riechender Pomade an der Kopfhaut. Meiner Einschätzung nach kämmte er es nicht sonderlich oft. Aber da er unverhohlen herzlich auf mich zukam und sich durch seine ländliche Freundlichkeit durchwegs gesellig zeigte, kam ich nicht umhin, ihn sofort sympathisch zu finden.
»Das ist großartig«, sagte er. »Ich meine, ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie sich Zeit für mich nehmen, Mr. Glasgow. Wenn ich noch einen Artikel über Mora Chaunceys Cockerspaniel schreiben muss, bin ich mir sicher, platzt mein Kopf.«
Wir saßen im Wohnzimmer, Earl vornübergebeugt in einem gepolsterten Sessel, ich gegenüber auf dem Sofa. Jodie hockte neben mir auf der Lehne und strahlte. Sheila aus der Bibliothek hatte vermutlich erwähnt, dass ich verheiratet war – ich erinnerte mich daran, es ihr gegenüber erwähnt zu haben –, so war er nicht nur mit seinem Spiralblock sowie einer Kamera um den Hals aufgekreuzt, sondern brachte obendrein einen Strauß Wildblumen mit, die Jodie gnädig entgegennahm und in eine Vase steckte.
»Ich fühle mich geschmeichelt, wenn Sie glauben, ich sei einen Bericht wert«, gestand ich ihm.
»Nicht dass ich Ihre schriftstellerischen Qualitäten herunterspielen möchte, aber alles lauter als ein Furz ist hier in der Gegend berichtenswert«, sagte er, dann schaute er Jodie an und schien entsetzt. »Oh Ma‘am, Verzeihung. Ich bin ein taktloser Rüpel, der anscheinend zu viel Zeit alleine verbringt. Entschuldigen Sie bitte.«
Jodie winkte ab. »Bitte … sehe ich so unschuldig aus, als hätte ich noch nie einen Furz gehört?«
Sein Grinsen zeigte schiefe und vom Nikotin gelbe Zähne. Er lachte kehlig und aus tiefstem Hals. »Dann sind Sie also eine Frau von Welt, umso besser.«
»Treffende Einschätzung«, sagte sie zu mir. »Ich mag diesen alten Mann. Können wir ihn behalten?«
Daraufhin bekam Earl einen Lachkrampf, der mich an über Schotter knirschende Autoreifen denken ließ. Er riss die Augen weit auf und schlug sich mit seinen breiten Pranken so fest auf die Schenkel, dass ich befürchtete, seine Knochen würden brechen. Der Anfall dauerte mehrere Sekunden und steckte richtiggehend an; hinterher fühlten wir uns alle wie alte Freunde.
»Bevor wir anfangen«, begann er, und zog ein Taschenbuch aus seiner Jacke, »dachte ich, Sie könnten mir das hier signieren. Natürlich nur, wenn Sie es nicht für vermessen halten.«
Er reichte mir das Buch. Nachdem er am Telefon behauptet hatte, er lese gerade einen meiner Romane, rechnete ich mit dem Exemplar von Silent River aus der Bücherei, doch dies war Waterview, gekauft und bereits gelesen, wie ich am Rücken sowie einigen Eselsohren erkannte.
»Es war großartig«, lobte er und gab mir einen Stift. »Die letzten dreißig Seiten habe ich nur so verschlungen. Ich habe schon mit The Ocean Serene begonnen. Sicher, ich lese sie in der falschen Reihenfolge, aber ehrlich gesagt wollte ich mich zuerst nur mit diesem einen befassen. Allerdings schlug es mich derart in seinen Bann, dass ich die anderen auch brauche.«
»Das ist so nett von Ihnen. Schön, dass es Ihnen gefallen hat.«
Ich schrieb auf die Titelseite:
Für Earl Parsons, das neue Haustier meiner Frau –
Mögen all Ihre Fürze leise, dafür tödlich sein.
Travis Glasgow
Ich gab ihm das Buch zurück, in der Annahme er werde die Widmung gleich lesen, tat er aber nicht. Stattdessen steckte er es schnell ein und freute sich wie ein kleines Kind. »Ich weiß das wirklich zu schätzen. Das ist mein erstes Autogramm in einem Buch überhaupt.«
Das Interview dauerte knapp eine halbe Stunde und umfasste Standardfragen, etwa wie ich im literarischen Bereich Fuß fasste, was mich inspirierte und welchen meiner Romane ich am liebsten mochte. Das führte ihn zu unseren Beweggründen, nach Westlake umzusiedeln, sowie meinen bisherigen Eindruck von der Stadt. Ich antwortete entsprechend. Der alte Mann schien zufrieden.
Während einer kurzen Pause überzeugte Jodie ihn davon, zum Mittagessen zu bleiben. Da er uns, wie er meinte, keine Umstände bereiten wollte, bekniete sie ihn, bis er nachgab, und verschwand schließlich in der Küche, um Sandwiches und Kaffee zu machen.
»Reizende Frau«, befand er, als sie gegangen war.
»Sind Sie auch verheiratet?«
»Sie sprechen mit einem Junggesellen ersten Ranges.« Er zwinkerte mir zu, wobei seine Augen funkelten. »Das heißt aber nicht, dass ich noch nie verliebt gewesen bin. Auch mir hat man mehrmals das Herz gebrochen.«
»Wie lange arbeiten Sie schon für die Zeitung?«
»Himmel.« Er stöhnte und lehnte sich im Sessel zurück. Er wirkte zu groß dafür, denn er musste die überlangen Beine unbequem verdrehen. »Wahrscheinlich schon seit gut zehn Jahren, kurz nachdem ich in der Mühle aufhörte.«
»Wissen Sie etwas von dem Jungen, der in diesem Haus lebte und im See ertrunken ist?«
Er presste zwei Finger gegen seine Stirn und er klang fast so, als sage er ein Gedicht auf: »Elijah Dentman, zehn Jahre alt. Mutter Veronica, kein Vater.«
»Gutes Erinnerungsvermögen. Wissen Sie, wer von der Zeitung die Story damals, als es passierte, übernahm?«
»Sicherlich«, antwortete er. »Ich.«
Ich blinzelte. »Kein Scherz?«
»Wie gesagt, ich bin für die Lokalpresse eine Art Woodward und Bernstein hier.« Er trommelte mit den Fingern an der Kamera vor seiner Brust. »Vermutlich auch eine männliche Annie Leibovitz.«
»Ich habe den Artikel zu dem Vorfall gelesen«, gestand ich und beugte mich auf dem Sofa nach vorn.
»Also, auch wenn ich mich vorhin noch über die langweiligen Themen beschwerte, die sich hier für eine Zeitung ergeben, muss ich gestehen, dass ich gern über Kuchenesswettbewerbe und Rassehunde schreibe, solange ich mich nie wieder mit so etwas befassen muss.«
»Waren Sie dabei, als man den Leichnam suchte?«
»Den ganzen Abend lang bis weit in die Nacht. Ich zog mich erst zurück, als die Taucher am frühen Morgen aufgaben.«
»Ohne fündig geworden zu sein«, entgegnete ich. Es war keine Frage, sondern ein Test, inwieweit wir auf gleicher Welle lagen.
»Ohne fündig geworden zu sein«, sprach er mir nach. Wir schauten einander an, und zwar einen Augenblick länger als notwendig.
»Finden Sie das nicht ungewöhnlich? Ein spurlos verschwundener Toter in einem stehenden Gewässer?«
Earl antwortete nicht sofort, weshalb ich dachte, ich hätte ihn vielleicht irgendwie beleidigt. Dann aber räusperte er sich und blickte über seine Schulter nach hinten, wohl um sicherzugehen, dass Jodie uns nicht hörte. »Das Schicksal des Kleinen ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich, und die verschollene Leiche nur die Spitze des Eisberges. Ich nehme an, Ihre Frau weiß nichts von dem, was passiert ist, weil Sie es gerade jetzt ansprechen.«
»Sie weiß, dass ein Junge im See ertrunken ist, mehr nicht. Die Einzelheiten haben sie nicht interessiert.«
»Darf ich fragen, weshalb Sie sich überhaupt dafür interessieren? Falls es mich nichts angeht, sagen Sie es mir, und ich bin ruhig.«
»Ich glaube, man hat etwas übersehen«, erklärte ich. »Die Polizei wusste angesichts eines solchen Unglücks vermutlich nicht, wie Sie im Rahmen der Ermittlungen vorgehen sollte, weshalb man nicht jeder Spur nachgegangen ist. Ich denke nicht, dass ein Kind ohne weiteres in einem Gewässer ertrinkt und dann auch noch wie vom Erdboden verschluckt bleibt. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Einsatzkräfte erst mehrere Stunden, nachdem es geschehen war, zur Tat geschritten sind.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich glaube, Elijah Dentman wurde ermordet.« Diesen Gedanken hegte ich bereits seit einer Weile, nicht bloß als Romanstoff, sondern auch mit Bezug auf den wirklichen Vorfall. Die Hinweise passten noch nicht so recht zusammen, um ein klares Bild zu zeichnen, aber was mich felsenfest davon überzeugte, war mein Besuch in West Cumberland, wo ich David Dentman von Angesicht zu Angesicht gegenübertrat.
Überraschenderweise konnte Earl durchaus etwas mit meinem Verdacht anfangen – nein, er schien ihn sogar regelrecht zu teilen. »Schwebt Ihnen ein möglicher Täter vor?«
»Könnte jeder gewesen sein, schätze ich. Vielleicht ein Herumtreiber, der am Wasser auf den Jungen gestoßen ist, oder irgendwer, der ihn aus der Stadt kannte.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein, das glauben Sie nicht ernsthaft. Sagen Sie mir, was Sie wirklich denken.«
»Ich glaube, David Dentman hat es getan.« Ich fühlte mich fast wie im Beichtstuhl. »Wenn Sie mich fragen, hat sein Onkel ihn ermordet.«
Fast beiläufig fragte Earl: »Hätte er ein Motiv gehabt?«
»Gut möglich. Welches genau, weiß ich nicht, falls Sie das als Nächstes wissen wollen.« Mir war natürlich klar, dass Motive im wirklichen Leben nicht so klar umrissen waren wie in Büchern oder Filmen. Im wahren Leben richteten Menschen scheinbar grundlos Schreckliches an.
Jodie kehrte mit Kaffee und Schinken- und Käse-Sandwiches zurück.
Earl strahlte, als sei seine Flamme ins Zimmer getreten. »Vielen Dank, meine Liebe. Sie sind zu gut zu einem alten Tölpel wie mir, und wir kennen uns noch kaum.«
»Ich habe eine Schwäche für Tölpel«, entgegnete sie lächelnd, ehe sie eine meiner Locken um den Zeigefinger wickelte. »Fragen Sie mal meinen Mann.«
Nachdem Earl ein paar Schnappschüsse von mir gemacht hatte, die den Artikel begleiten sollten, drückte er Jodie väterlich mit einem Arm. Dann begleitete ich ihn zur Tür.
»Ich sage Ihnen Bescheid, wenn wir das Interview abdrucken.« Er zog seine Sheriff-Jacke an und trat auf die Veranda. Hinter der Gruppe Lärchen war der Himmel gesprenkelt, die Farbe stimmte mich sofort und aus unerfindlichem Grund melancholisch. »Und nochmals vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben.«
»Nicht der Rede wert.«
»Das noch.« Als Earl eine meiner Hände nahm, kratzen seine rauen Finger wie Stachelfrüchte auf meiner Haut. Er ließ los, da hielt ich ein gefaltetes Blatt Papier fest. »Wenn Ihnen eine unordentliche Junggesellenwohnung und abgestandenes Bier nichts ausmachen, schauen Sie einfach mal vorbei, und ich zeige Ihnen ein paar Dinge, die Sie interessieren könnten.« Er zog den Reißverschluss seiner Jacke zu und vergrub die Hände in den Taschen. »Ich kenne das Gefühl, nachts kein Auge zuzumachen, weil die Gedanken unaufhörlich kreisen.«
Das traf mich unvorbereitet.
»Passen Sie auf sich auf, Travis.«
Ich schaute ihm hinterher und blickte nicht auf den Zettel, den er mir untergeschoben hatte. Erst als sein Pick-up die Einfahrt verließ, faltete ich ihn auf. Es war seine Adresse, geschrieben in krakeligen Hieroglyphen, wie sie nur von einem alten Mann stammen konnten.
Earls Junggesellenwohnung erwies sich als Wohnwagen und sah verdächtig nach ausrangiertem Güterwaggon aus, auf dessen Dach mehrere Fernsehantennen emporragten, und obwohl es schon Mitte Januar war, hingen Weihnachtslichter herab. Ein paar alte verstreute Blechkisten rosteten auf der Wiese vor sich hin. Der Wagen stand auf einem bewaldeten Hügel am Ende der Old County Road, die streng genommen nicht mehr zu Westlake gehörte, auch wenn man die Laternen der Hauptstraße von seiner Tür aus noch sehr gut sah. Der Nachmittag war weit fortgeschritten, und das Interview bei mir zu Hause zwei Tage her. Die Temperatur sank, und am Horizont zeichnete sich ein gleichmäßiges Dunkelrot ab.
Als ich neben dem Wohnmobil vorfuhr, bellte auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes ein schwarzer Hund wild. Er war an der Stoßstange eines altmodischen Chevrolets festgebunden, die jedoch nicht vertrauenerweckend aussah, um das Tier davon abzuhalten, sich loszureißen und mir an die Kehle zu springen. Oben in den Bergen heulte der Wind.
Earl kam vor die Tür, als ich aus dem Wagen stieg. Er trug ausgebleichte Jeans und ein aufgeknöpftes Flanellhemd sowie braune Waldarbeiterstiefel, alles sah zwei Nummern zu groß für ihn aus. Er hob eine Hand zur Begrüßung, dann rief er etwas in die andere Richtung, das den Hund sofort zum Schweigen brachte, als hätte er ihn mit einer Birkenrute gepeitscht.
Ich schlug die Autotür zu, schulterte meinen Rucksack und watete durch den Schnee. Unter meinem Arm klemmten zwei Notizbücher; das dritte sah so aus, als hätte es sich in Luft aufgelöst.
Während der vergangenen zwei Tage hatte ich das ganze Haus auf den Kopf gestellt und fand es dennoch nicht. Ich beschuldigte Jodie, sie hätte das Buch vielleicht verlegt, doch sie schwor, es nicht gesehen zu haben. Ich kramte in allen Kartons in Elijahs Zimmer, wohin ich mich zwischenzeitlich zum Schreiben zurückzog. Deshalb mutmaßte ich, die Aufzeichnungen versehentlich zu den Sachen des Jungen gepackt zu haben. Als ich mich über eine der Kisten beugte, war mir, als höre ich Schritte. Dann hauchte mir jemand in den Nacken, und ich drehte mich in der Erwartung um, auf Elijah zu stoßen, der mit blau aufgeschwemmter Haut eine Armlänge vor mir im Halbdunkel stand, während sich auf dem Beton zu seinen Füßen schwarzes Wasser sammelte. Aber es stand niemand hinter mir; ich war allein.
Beim Näherkommen nickte mir Earl zu. »Der Schnee ist etwas geschmolzen. Wie war die Fahrt?«
»Die Innenstadt haben sie geräumt, aber hier in den Bergen ist es immer noch recht tückisch.«
Wir gaben uns die Hand. Gegenüber fing der große Hund erneut zu bellen an.
»Kommen Sie rein«, bat Earl, indem er mir die Tür aufhielt. »Kälter als die eisigen Titten einer Hexe hier draußen.«
Drinnen wurde ich mit getäfelten Wänden und neonfarbigem Teppich konfrontiert. Das Sofa sah aus wie ein Requisit aus Sanford and Son, geschmacklose Kunstdrucke zeigten Jagdhunde, Katzenschwanz und glupschäugige Barsche im Sprung aus Flüssen. Kleider häuften sich am Boden zu Gebirgen und schienen sich zu bewegen, wenn man nicht direkt hinsah, leere Bierflaschen und Pizzakartons lagen in nahezu strategischer Anordnung auf engstem Raum übereinander. Inmitten des Sammelsuriums empfing Earls vorsintflutlicher Minifernseher sein Programm über eine Zweipolantenne, um die er Aluminiumfolie gewickelt hatte. Diese Höhle zeugte von einem Berufsjunggesellen, jenem abgefeimten und schwer festzunagelnden Geschöpf, das niemand unter die Haube brachte, weil es seine Schmutzsocken herumliegen ließ und nichts vom Hemdenbügeln oder Abwaschen hielt.
»Ich habe Sie vor dem Chaos gewarnt.«
Ich folgte ihm auf eine erhöhte Fläche, wo schnöder Linolboden den groben Teppich ersetzte. Earl räumte halb verzehrtes Essen in Styroporboxen vom Chinesen und Zeitungsstapel von den Möbeln, bei dem ein Küchentisch zum Vorschein kam. Bescheiden nahm ich aufgetürmte Taschenbuchausgaben meiner Romane auf einer der Ablageflächen wahr, von denen eines aufgeklappt mit dem Einband nach oben lag, um später weitergelesen zu werden.
Earl nickte mit den Armen voller Abfall in Richtung zweier Campingstühle, die zusammengeklappt an einer Wand standen. Ich legte meine Blöcke auf den runden Tisch und stellte die beiden Plastikmöbel auf. Eine Papierlaterne, die an einem Kabel über dem Tisch hing, war die einzige Lichtquelle. Ich nahm Platz, als Earl mit einer Faltmappe und zwei geöffneten Flaschen Bier zurückkehrte,
»Cheers« sagte und klingend mit dem Hals seiner Flasche gegen meine stieß. Nachdem er sich schwer in den Sessel fallen ließ, stellte er den Ordner mitten auf den Tisch. »Bevor wir anfangen, möchte ich, dass Sie mir Ihr Wort geben. Das meiste dessen, was ich Ihnen heute Abend zeige, muss unter uns bleiben.«
»Ich weiß zwar nicht, worum es geht, aber okay. Ich gebe Ihnen mein Wort.«
Earl deutete auf meine Notizbücher. »Was ist das?«
»Ideen zu einem neuen Buch.« Nach einer Pause fügte ich hinzu: »Aber ich denke, sie sind mehr als das.«
Er sagte nichts, sondern nahm ein paar kräftige Schlucke aus der Flasche, ohne den Blick von mir abzuwenden.
»Es klingt blöd, aber ich arbeite eine Story aus, basierend auf dem, was ich über die Dentmans weiß.« Ich hatte das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. »Ich litt unter dieser lausigen Schreibblockade, und als ich erfuhr, dass Elijah ertrunken ist, fühlte ich meine kreative Ader zurückkehren. In den vergangenen Wochen habe ich wie ein Irrer geschrieben.« Fast entschuldigend fügte ich an: »Es gibt noch einen dritten Block, aber den muss ich verlegt haben.«
»Ich bin ein Möchtegern-Reporter und arbeite bei einem kleinen Lokalblatt, also werde ich nicht so tun, als verstünde ich, wie ein kreativer Geist tickt«, erwiderte Earl, »aber meinen Sie damit, Sie schreiben ein Buch über die Dentmans?«
»Nicht direkt. Es ist schwer zu erklären.« Kurzzeitig fühlte ich mich versucht, ihm von Kyle zu erzählen – was mich zutiefst entsetzte, denn nicht einmal Jodie kannte die Wahrheit, und diesen Mann hatte ich gerade erst kennengelernt –, wich dann aber aus. »So hat es begonnen, die Story wuchs weiter. Die Charaktere entwickelten aufgrund der Parameter, die ich vorgab, ein Eigenleben. Aber jetzt …« Meine Stimme versiegte, denn ich wusste nicht, wie ich den Gedankengang zu Ende formulieren sollte.
»Das Folgende basiert auf einer wahren Begebenheit«, sagte Earl glucksend. »Lediglich die Namen der Beteiligten wurden verändert, um Unschuldige zu schützen und so weiter …«
»Genau«, stimmte ich zu, aber ich fühlte mich, als würde ich diesen alten Mann an der Nase herumführen. Ich hatte keinen einzigen Namen geändert; in meinem Text wimmelte es von den rechtschaffenen Bürgern aus Westlake, Maryland. Nicht einmal Tooey Jones und sein Tonic blieb unerwähnt.
Earl atmete geräuschvoll aus, wobei seine Nasenlöcher vibrierten. »Vorab möchte ich Ihnen noch etwas zeigen.« Er schlurfte hinüber zu einer Anrichte, die unter Papierstößen und ungeöffneter Post zusammenzubrechen drohte. Summend sortierte er einen Stapel, während er mir den Rücken zukehrte.
Ich begann, einen irischen Wolfshund, der mir neben der Kredenz auffiel, zu begutachten, er war noch struppiger als der Teppich und fast so groß wie ein Mensch. Unter den Fransen blickten mich zwei seelenvolle Augen an. Irgendwo im Schatten begann ein Heizlüfter surrend, seinen Dienst zu verrichten.
»Ah, da ist es ja.« Earl kam zurück an den Tisch. Das Geräusch, das er machte, als er sich wieder auf den Stuhl fallen ließ, klang nach einer alten Fahrradhupe.
Er überreichte mir ein grobkörniges Foto eines Mannes mit abgeschnittener Jeans und Trägerhemd, der gerade mit einem Waschlappen über die Windschutzscheibe eines gelben Pontiac Firebirds wischte. Er mochte Mitte vierzig sein, allerdings war das Bild unscharf, was eine stichhaltige Einschätzung unmöglich machte.
»Wer ist das?«, fragte ich.
»Mein Sohn.«
Ich hatte keine Ahnung, wohin das führen sollte, also schob ich ihm das Foto wieder zu, ohne mehr zu sagen.
»Aus einer unvorsichtigen Affäre in meiner Jugend«, erklärte Earl, indem er es an sich nahm und es betrachtete, mit einer Mischung aus Sehnsucht und Bedauern, wie mir schien. »Es weiter zu erläutern, ist müßig, aber ich musste es Ihnen einfach zeigen, weil Sie mich, warum auch immer, an ihn erinnern. Nicht weil Sie ihm irgendwie ähneln, und wenn ich vollkommen ehrlich sein soll, habe ich niemals Zeit mit dem Jungen verbracht, weshalb ich auch nicht sagen kann, ob Sie beide gewisse Eigenarten teilen. Ich schätze, Sie sind so, wie ich mir ihn bisweilen vorstelle.« Er legte das Foto zurück zu den Papieren auf der Anrichte. »Tut mir leid.«
»Es ist okay«, beruhigte ich ihn, obwohl mir nach wie vor nicht einleuchtete, warum er mir das Bild gezeigt hatte.
»So will ich auf indirektem Wege begreiflich machen, weshalb ich Ihnen alles Weitere zeigen werde. Irgendwie fühle ich mich Ihnen wohl verbunden beziehungsweise vertraue darauf, dass Sie mich nicht ausnutzen. Schön und gut, wenn Sie behaupten, Sie schreiben ein neues Buch, aber was ich Ihnen nun offenbare, darf niemand außerhalb dieser vier Wände erfahren.« Er hustete rasselnd in eine Faust und fuhr fort: »Gewiss, Sie sind ein Fremder für mich, aber etwas sagt mir, dass ich auf ihr Schweigen bauen kann. Vielleicht bin ich aber bloß ein alter Einfaltspinsel. Allerdings hat mich der Instinkt über all die Jahre hinweg nie getäuscht. Hoffentlich sind Sie nicht derjenige, der ihn widerlegt.«
»Ich schwöre«, versprach ich, »was Sie sagen, bleibt unter uns.«
Earl nahm sich die Mappe vor. »Es geht weniger darum als um die Umstände, wie ich darauf gestoßen bin.« Er zog das Verschlussband auf und öffnete sie. Ein Haufen bunter Blätter fiel heraus. Er überreichte mir einen Packen Papier, der mit einer Büroklammer zusammengehalten wurde.
Auf der ersten Seite fiel mir gleich David Dentmans Name ins Auge, dazu seine Adresse in West Cumberland sowie weitere Angaben zu seiner Person – Sozialversicherungsnummer, Telefonnummer, Geburtsdatum. »Was ist das hier?«
»David Dentmans Strafakte.«
Ich überflog die Seiten beim Durchblättern. »Wie haben Sie die bekommen?«
»Das lassen Sie nur meine Sorge sein. Allein sie zu haben, ist wahrscheinlich schon illegal, ich möchte da keinen mit hineinziehen.«
»Dann frage ich nicht noch einmal.« Ich hielt inne, um mir eines der Blätter genauer anzusehen. »Drei Festnahmen. Wenn ich richtig lese, und …«
»Oh«, versicherte Earl. »Da lesen Sie richtig.«
»Zweimal wegen schwerer Körperverletzung, einmal … was bedeutet T und B?«
»Tätliche Beleidigung.«
»Jesus Christus.« Ich las es mir genauer durch. »Was heißt ›nol pros‹?«
»Das ist Latein und steht für nolle prosequi. Das bedeutet, er kam in Arrest, wurde aber nicht vor Gericht gestellt.«
»Also ist er in allen drei Fällen davongekommen?«
»So steht es da.«
»Wie kann das sein?«
Earl zuckte mit den Schultern und kratzte mit seinen Bärenpranken über das stoppelige Kinn. »Aus verschiedenen Gründen. Nicht genügend Beweise. Oder die Opfer haben die Anklagen fallen gelassen.«
»Wer sind die Opfer?«
»Keinen Ahnung.«
Ich las erneut die Seiten. »Das jüngste Vergehen liegt nur drei Jahre zurück. Die tätliche Beleidigung. Sprechen wir hier von einer Schlägerei in einer Bar oder …?«
»Kann ich Ihnen wirklich nicht sagen.«
»Gibt es keinen Weg, es herauszufinden? Ich meine, wer waren denn die Officers, die ihn festnahmen?«
»Unmöglich, es aus diesem Geschwafel herauszulesen«, meinte Earl.
»Gut, David Dentman hat also ein Vorstrafenregister«, resümierte ich. »Sicherlich haben die Cops einen Blick darauf geworfen, nachdem Elijah verschwunden ist?«
»Jede Wette, dass sie Bescheid wissen. Mit Sicherheit.«
»Der Neffe des Typen ertrinkt angeblich, und die Leiche taucht nie wieder auf und das Einzige, das sie haben, ist seine Aussage? Klingt nach ziemlicher Schlamperei, finden Sie nicht?«
»Dann wäre da noch die Frau«, erinnerte mich Earl. »Sie hat den Jungen am See gesehen und später diesen Schrei gehört. Nicht zu vergessen.«
»Richtig. Nancy Stein. Ich unterhielt mich vor ein paar Tagen mit ihr und ihrem Ehemann. Erst nachdem sie von der Polizei verhört wurde, sagte sie, sie habe einen Schrei gehört. Als Heulen umschrieb sie es.« Ich runzelte kopfschüttelnd die Stirn. »Während unseres Gespräches zeigte sie sich nachdenklich, als habe sie seit jener Zeit lange Nächte über den Schrei und ihre Angabe den Cops gegenüber gegrübelt. Ich glaube, sie glaubt, man habe sie dazu gedrängt, den Schrei als Elijahs Schrei aufzufassen.«
Earl kratzte mit den Fingernägeln an der Seite seines bärtigen Halses entlang. Meine Worte ließen ihn erstarren; sein Blick vom anderen Ende des schwach ausgeleuchteten Tisches sah vielsagend aus. »Sie denken an eine polizeiliche Vertuschung?«
»Nein, nein. Nichts dergleichen. Vielleicht haben die Ermittler Nancy unbewusst Worte in den Mund gelegt und sie auf Gedanken gebracht, die gar nicht ihre eigenen waren. Lassen Sie es sich einmal durch den Kopf gehen: Sie hören ein Geräusch, das sich in etwa wie ein Schrei anhört, und denken sich nichts dabei. Später kreuzt ein Trupp Cops vor der Haustür auf und verkündet, der Nachbarjunge werde vermisst und sei vermutlich im See ertrunken. Sie werden gefragt, ob sie etwas gehört haben, vielleicht einen Schrei oder Heulen oder etwas in der Art. Und natürlich kommt man wieder auf jenen nicht zuzuordnenden Schrei zurück, den man sich früher am Tag entweder eingebildet oder tatsächlich gehört hat. Auf einmal sind sie völlig davon überzeugt, und genau dies halten die Polizisten in ihren Berichten fest.«
»Klar«, erwiderte Earl. »Das kaufe ich Ihnen ab.«
»Haben Sie David oder Veronica für Ihren Artikel interviewt?«
»Nein, die Polizei gestattete es nicht.«
»Und woher stammen Ihre Informationen?«
»Von den Männern vor Ort. Später gelangte ein von Paul Strohman abgesegnetes, offizielles Statement an die Presse, mit dem ich meine Stichpunkte abglich.«
»Paul Strohman?« Wo hatte ich den Namen gehört?
»Der Polizeichef. Warten Sie …« Earl kramte in der Mappe, ging mehrere Seiten durch und übergab mir einen ausgeschnittenen Zeitungsbericht.
Es handelte sich um eine kurze Bekanntgabe, das Präsidium in Westlake schließe den Fall bezüglich Elijah Dentmans Verschwinden ab und begnüge sich damit, dass der Junge sich verletzt habe und ertrunken sei. Neben den Zeilen prangte ein unzureichendes Schwarz-Weiß-Foto von Polizeichef Strohman. Auch wenn es nicht eben durch Schärfe glänzte, erkannte ich, dass der Mann souverän aussah und gut gebaut war. Er trug einen feingeschnittenen Anzug aus dunklem Stoff statt der erwarteten Uniform und hatte das verschlagene Grinsen eines Washingtoner Lobbyisten. Paul Strohman entsprach in keiner Weise dem Bild, das man sich vom Chef einer Polizeieinheit irgendeines Hinterwäldler-Kaffs in den Bergen machte.
Davids Gesicht erschien vor meinem geistigen Auge wie ein Schiff, das eine Nebelbank durchbrach. Ich stand wieder in seinem Wohnzimmer und er feuerte Fragen auf mich ab: »Sind Sie ein Cop? Hat Strohman Sie geschickt?«
»Behalten Sie im Hinterkopf, dass nichts von dem, was uns hier vorliegt, handfest ist. Wir haben nur ein weitere Tür geöffnet, gehen einer anderen Spur auf den Grund.«
Einem anderen Beweisstück, präzisierte ich in Gedanken.
»Genau genommen«, fuhr Earl mit einem erneuten Griff in den Akkordeonordner fort, »liest sich die Vorgeschichte der Dentmans allgemein recht betrüblich. Der Apfel fiel in ihrem Fall nicht weit vom Stamm.« Er zog weitere Seiten heraus, liniertes und von ihm selbst eng beschriebenes Papier. Er berührte fast seine Nase damit, um es lesen zu können. »Davids Schwester …«
»Veronica«, warf ich ein.
»Sie lebte in regelmäßigen Abständen in Nervenheilanstalten, zuletzt in Crownsville im Osten, bevor man den Laden vor ein paar Jahren dichtmachte.«
»Wie lange?«
»Sechs Monate, obwohl ich mir nicht sicher bin, wie genau man die Informationen nehmen darf.«
Welche Quellen er dafür herangezogen hatte, fragte ich ihn nicht.
»Wer sich in der Zeit um ihren Sohn kümmerte, konnte ich nirgendwo in Erfahrung bringen.« Earl fuhr fort, bevor ich ihn noch fragen konnte. »Ich tippe aber auf David.«
»Nicht den Vater des Kindes?«
»Den kennt ja niemand. Aber ich habe meinen Informanten Veronicas Hintergrund offenlegen lassen. Ihr polizeiliches Führungszeugnis war sauber.« Er pochte auf die Kopie von Davids Akte, die ich auf den Tisch gelegt hatte, und sprach weiter: »Diese Adresse in West Cumberland, die er als offizielle angab, ist die gleiche wie ihre. Davor lebten die beiden allem Anschein nach gemeinsam in Dundalk. Dann ein kurzer Aufenthalt in Pennsylvania –«
»Lassen Sie mich raten«, unterbrach ich. »Selbe Adresse.«
Er legte beide Hände flach auf den Plastikbezug der Tischplatte und lehnte sich so nah zu mir, dass ich seinen Bieratem roch. »Die zwei wohnen zeit ihres Lebens zusammen. Sie hat wohl ein paar Schrauben locker, wenn ihr Bruder so auf sie achtgeben muss, schätze ich.«
»Auf sie und das Kind«, ergänzte ich. »Womit verdient der Mann überhaupt sein Geld?«
»Er ist Handwerker. Ich fand heraus, dass er als Schreiner Mitglied in einer Gewerkschaft hier im Bundesstaat ist.«
Ich dachte an die behelfsmäßigen Trennwände überall in meinem Keller und das einer Gefängniszelle gleichkommende Kinderzimmer, das hinter den Gipsplatten versteckt war. Wie ich all dies Revue passieren ließ, stand Earl auf und ging noch zwei Bier aus dem Kühlschrank holen.
»Jetzt begreifen Sie auch, weshalb ich nicht will, dass etwas diese Wände verlässt«, sagte er, nachdem er sich wieder hingesetzt und mir eine Flasche angeboten hatte. »Ich ziehe diese Reportersache jetzt schon seit über zehn Jahren durch, aber auch wenn ich mich hin und wieder scherzhaft als Woodward und Bernstein bezeichne, verstehe ich doch etwas von journalistischer Recherche. Im Laufe der Zeit habe ich eine Reihe von Quellen etabliert, auf die ich zurückgreifen kann, und nichts liegt mir ferner, als jemanden, der mir nahesteht, um seinen Job zu bringen, nur weil er den Hirngespinsten eines verrückten alten Mannes nachgegeben hat.«
Ich nahm einen kräftigen Zug aus der kalten Flasche. Die Flüssigkeit erfrischte mich, es kribbelte vom Hals bis zum Steiß angenehm. Ein Geistesblitz durchfuhr mich.
»Sie wussten von Anfang an, dass etwas faul war.« Ich formulierte es nicht als Frage. »Andernfalls hätten Sie Ihre Hintermänner nicht darum gebeten, die Vergangenheit von David und Veronica zu durchleuchten.« Ich beugte mich über den Tisch. »Ich halte Sie für einen guten Journalisten, wirklich. Etwas an diesem Fall störte Sie von Anfang an, richtig?«
Earl stellte sein Bier auf den Tisch, hielt schulmeisterlich einen Finger hoch und erhob sich wieder, diesmal mit einiger Mühe. Nachdem er sich wieder zur Anrichte begeben hatte, wühlte er erneut in den Papieren. Beim Sprechen blickte er halb über die Schulter. »Reden Sie nur weiter. Ich denke, wir beide sind an einer Sache dran.«
Ich erzählte ihm von dem Zimmer im Keller und Elijahs zurückgelassenen Sachen, die hinter jener Mauer versteckt worden waren. Danach musste Earl von Ira Steins schauriger Mutmaßung erfahren, der Junge habe angeblich den toten Hund seiner Frau ausgebuddelt und sich damit aus dem Staub gemacht wie ein Grabräuber in irgendeinem alten Universal-Horrorstreifen. Ich schilderte ihm, was mir bei den Dentmans in West Cumberland widerfahren war. Er hatte aufgehört, den Papierkram zu durchsuchen, und drehte sich mit erstauntem, aber auch ein wenig neidischem Grinsen zu mir um. Zuletzt umriss ich meine beunruhigende Konfrontation mit David sowie das Gespräch mit Veronica, das wenig Erhellendes zutage gefördert hatte.
»Dass sie ihr halbes Leben Stammgast in Irrenhäusern war, wundert mich überhaupt nicht«, fasste ich zusammen. »Mit dieser Frau zu sprechen, war, als würde man mit einem von Jack Finneys Leuten reden.«
»Sind Sie sicher, dass das nicht mit ihrer Trauer um ihren Sohn zusammenhing?«
»Zuerst dachte ich das auch, aber dann … Ich sage Ihnen, bei den beiden liegt einiges im Argen. Sie wirkte ihres Bruders wegen extrem verstört.«
»Hier.« Earl hatte endlich gefunden, wonach er gesucht hatte. Er humpelte zurück zum Tisch und gab mir ein Bündel Fotos im Kleinformat.
Beim Durchsehen legte mir der alte Mann die Hand auf die Schulter. Kurz empfand ich Mitleid für ihn und kam nicht umhin, mich zu fragen, wie er zu seinem entfremdeten Sohn gekommen war.
Erst nachdem ich mehrere Bilder durchgesehen hatte, erkannte ich den Ort, an dem sie geschossen worden waren. »Das ist mein Garten. Ich habe ihn noch nicht im Sommer erlebt; all die Blätter, grünen Büsche und Blumen in voller Blüte. Haben sie die gemacht?«
»Annie Leibovitz, erinnern Sie sich?«
Eines zeigte auch den See, den der Wald ringsum wie ein schwerer Schleier einhüllte. Polizisten standen zu mehreren an der Spitze des Gewässers, gerade als zwei Taucher aus dem Wasser kamen. Den Vordergrund eines zweiten Fotos prägte der Kühlergrill eines Streifenwagens, der auf der Wiese am Fuß der Anhöhe parkte. Auf einer Reihe weiterer sah man David im Verhör mit den Beamten, deren Mützen sein Gesicht zumeist verdeckten. Das letzte Motiv gab Veronica ab, die abseits allein stand und zwischen den Bäumen nur schwerlich zu erkennen war. Sie starrte mit dem gleichen entseelten, wahnhaften Gesichtsausdruck, mit dem sie mich vor ihrer Tür empfangen hatte, vor sich hin.
»Dieses meinte ich«, bedeutete Earl hinter mir, nachdem er sich alle Fotos mit angesehen hatte. »Der Abzug jagte mir noch tagelang, nachdem ich ihn entwickelt hatte, einen Schauer über den Rücken. Wie Sie schon sagten: Es geht über das hinaus, was man von einer Mutter im Schockzustand oder in Trauer erwartet. Ich würde gerne wissen, wie sie auf Sie wirkt. Sie sind der Schriftsteller; welche Beschreibung fällt Ihnen ein?«
Ich dachte lange und gründlich nach, bevor ich einräumte, dass sie absolut entsetzt aussah.
»Richtig«, stimmte Earl zu. »Zu Tode geängstigt.«
Da war noch etwas, das mich an den Bildern störte. Ich ging sie ein zweites und drittes Mal durch, versuchte herauszufinden, was es war, kam aber nicht darauf.
»Wie Sie sich unschwer vorstellen können, kamen und gingen an diesem Nachmittag eine Menge Leute«, erklärte Earl. »Ich mischte mich unters Volk, und nach einer Weile beachtete mich niemand mehr. So gelang es mir, die Cops bei Davids Verhör zu belauschen. Der Typ blieb ruhig bei ihren Fragen. Als Veronica an die Reihe kam, sagte sie gebetsmühlenartig das Gleiche: ›Ich habe geschlafen. Ich habe geschlafen.‹ Irgendwann verlangte David von den Ermittlern, sie in Ruhe zu lassen, sie sei zartbesaitet, und man wühle sie so nur noch weiter auf.« Er schüttelte den Kopf. Sein Blick wirkte abschweifend, glasig. »Ich höre es noch genauso deutlich wie damals: ›Ich habe geschlafen. Ich habe geschlafen.‹«
»Glauben Sie, jemand hat ihr das eingetrichtert?«
»David?«
»Wer sonst?«
»Möglich ist es. Jedoch kann man bei dieser Frau nicht sicher sein. Ich glaube nicht, dass je ein Wort normal klang, das sie geäußert hat. Darauf würde ich wetten.«
»Hmmm«, brummte ich, während ich die Fotos in der Hand auffächerte. »Sie haben vermutlich recht.«
»Keines davon wurde je abgedruckt.« Noch immer lehnte er sich über meine Schulter. »Die fette Figgis hielt sie für zu brutal für The Muledeer.«
»Die fette Figgis?«
»Jan Figgis, die Chefredakteurin«, erklärte er, »würde man sie in Gold aufwiegen wäre sie steinreich.«
»Darf ich die mitnehmen?«
»Die Bilder? Klar doch, nur zu.«
»Danke.« Ich schob die Abzüge in einen meiner Blöcke. »Tun Sie mir noch einen Gefallen?«
»Spucken Sie es aus, Sohn.« Er nahm mir gegenüber Platz; mir war nicht entgangen, wie er mich genannt hatte.
»Ich möchte Ihre forschenden Fähigkeiten auf die Probe stellen. Ich brauche Ihre Hilfe, um eine gewisse Althea Coulter aufzuspüren. Ich weiß nur, dass sie in Frostburg wohnt und höchstwahrscheinlich als Grundschullehrerin arbeitet.« Ich erinnerte mich daran, wie Nancy von ihr gesprochen hatte, und fügte hinzu: »Allerdings kann es durchaus sein, dass sie nicht mehr lebt.«
»Darf ich fragen, wer sie ist?«
»Elijah Dentman bekam eine Zeit lang Privatunterricht zu Hause. Die Steins sagen, sie sei seine Lehrerin gewesen. Ich will mich mit ihr unterhalten.«
»Tot oder lebendig«, schwor Earl, »ich finde sie.«
Ehrliches Schreiben, so wie ehrliche Menschen, stellt keine Ansprüche, will nichts im Gegenzug. Ich befand mich inmitten einer Erforschung der Charaktere – Charaktere, die eine Geschichte bildeten, eine Geschichte, die Emotionen erzeugte –, durchquerte paradiesische Weiden und elysische Gefilde, wo tote Jungen verzückt und barfuß über vom Tau benetzte Gräser lustwandelten, während ein endloses Firmament die schiefergraue aufgewühlte See widerspiegelte, anstatt umgekehrt.
Ich hackte gerade Holz hinterm Haus, als Adam vorbeischaute. Das Knirschen seiner Stiefel im Schnee hörte ich, noch bevor er zwischen den Bäumen auftauchte.
»Hey«, grüßte er.
»Hey«, erwiderte ich weiter Holz spaltend. Die verfluchte Heizung war noch immer unkooperativ, weshalb Jodie und ich täglich mehrere Klötze verfeuerten. Obwohl es seit einigen Tagen nicht geschneit hatte, war es weiterhin verflucht kalt.
»Lange nicht gesehen. Gestern erst kam ich vorbei, doch Jodie meinte, du hättest dich irgendwohin nach draußen verzogen.«
»Stimmt.«
»Hast du Veronica Dentman eigentlich etwas von dem Zeug zurückgebracht? Ich habe nicht gehört, wie es ausgegangen ist.«
»Hab ich«, bestätigte ich mit dem nächsten Axthieb.
»Und …?«
Ich rammte die Schneide in den Schnee und stützte mich auf den Griff. Trotz der Witterung schwitzte und keuchte ich. »Einen Karton brachte ich ihr. Sie verhielt sich … distanziert.«
»Verständlich. Du hast ihr wahrscheinlich einen gehörigen Schrecken eingejagt, indem du einfach so dort aufgekreuzt bist.«
»David kam gerade zu ihr zurück und jagte mir einen gehörigen Schrecken ein. Er hielt mich für einen Cop.«
Adam schob die Zähne über seine Unterlippe. »Aber es ist doch nichts passiert, oder doch?«
»Hätte es denn sollen?«
»Nein, war nur eine Frage.«
»Wusstet ihr, dass er aktenkundig ist?«
Adam wich meinem Blick aus. Seine Nase war rot, und unter einer Seite glitzerte die Haut vor Feuchtigkeit. »Erzähl mir nicht, das sei einfach so bei eurer Unterhaltung herausgekommen.«
»Nein, ich bin selbst darauf gestoßen.«
»Wie das?«
»Nicht von Belang.« Ich wollte Earl und seine Dunkelmänner nicht gefährden. »Wusstet ihr davon?«
»Was David in der Vergangenheit angestellt hat? Falls du die Ermittlungen des Police Departments in Frage stellst, lass dir gesagt sein, dass du davon nichts verstehst.«
»War nur eine einfache Frage.«
»Natürlich wussten wir Bescheid. Spätestens nachdem wir seinen Werdegang unter die Lupe genommen haben. Hältst du uns für eine Horde tollpatschiger Fernsehdetektive, die über ihre eigenen Schnürsenkel stolpern und sich selbst in den Fuß schießen?«
»Okay«, beschwichtigte ich. »Mehr wollte ich nicht wissen.«
»Warum denn überhaupt?«
»Vergiss es.« Ich wuchtete die Axt über meine Schulter.
»Gestern sprach ich zufällig mit Ira Stein. Genau deswegen kam ich daraufhin hierher. Um nach dir zu sehen.«
Fuck, dachte ich und ließ die Axt wieder in den Schnee sinken. Dann strafte ich Adam mit einem finsteren Blick. »Was hast du vor, willst du mir auf den Sack gehen? Mich beim Lügen erwischen? Ja, ich habe mit Ira geredet.«
»Er meinte, du schreibst ein Buch über das, was den Dentmans passiert ist.«
»So drückte ich es ihm gegenüber nicht aus. Als ich sein Haus verließ, war er betrunken, also hat er da etwas in den falschen Hals gekriegt.«
»Er behauptete, du hättest ihm eine Menge Fragen über sie gestellt. Und irgendwann sei seine Frau ausgeflippt.«
»Jesus Christus, sie war aufgebracht, als ihr Mann auf ihren toten Hund zu sprechen kam. Ich erklärte ihnen, dass ich an der Geschichte von Westlake interessiert bin. Wir schweiften ab und gelangten zu den Dentmans. Es war reiner Zufall.«
»Dann stimmt es also nicht. Du schreibst kein Buch über die Dentmans?«
Während ich ihn anstarrte, zählte ich meine Herzschläge. Als ich endlich antwortete, erstaunte mich, in welch gelassenem Tonfall ich es tat. »Ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen. Wir sind hier nicht in einem deiner verdammten Verhörzimmer.«
»Fein. Du musst mir keinen Scheißdreck beantworten. Aber lass dir von mir einen kleinen brüderlichen Rat geben: Dies hier ist eine Kleinstadt, wo sich Gerüchte wie Lauffeuer verbreiten. Wenn du dir Ärger ersparen willst, hörst du besser auf, deine Nase überall hineinzustecken.«
»Einfach unglaublich«, grollte ich. »Jetzt drohst du mir –«
»Ich drohe dir nicht, Arschloch. Ich warne dich. Du hast hier draußen ein lauschiges Plätzchen gefunden, und deine Frau verdient es. Also vermassel es nicht, indem du ihr mit deinem närrischen Verhalten Schande machst.«
Ich platzte heraus: »Ich glaube, David Dentman hat seinen Neffen umgebracht.«
»Ist das so?«
»Die Indizien passen nicht so recht zueinander. Die Dinge ergeben keinen Sinn.«
»Ach wirklich? Wie sehen deine Indizien denn aus? Kannst du mit mehr aufwarten als ein paar Anzeigen wegen Körperverletzung, derer er nicht einmal für schuldig befunden wurde?«
Ja, welche Indizien hatte ich eigentlich? Die alles umfassende Merkwürdigkeit dieses Falles? Die Tatsache, dass David mir beinahe den Hals umgedreht hätte, als wir uns bei seiner geisteskranken Schwester in ihrer gemeinsamen Absteige begegnet waren? Ich hörte bereitwillig auf mein Bauchgefühl, das sich jedoch nicht allzu gut in handfeste Fakten ummünzen ließ.
Dass ich an diesem Punkt schwieg, war bezeichnend.
»Wir arbeiten mit Tatsachen«, betonte mein Bruder. »Mörder handeln nach Motiv, Unschuldige bringen Alibis hervor, und man kann niemanden nur aufgrund bestimmter Ungereimtheiten hinter Gitter stecken. Im wirklichen Leben ist es eben so, dass nicht alles einen Sinn ergibt, und das hier ist das wirkliche Leben, nicht eines deiner Bücher.«
Und wenn doch?, dachte ich.
»Die Leiche wurde nie gefunden«, erinnerte Adam. »Diese Menschen erhielten niemals Gewissheit. Lass sie in Frieden.«
Als ich meine Schuhe auf der Terrasse abklopfte, kochte ich innerlich immer noch vor Wut. Drinnen warf ich die Jacke übers Sofa; auf dem Wohnzimmertisch davor waren Elijahs bunte Bauklötze zu einer Pyramide aufgetürmt.
Nachdem ich hinaufgegangen war, stellte ich mich in den Türrahmen unseres Büros, wo Jodie über einer Reihe von Lehrbüchern zur Psychologie sowie Ordnern fotokopierter Zeitschriftenartikel brütete. Einen Zeigefinger hatte sie in den Henkel einer dampfenden Tasse gehakt, die nach Kamillentee duftete.
»Arbeitest du fleißig?«, fragte ich.
»Von nichts kommt nichts.«
»Hast du das Holzding unten auf dem Tisch gebaut?«
»Welches Holzding?« Sie behielt die Nase über den Seiten, drehte den Kopf nicht, um mich anzusehen.
Ich gluckste. »Komm schon, die Klötze auf dem Wohnzimmertisch.«
Jetzt erst wandte sie sich mir zu. Ohne Schminke wirkte sie natürlich, aber auch irgendwie streng. »Ich versuche, hier weiterzukommen. Was willst du mir sagen?«
»Jemand hat unten auf dem Tisch Spielklötze gestapelt.«
»Du siehst irgendwie verändert aus«, stellte Jodie fest, als sie mich einen Tick zu lange musterte, mir entging nicht, dass sie meine Gedanken lesen wollte. Ich glaubte, ich stünde nackt in der Tür. »Alles in Ordnung?«
»Was meinst du?«
»Weiß nicht. Du bist schon seit Tagen nicht mehr du selbst.«
»Wer bin ich sonst?«, fragte ich und kam nicht umhin, an jene Nacht zu denken, als Jodie behauptet hatte, sie sei, als sie vom Bett ins Bad gegangen war, im Spiegel auf mein Gesicht gestoßen.
Ich war du.
»Du weißt, was ich meine«, sagte sie.
»Nein, tue ich nicht. Erklär es mir.«
Jodie seufzte. »Weshalb gehst du nicht duschen und rasierst dich? Ein bisschen Wasser kann nicht schaden; du wirst dich danach besser fühlen.«
»Mir geht es gut.«
»Du kommst mir vor, als hättest du einen Geist gesehen.«
Mir graute vor diesem Wort.
»Vielleicht arbeitest du zu verbissen an diesem neuen Projekt. Gönn dir ein paar Tage Pause.«
»Gut.« Ich wollte nicht länger diskutieren.
»Du bist gestresst. Deswegen hast du auch ständig Albträume.«
»Was für Albträume?«
»Keine Ahnung.« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Du winselst wie ein Welpe im Schlaf.«
»Tu ich das?«
»Es ist Stress.« Damit widmete sie sich wieder ihrer Arbeit.
»Was ist nun mit diesen Klötzen?«, fragte ich ihren Rücken.
»Ich weiß wirklich nicht, wovon du verdammt noch mal sprichst. Ich spiele nicht mit Bauklötzen.«
Ich kehrte nach unten zurück, räumte den Tisch ab und trug alles in den Keller, wo ich es zurück in den blauen Plastikeimer warf. Dann setzte ich mich schnaubend an Elijahs niedrigen Schreibtisch, wobei ich die Beine verdrehen musste und dennoch mit den Knien anstieß. Schließlich schlug ich einen meiner Blöcke auf.
Earls Kleinformate fielen mir entgegen, zuoberst Veronica undeutlich hinter Wacholdern. Einmal mehr beschlich mich das penetrante Gefühl, etwas versuche, mich aus diesen Fotos anzuspringen oder winke mit den Armen wie ein Ertrinkender, um sich bemerkbar zu machen. Allerdings wusste ich nach wie vor nicht, was es war.
Die Lösung tritt beim Schreiben zutage, sagte ich mir, griff zu einem Stift und legte die Bilder neben den aufgeschlagenen Block.
Mein Tutor für kreatives Schreiben am College meinte einmal: »Fiktion ist sehr häufig die bessere Wirklichkeit; Gräuel sind leichter verdaulich, wenn man sie herausputzt und tanzen lässt wie Zirkusclowns.«
So ließ ich mich von meinen eigenen Worten zum fehlenden Puzzleteil leiten, indem ich ausladende Beschreibungen zu jedem von Earls Schnappschüssen verfasste – das ledrig graue Wasser und die krumme Treppe, die aus der glasigen Oberfläche emporstieg, die Streifenwagen vor üppig grüner Sommervegetation unter vorbeifliegenden Cumuluswolken am Horizont. Ich verlieh Veronicas leerem Blick Ausdruck und enthob Davids von Polizeimützen nahezu verdecktes Gesicht der Unkenntlichkeit.
(Obwohl ich es nicht mit Gewissheit sagen konnte, würde ich schwören, dass während des Schreibprozesses etwas hinter mir lauerte – unterschwellig, zögerlich – und anfing, die Holzklötze am Boden erneut aufzutürmen. Dessen wurde ich nur vage, wie in geistiger Umnachtung, ähnlich einem Trinker gewahr, der seine Eskapaden am Morgen nach dem Zechen nur bruchstückhaft rekapitulierte.)
Ich war so ins Formulieren und Betrachten der Fotos vertieft, dass ich nicht bemerkte, wie Jodie die Kellertreppe herunterkam. Als sie sich räusperte, um ihrem Groll Luft zu verschaffen, ging ich vor Schreck beinahe an die Decke.
»Jesus«, rief ich mit rasendem Puls.
»Was treibst du hier?« Sie lehnte mit verschränkten Armen vor der Brust an dem Loch in der Wand. Ob bewusst oder nicht, wagte sie keinen Schritt herein.
»Was soll ich schon treiben?« Rasch schob ich einen der Blöcke über die Fotos.
»Dieses Zimmer«, begann Jodie. »Diese Sachen. Ich dachte, du wolltest sie abholen lassen.«
»Wollte ich.«
»Und wo liegt das Problem?«
Ich war versucht, sie anzulügen.
Ehe ich mir jedoch eine Antwort zurechtgelegt hatte, zerstob sie meine Gedanken. »Du machst mir Angst. Mit dir stimmt etwas nicht.«
»Liebes …«
»Spiel es nicht herunter. Hast du in letzter Zeit einmal in den Spiegel geschaut? Du siehst beschissen aus.«
»Ich weiß. Ich weiß. Aber ich stehe kurz vorm Durchbruch.«
»Kurz vorm Durchbruch«, sprach sie mir nach. »Wahnsinn trifft es wohl eher.«
»Ich versuche bloß, mir etwas begreiflich zu machen.«
Sie tippte sich mit zwei Fingern ans Kinn und sah aus, als kämen ihr gleich die Tränen. Bei den folgenden Worten zitterte ihre Stimme: »Adam meint, du besuchst nacheinander alle Nachbarn und fragst sie über den Jungen aus, der hier gestorben ist.«
»Adam begreift das nicht.« Ich musste mich zusammenreißen, um nicht aufzubrausen. Am liebsten hätte ich ihn als Hurensohn bezeichnet, der seine Nase in seine eigenen Angelegenheiten stecken sollte. »Was mit dem Jungen geschah, war kein Unfall. Es war Mord.«
Mir gefiel es nicht, wie Jodie mich anblickte – wie einen Fremden, und sie wolle ergründen, wo ich hergekommen war.
»Adam sorgt sich um dich.« Sie überging mich, als hätte ich nichts gesagt. »So wie ich.«
»Dazu besteht kein Grund. Ehrenwort.«
»Ich befürchte nur, du tust es wieder …«
»Was wieder?«
»Das Gleiche wie nach der Beerdigung deiner Mutter. Du wurdest depressiv und kamst nicht aus dem Bett. Dein Zwangsverhalten … du bist auf dem besten Wege zurück in diesen Zustand.« Ihre Stimme überschlug sich. »Du sitzt hier unten in diesem bedrückenden gottverdammten Sarg von einem Zimmer und spinnst dir Geschichten über tote Kinder zurecht. Ich finde das furchtbar.«
Irgendwie gelang es mir, ihr ein schwaches, harmloses Lächeln zu schenken. »Du hast es eben vor zehn Minuten gesagt – es liegt am Stress. Ich bin zu angespannt, du hast ja recht.«
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren mit Tränen gefüllt.
»Oben, schon vergessen? Du hast gemeint, ich solle mir eine mehrtägige Auszeit gönnen. Wir könnten gemeinsam etwas –«
Jodies Kopfbewegung wurde immer vehementer. »Nein«, wisperte sie. »Nein, Travis. Das war gestern Abend, nicht vor zehn Minuten. Du sitzt jetzt schon fast einen ganzen Tag hier.«
Das kam mir so absurd vor, dass ich losprustete. Rückblickend schätze ich, dieses Lachen schockierte sie mehr, als dass es Spannungen abbaute; zugegebenermaßen war es um meinen Geisteszustand damals nicht zum Besten bestellt. »Wovon sprichst du?«
»Du bist seit gestern Abend hier.«
»Das ist nicht –« Ich schnitt mir selbst das Wort ab. Mein Kopf schwirrte wie ein Feuerwerkskörper. Verzweifelt versuchte ich die Stücke zusammenzufügen, die Uhrzeit und das Datum, aber es gelang mir nicht. War es tatsächlich denkbar? »Jodie …« Ich ging einen Schritt auf sie zu.
Sie trat einen zurück und hielt beide Hände vor. »Nein. Stop.«
»Babe –«
»Schluss jetzt. Ich will, dass du damit aufhörst. Mach dich davon los.«
»Ich bin nicht –«
»Du jagst mir eine Heidenangst ein.«
Ich blieb mit einem Fuß über der Schwelle des verstecken Zimmers stehen. Jodie hatte sich zu Waschmaschine und Trockner geflüchtet. Sie streckte die Arme nach wie vor abwehrend von sich, dass es mir das Herz brach. Meine Frau war eindeutig und tatsächlich verstört, ihre Furcht vor mir indes unbegründet, denn ich hatte weder an sie noch sonst jemals gewaltsam Hand an das weibliche Geschlecht gelegt. Sie brachte mich zum Zittern.
»Hab keine Angst vor mir.«
»Ich habe keine Angst vor dir, sondern um dich.«
»Hör zu –«
»Nein, hör auf.« Sie holte bebend Luft. »Versteh mich und sei nicht böse. Ich werde über Nacht bei Beth und Adam bleiben. Du sollst wissen, dass ich dieses Haus nicht wieder betreten werde, bis dieses Zimmer geräumt ist, du den ganzen Plunder fortgeschafft und die Wand geschlossen hast. Hast du mich verstanden?«
»Du überreagierst.«
»Drücke ich mich verdammt noch mal klar aus?«
Mich fröstelte. »Ja«, krächzte ich.
»Okay.« Jodie nahm die Treppe und war schon halb oben, als sie innehielt. »Ich liebe dich, aber wenn ich vortäuschen würde, es sei alles in Ordnung, täte ich dir keinen Gefallen.«
Ich horchte, wie sie die restlichen Stufen in ihren schweren Schuhen nahm, und im Erdgeschoss auf die Bohlen trat. Es raschelte, und kurz darauf knallte die Haustür. Falls sie eine Tasche gepackt hatte, war diese wahrscheinlich bereits drüben bei Adam.
Einen ganzen verfluchten Tag? Ich habe hier übernachtet? Ich lachte allein schon deshalb, weil es mir so abstrus vorkam, doch genauso erschreckte es mich, und zwar nicht wenig. Die Kälte drang bis zu den Wurzeln meiner Seele.
Etwas bewegte sich hinter mir in Elijahs Zimmer, und als ich mich umdrehte, sah ich zunächst nichts Außergewöhnliches. Bei näherer Betrachtung aber stellte ich fest, dass zwei der farbigen Holzklötze – ein gelber und ein grüner – auf dem Schreibtisch lagen. Einer stand hochkant, der andere balancierte horizontal obendrauf, sodass sie gemeinsam ein großes T ergaben.
Ich brüllte richtiggehend auf, als oben das Telefon klingelte, raste die Treppe hinauf und riss den Hörer von der Küchenwand. In Erwartung von Adams strenger, maßregelnder Stimme, die mich anschrie. Ich meldete mich mit stahlharter Entschlossenheit in der Stimme.
»Travis? Earl Parsons hier.«
Ich räusperte mich und entschuldigte mich für meine anfängliche Schroffheit. »Ich hielt Sie für jemand anderen. Ist alles klar bei Ihnen?«
»Klar wie Regen.« Dem Geräusch nach zu schließen, aß er gerade. »Ich habe Althea Coulter aufgespürt.«
Ein gewisses Siegesgefühl konnte ich nicht verhehlen. »Fantastisch. Sagen Sie mir bitte, dass sie noch lebt.«
»Schätze, das ist Ansichtssache. Sie wird stationär im Frostburger Krankenhaus behandelt: Strahlentherapie. Ich habe just mit ihrem Sohn gesprochen, nachdem ich mich als alter Freund der Frau ausgab, und er meinte, sie liege in den letzten Zügen.«
»Krebs«, subsumierte ich kurz und bündig. »Jesus.« Augenblicklich wurde ich klar im Kopf. »Ich kann niemandem auf dem Sterbebett im Krankenhaus mit Fragen drangsalieren.«
»Dann lassen Sie es bleiben.« Earl hob zu einem einigermaßen verträglichen Vorschlag an: »Besuchen Sie sie, nehmen Sie einen Blumenstrauß mit und sorgen Sie dafür, dass sie sich gut fühlt. Ihr Sohn sagt, sie sei recht einsam, obwohl er versuche, sie so oft wie möglich zu sehen. Vermutlich kämen Sie ihr sogar entgegen.«
Ich atmete tief ein und sah erneut, wie Jodie in der Waschküche verharrte. »Ich verhalte mich ziemlich egoistisch, nicht wahr?«
»Kommt darauf an«, wog Earl ab. »Tun Sie das alles denn für sich oder Elijah Dentman?«
Ich dachte lange nach. »Sowohl als auch.«
Nachdem ich mir die Nummer von Altheas Krankenzimmer in der Handfläche notiert hatte, dankte ich Earl für seine Mühen. Er bat mich, ihn über alle weiteren Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten, und ich versprach, ihn sofort in Kenntnis zu setzen, sobald sich etwas herauskristallisierte.
»Sie glauben wirklich, dass wir einer heißen Spur folgen, oder?« Obwohl er die Stimme am Ende des Satzes zur Frage hob, wusste ich genau, dass er das Gleiche wie ich empfand.
Als ich auflegte, bemerkte ich etwas auf dem Küchentisch und trat näher. Es waren zwei herausgerissene Zeitungsartikel. Ich musste nicht genauer hinsehen, um mich zu vergewissern, dass es die Berichte zu Elijahs angeblichem Unfalltod waren, die ich aus der Stadtbücherei gestohlen hatte; sie waren an den Falzen erkennbar, wo ich sie gefaltet hatte, um sie einzustecken. Hinterher waren sie wohl in meiner Hose geblieben, und Jodie hatte sie beim Umstülpen der Taschen für die Wäsche entdeckt.
Ausgebreitet wie Beweismittel in einem Mordfall vor Gericht verursachten diese gedruckten Nachrichtenfragmente ein schweres, unbeschreibliches Beben tief in meinem Inneren.
Ich hatte mich mit einem dicken, pelzverbrämten Parka und einem Paar Wollhandschuhen gegen die Witterung gewappnet und fuhr auf den Besucherparkplatz vor dem Frostburg Medical Center, einem breiten Backsteingebäude. Neben mir auf dem Beifahrersitz vibrierte eine niedrige Grünpflanze im Takt des Automotors.
Von außen sah das Krankenhaus wie eine altertümliche Kathedrale aus, spitze Giebel im gotischen Stil, und die Flügel umsäumt von einem schwarzen Gitterzaun mit Speerspitzen. Ein langer Schotterweg erstreckte sich wie ein Flussarm hinauf zur automatischen Tür, die sich unter einem mit robusten Stützpfeilern ausgestatteten Vordach befand. Die Fenster waren schmal und mit Maschendraht abgesichert, während der steril weiße Anstrich der Ziegelfassade einen Eindruck von Knochen vermittelte, auf die der Verbrennungsofen wartete. Hinter dem Gemäuer ragte eine Reihe erhabener Kiefern auf, riesengroß und schneebedeckt. Von dort aus, wo ich den Wagen abgestellt hatte, sah ich über dem Gesims knapp unter dem Dach ein schweres Vogelnest aus Stöckchen und dünnen Zweigen herabhängen. Passend dazu wachten zwei gewaltige Falken an beiden Seiten der Wand.
Ich stieg aus dem Auto. Die Kälte war scharf und es roch intensiv nach Winter. Ich zog meine Marlboros heraus und steckte mir eine in den Mund, dann entflammte ich sie mit dem Feuerzeug im Schutz meiner hohlen Hand gegen den Wind.
Das Foyer der Klinik kam mir vor wie ein Uterus. Den Boden hatte man mit zweckdienlich braunem bis orangefarbenem Teppich ausgelegt (dem speziellen Braun, das man nur in Krankenhäusern zu sehen bekommt), und über meinem Kopf brummten große Gasentladungslampen.
Den Nummernschildern an den Wänden folgend, geriet ich auf einen langen, klaustrophobisch engen Flur. Er war ungewöhnlich schlecht beleuchtet, und vom Personal fehlte jede Spur, auch am Ende des Gangs, wo mehrere Schreibtische als Empfang fungierten. Diese Station suchte niemand für routinemäßige Nachuntersuchungen oder wie auch immer geartete chirurgische Eingriffe auf. Nein, dieser Ort besaß etwas Endgültiges, denn die Menschen, die hier landeten, wussten nur zu gut, dass sie ihn nie mehr verlassen würden. Das Prozedere, Patienten gesund zu entlassen, kannte man hier nicht.
Bevor ich das Zimmer aufsuchte, dessen Nummer mir Earl am Abend zuvor übermittelt hatte, zog ich mich auf eine Männertoilette zu einem Waschbecken zurück. Am Morgen hatte ich mich hastig geduscht, mich aber weder rasiert noch die Haare gewaschen. Mein Gesicht war blass eingefallen mit hochstehenden, schwarzen Härchen an den Wangen, die sich wie Spinnenbeine kräuselten. Dunkelrote Halbmonde zeichneten sich unter meinen Augen ab, die ihrerseits stark gerötet waren und aussahen wie mit Plastiklack überzogen. In brauner Cordhose, dickem Strickpulli und Flanellweste unter meinem Skiparka sah ich aus wie ein Obdachloser, der sich gerade von draußen ins Warme gestohlen hatte.
»Hätte mich wenigstens rasieren können«, brummelte ich mein Spiegelbild an. Dann drehte ich einen der Wasserhähne auf, wusch mein Gesicht und strich die zu langen Haare glatt, wobei ich die Knötchen so gut es ging mit den Fingern löste.
Als jemand aus einer Kabine hinter mir trat, fuhr ich zusammen. Der Mann nickte in stiller Höflichkeit und ging hinaus, ohne sich die Hände zu waschen. Vermutlich hatte er mein Gemurmel mitbekommen und nahm das Risiko einer von Toilettenkeimen übertragenen Krankheit in Kauf, um sich meine Gesellschaft zu ersparen.
Ich holte tief Luft, um mich ein letztes Mal im Spiegel zu mustern. Dabei dachte ich wieder an Jodies »Ich war du«, und in meinem Kreuz zwickte es, als stiebe ein rasch verglimmender Funke dagegen.
Ich war du.
Zimmer 218 befand sich am Ende des hintersten Flurs. Die Tür war geschlossen. Während ich mich mit der Topfpflanze in beiden Händen näherte, rechnete ich die ganze Zeit über damit, jemand tippe mir auf die Schulter und frage, wer ich sei beziehungsweise was ich hier suche. Aber nichts dergleichen passierte.
Ich stellte mir Althea Coulter vor und was ich projizierte, war eine gebrechliche, ältere Frau mit dunklen und vom grauen Star trüben Augen, die ihre Lippen vor Verbitterung permanent anspannte. Ihre Hände ähnelten Krallen – gefährlich hakenförmig wie die eines Raubvogels – und ihr dicker Kopf war unbeweglich. Der Raum würde nach schlechtem Atem, Medikamenten und einem vagen Hauch von Urin riechen. Sie schlief bestimmt. Und mir war es unmöglich sie zu wecken und ihr auch nur eine Frage zu stellen, aber selbst wenn sie wach wäre, schwebte sie gewiss längst weitab in einer Traumwelt und ihre Antworten, falls sie überhaupt welche hervorbrachte, würden verworren bis unsinnig oder schlicht aus der Luft gegriffen sein. Ja, meine geistige Althea Coulter war eine uralte, mumifizierte Gliederpuppe mit Haut von der Farbe versengten Stoffes sowie einem Wollknäuel als Gehirn.
Was zur Hölle mache ich hier?
Vor der Tür haderte ich: anklopfen oder einfach eintreten? Ich hatte einen Kloß im Hals, der in meiner Speiseröhre stecken zu bleiben schien, als ich schluckte.
Ich stehe auf einem schmalen Grat zwischen Fiktion und Wirklichkeit.
Ich öffnete und trat ein.
Die Frau im Bett mochte an die sechzig sein, obwohl sie aufgrund ihrer hohlen Wangen, spinnwebenfeiner Haare und runzliger Haut genauso gut eine vor Jahrhunderten einbalsamierte Leiche hätte sein können, die aus einem Schaukasten gerollt war.
Ich trat so leise es mir möglich war ein und achtete darauf, dass das Türschloss nicht laut einrastete. Der Raum war finster und muffig. Die Luft darin heiß und schwer von verschiedenen Gerüchen. Sie unterschieden sich steril voneinander: Ammoniakgestank, mit einer Note ätzenden Urins; das sieche Odeur von Althea Coulters welkem, reglosem Körper unter papierdünnen Krankenhauslaken. Und da war noch etwas – wenngleich nur andeutungsweise und nicht wirklich ein Geruch – ich wusste es ohne Zweifel, es war der Gestank des bevorstehenden Todes.
Sie war wach, ihr fragiler Körper lehnte gegen einen Kissenberg. Als ich mich in die Mitte des Zimmers bewegte, drehte sie den Kopf abwesend zu mir, nur kurz und kaum geistesgegenwärtig, ehe sie sich erneut dem einzelnen Fenster neben ihrem Bett widmete, dessen Jalousien ihr jeglichen Ausblick verwehrten.
»Miss Coulter?«, fragte ich. Meine Stimme hallte im leeren Raum wider.
Sie antwortete nicht. In der Stille hörte ich deutlich, wie sie rasselnd Luft holte. Ihr Körper funktionierte auf Sparflamme, würde bald für immer abschalten.
Ich versuchte es erneut: »Wie geht es Ihnen?«
»Kein Hunger.« Praktisch krähte sie, eine angestrengte, müde Stimme, die nach ungestimmten Gitarrensaiten klang.
»Oh« entgegnete ich, »ich bin kein Pfleger.«
Wie eine Holzpuppe drehte sich ihr Kopf langsam auf ihrem dünnen Hals, bis ich der Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit war, und diesmal wirklich. Selbst für eine Farbige wirkte sie aschfahl eingedenk der aufgesprungenen Lippen. Bilder erschienen vor meinem geistigen Auge, wie die Schwestern versuchten, dieser menschlichen Vogelscheuche Blut abzunehmen und nichts außer einer Staubwolke aufstob, sobald sie das sterbende Fleisch mit der Nadel durchstachen.
Sie musste nicht sprechen; die Frage stand in ihren Augen.
»Mein Name ist Travis Glasgow. Meine Frau und ich sind erst letzten Monat nach Westlake gezogen. Wir wohnen im ehemaligen Haus von Familie Dentman.« Ich wusste nicht, wie ich fortfahren sollte, und die Kranke starrte unbewegt. Ich hielt mich am Strohhalm fest. »Ich soll Ihnen beste Wünsche von den Steins überbringen. Übrigens gaben sie mir das hier für Sie mit.« Ich hielt ihr die Pflanze vor, obwohl ich wusste, dass sie körperlich nicht in der Lage dazu war, sie entgegenzunehmen.
Etwas in ihrem Gesicht beschied mir, dass sie sich nicht mehr an die Steins erinnerte. Mich überkam ein starkes Gefühl von Niedergeschlagenheit. Mein Vorhaben, so schien es, erwies sich als Reinfall auf allen Ebenen.
Althea schnitt eine Grimasse, indem sie die Lippen schürzte, um ihren Sprechapparat in Gang zu setzen. Als es ihr gelang, knarrte die Stimme wie ein zugehender Sargdeckel. »Stellen Sie sie dorthin, Sohn, damit ich die Blüten riechen kann.«
Ich ging um das Bett und platzierte den Topf auf einem niedrigen Nachtschrank aus kühlem Industriestahl. Darauf stand sonst nur das Foto eines freundlich dreinschauenden Jungen mit dunkelblauer Mütze und farblich passenden Kleidern. Ich fragte mich, ob er der Sohn war, den Earl am Telefon erwähnt hatte.
»Wie, sagten Sie, war Ihr Name?«
»Travis Glasgow. Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Ma‘am.«
Sie glättete mit steifen Händen die Decke vor sich. In einem ihrer spindeldürren Arme steckte eine Infusionsnadel. »Sehe ich aus, als hätte ich viel zu tun?«
Ich schenkte ihr ein schiefes Grinsen. »Nein, Ma‘am.«
Ihre Unterlippe zitterte, als sie die Stirn in Falten legte. »Sie sagten, Sie leben nun wo?«
»Im früheren Haus der Dentmans in Westlake. Dem mit dem See dahinter.«
»Das Haus der Dentmans«, wiederholte sie. Im Hinblick auf ihre Verfassung war es unmöglich, ihren Tonfall zu deuten.
»Sie gaben dem Sohn der Familie Unterricht, nicht wahr? Elijah Dentman?«
Die Krankheit hatte Altheas Auffassungsgabe scheinbar nicht in Mitleidenschaft gezogen, denn sie bemerkte, wie unwohl mir bei dieser Frage war, sann eine Weile schweigend nach und wartete, ob noch etwas nachkam. Ich lauschte ihrem Röcheln und hielt sie nicht zur Eile an. Schließlich fragte sie: »Sind Sie ein Freund der Dentmans?«
»Eigentlich nicht, Ma‘am. Ich hörte ehrlich gesagt erst von ihnen, als wir in ihr Haus zogen.«
»Also warum sind Sie hier? Ich freue mich über Gesellschaft, Gott weiß, aber ich verstehe es nicht. Den ganzen Weg, nur um mir diese Pflanze zu bringen?«
Das machte aus meinem Lächeln ein nervöses Lächeln. Und das wiederum brachte Althea zum Lächeln. Ihre vergilbten Zähne sahen nach Plastik aus – wie von einem Skelett beziehungsweise einer Leiche.
Meine fahrigen Hände verrieten mich, als ich einen Faden von meinem Parka zupfte. Schlagartig wurde ich dessen gewahr, also begann ich, den Reißverschluss aufzuziehen, wobei ich mich aber unterbrach. »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns ein wenig unterhalten?«
»Besuch bekomme ich ansonsten nur von Michael«, antwortete sie betrübt, »und der schenkt mir kein Grünzeug, also dürfen Sie gern bleiben – es sei denn, Sie werden meiner überdrüssig.«
Ich zog den Parka aus und hängte ihn über die Lehne eines Klappstuhls aus Metall neben dem Nachtschrank. Dann nahm ich darauf Platz und betrachtete erneut das gerahmte Bild des hübschen Kerls mit Mütze in feinem Zwirn. »Ist das Michael?«
»Mein Sohn, ja.« Diesmal schwangen eindeutig Gefühle mit. »Zudem mein einziges Kind und ein guter Junge, oh ja. Sicher, er ringt wie jedermann mit seinen Dämonen, aber ich lasse nichts über ihn kommen.«
»Er sieht gut aus, sportlich.«
»Das Bild entstand, als er seinen Abschluss am College machte. Sehen Sie? Vorher hat niemand aus meiner Familie das geschafft. Er bekam sogar ein Stipendium, stellen Sie sich vor.«
»Gut für ihn.«
»Jetzt braucht er nur noch einen besseren Job. Die Jugend heutzutage hat es nicht leicht, etwas zu finden, wenn sie die Schule verlässt.«
»Besucht er sie oft?«
»Nicht mehr. Es ist hart für ihn. Ich nehme es ihm nicht übel.«
»Meine Mutter starb vor mehreren Jahren an Brustkrebs. Sie kämpfte eine Weile. Es war schwer für sie. Für meinen Bruder und mich auch.« Natürlich musste ich dabei wieder an ihre Beerdigung denken und wie Jodie mich in Rage aus Adams Haus geschleift hatte.
»Ich habe es im Magen«, sagte Althea. »Sie schnitten Stückchen heraus. Ein bisschen schnipp-schnipp hier, ein bisschen dort, aber es liegt nicht an den Schmerzen, dass es so schrecklich ist. Es sind die Beschwerden. Morgens wird mir regelmäßig übel. Es ist hart etwas zu essen. Noch dazu kann ich nachts nicht schlafen.«
»Und man kann nicht mehr für Sie tun?«
»Was denn? Was bleibt übrig? Schauen Sie sich die hier an.«
Sie streckte vorsichtig die Arme aus. Diese waren so dünn und röhrenförmig wie Papprollen von Klopapier. Ein Netz dicker, blauschwarzer Adern schimmerte unter ihrer Haut. »Ausgezehrt. Sie stechen mich mit Nadeln, dass ich mir vorkomme wie ein Sieb.« Sie klang nicht verdrossen, sondern im Gegenteil unterschwellig humorvoll. Dann seufzte sie. »Wir schießen Astronauten auf den Mond, Radiowellen durch den Äther und was sonst noch alles, doch die Geheimnisse hier unten auf der Erde, die Rätsel des menschlichen Körpers bleiben weiterhin unergründet.«
»Tut mir leid«, bekundete ich. »Ich gehe lieber, wenn ich Sie zu sehr aufrege.«
Althea schien, als wolle sie mit einer Hand abwinken. »Der Tod ist das, was mich aufregt. Die Leute sind flüchtige Erscheinungen, die ein- und ausgehen. Man hört zu, lässt sich Krankengeschichten erzählen und tauscht sie aus wie Baseballkarten. Welcher normale Mensch will das aber?«
»Ich nicht.«
»Ich auch nicht.« Sie schaute zuerst auf mich und dann auf ihren Michael, was mich glauben ließ, sie suche nach irgendeiner Gemeinsamkeit zwischen uns, obwohl sie nur schwerlich fündig würde. »Sie sagten, Sie seien verheiratet, bilde ich mir ein. Haben Sie auch Kinder?«
»Nein, Ma‘am.«
»Wenn Sie länger bleiben und plaudern wollen, mein Freund, dann hören Sie lieber auf, so verdammt höflich zu sein. So was brauche ich nicht. Das ist lächerlich.«
»Verzeihung. Ich werde versuchen mich ungehobelter auszudrücken.«
Althea räusperte sich, was etwas länger dauerte. Abgesehen vom durchdringenden Rasseln ihrer verschleimten Bronchien kämpfte sie mit Tränen, die schließlich an den Konturen ihres Gesichts hinunterliefen. Ihren Schädel unter der dünnen, straffen Haut auszumachen, war erschreckend einfach. Schlussendlich, ihre Luftröhre klang wieder frei und sie wischte die fehlgeleiteten Tränen mit beiden Handrücken weg, sprach sie weiter: »Wie kommt es nun, dass Sie eine seltsame Lady besuchen, der Sie nie zuvor begegnet sind?«
Ich hatte mir die Konversation penibel zurechtgelegt, um Althea gesprächig zu machen, wie zuvor Ira und Nancy … doch als ich die Frau ansah, wurde mir schlagartig bewusst, dass sie meine Lüge ohne Weiteres durchschauen würde. Sie kann geradewegs in den Abgrund meiner Seele blicken, dachte ich und zweifelte nicht im Geringsten daran.
»Glauben Sie an Geister?« Ich wusste nicht, was ich sagen würde, bis ich die Worte geäußert hatte. Seit wir nach Westlake gekommen waren, musste ich diese Frage irgendwo anbringen, doch erst jetzt glaubte ich, die richtige Person gefunden zu haben, die eine Antwort darauf wusste.
»Geister?«, hakte Althea nach, als habe sie sich verhört.
»Ja«, bestätigte ich. »Ich weiß, das klingt verrückt.«
»Sie sind doch kein Polizei Officer, oder doch?«
»Nein«, sagte ich und dachte an: Sind Sie ein Bulle? Hat Strohman Sie geschickt? »Ich bin Schriftsteller.«
»Ein Schriftsteller, der eine alte Frau über Geister ausfragt?«
Ich lächelte wohlwollend und rieb mir die Hände zwischen den Oberschenkeln. »Wissen Sie, was Elijah Dentman zugestoßen ist? Er ertrank letzten Sommer im See hinterm Haus.«
»Ich las es in der Zeitung.« Sie starrte ihre krummen Finger auf der Bettdecke an. Ihre Knöchel sahen aus wie Knoten eines Galgenstricks.
»Das Unglück beschäftigt mich«, ließ ich sie wissen. »Die Tatsache, dass man seine Leiche nicht gefunden hat, lässt mich nicht los. Die Schludrigkeit von Westlakes Gesetzeshütern bei den Ermittlungen halte ich für unerhört. Was dem Jungen zugestoßen ist, geht über einen Unfall hinaus, aber ich kann es nicht beweisen, also bin ich hergekommen, um mich mit Ihnen zu unterhalten.«
»Und was glauben Sie, könnte ich Ihnen sagen?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Vielleicht nichts. Allerdings kann es sein, dass Sie etwas wissen, dessen Wichtigkeit Sie nicht bemerkt haben – etwas, das ich dem, was ich bisher herausgefunden habe, zufügen kann, um das Puzzle zu vervollständigen.«
Althea schaute mich emotional ungerührt an. Falls sie nach meinen Ausführungen etwas fühlte – überhaupt irgendetwas –, bezeugte ihre Miene es nicht. »Seien Sie so gut und öffnen Sie die Jalousie, bitte«, sagte sie letztlich im trägen Ton.
Ich stand auf und trat vors Fenster. Ein Plastikrohr, das ungefähr so dick wie ein Kugelschreiber war, pendelte an der Seite. Ich drehte daran, bis sich die Lamellen öffneten, dann schob ich sie von der Scheibe fort. Draußen schien weder die Sonne, noch raubte ein strahlend blauer Himmel den Atem; nur dichte Quellwolken zogen müßig vorbei. Die Landschaft wirkte ausgehöhlt und farblos wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film. Ich sah mein Auto auf dem Parkplatz. Darüber zwei Falken, deren Nest ich zuvor am Sims entdeckt hatte. Sie kreisten nun scheinbar hungrig in der Höhe, als warteten sie auf das Ableben ihrer Beute – meines Hondas?
Als ich mich umwandte, besah Althea einmal mehr das Foto ihres Sohnes auf dem Nachtschrank. »Was genau schreiben Sie?«
»Romane.«
»Welcher Art?«
»Eher düsteres Zeug. Horrorbücher. Mystery. Menschen, die Gespenster aus der Vergangenheit hinterher jagen, sowohl wortwörtlich als auch im übertragenen Sinn.«
Desinteressiert versuchte sie sich zur Seite zu lehnen, um es sich einigermaßen bequem auf den Kissen zu machen. Ich würde sagen, dass es ihr Schmerzen verursachte. »Ich persönlich«, sprach sie dann, »bevorzuge Liebesromane. Haben Sie jemals etwas Romantisches geschrieben? Eine Lovestory?«
»Auf diese Art beginnen alle«, antwortete ich, und es entsprach der Wahrheit. Althea schaute aus dem Fenster. Ob sie das Wetter enttäuschte oder genau dieses erwartet hatte, konnte ich nicht sagen. Überhaupt schien diese Frau nur schwer fassbar zu sein.
»Ich weiß nicht, was Sie sich von unserem Gespräch erhoffen«, gab sie nach einer Weile zu bedenken.
»Wie lange haben Sie Elijah unterrichtet?«
»Etwas länger als einen Monat. Das County hat mich dazu beauftragt, vermutlich nachdem irgendwem aufgefallen war, dass es dort einen Jungen im schulpflichtigen Alter gab. Jedenfalls nahm man seine Mutter unter die Lupe.«
»Veronica.«
»Ja, Veronica.«
»Kannten Sie ihren Vater Bernard Dentman? Soweit ich weiß, kehrte Veronica mit ihrem Bruder David nach Westlake zurück, um ihn bis zu seinem Tod zu pflegen.«
»Das deckt sich mit dem, was mir zu Ohren kam, aber ich kannte den Mann nicht, denn er war schon tot, als ich dort anfing.«
»Weshalb blieben Sie nur einen Monat?«
»Weil mir der Krebs zunehmend zu schaffen machte.«
»Tut mir leid.«
»Und außerdem konnte ich nur wenig bei dem Jungen ausrichten.«
»Wieso?«
»Er war anders.«
Ich entsann mich der Beschreibung, die Adam mir nachts nach der Weihnachtsfeier gegeben hatte, Elijah war geistig ein wenig zurückgeblieben, weshalb er Heimunterricht bekam …
»Ich bezweifle stark, dass man ihn je richtig von einem Arzt untersuchen ließ«, fuhr Althea fort, »aber für mich war das Kind autistisch veranlagt.«
»Was macht sie da so sicher?«
»Ich spürte es einfach. Er hatte Kommunikationsschwierigkeiten und wusste sich nicht richtig auszudrücken. Für einen gewöhnlichen Zehnjährigen hing er in seinen Fähigkeiten weit zurück. Er sprach abgehackt und stotterte wie der Motor eines Traktors bei Kälte. Selbst einfachste Mathematikaufgaben wurden zum Problem und er versteckte sich unterm Küchentisch. Manchmal ließ er sich mit Keksen locken, aber oft blieb er dort sitzen, bis ich aufbrach. So begann die Beziehung zwischen mir und dem Kleinen, um genau zu sein. Ich brachte Süßigkeiten mit und bot sie ihm zu Beginn jeder Stunde an.«
»Wie verstanden Sie sich mit der Mutter?«
»Sie liebte ihn sehr. Jedoch war sie als Mensch ebenfalls gebrochen. Mir kam es immer so vor, als leide sie nach irgendeinem Schicksalsschlag – vermutlich in ihrer Kindheit – unter einem Trauma. Elijahs Erziehung machte ihr zu schaffen.«
»Was wissen Sie über seinen Onkel David? Wie verhielt er sich dem Jungen gegenüber?«
»Ich bekam ihn kaum zu Gesicht«, sagte sie. »Wenn ich unter der Woche nachmittags vorbeikam, war Mr. Dentman meistens arbeiten.«
»Aber Sie sind ihm begegnet?«
»Ja.« Ein beklommener Ruck ging durch Altheas Stimme. »Zwei Tage hintereinander, als sich mein Monat bei den Dentmans zum Ende neigte, öffnete er mir die Haustür, nachdem ich geklopft hatte. Natürlich wusste ich, wer er war, denn der Kleine hatte zu mehreren Gelegenheiten über seinen Onkel gesprochen. Persönlich untergekommen war er mir bis dahin aber nicht.«
Als sie nun lange ausatmete, klang es, als drücke jemand ein Akkordeon zusammen. Dann verzog sie das Gesicht zu einem Gewirr von Falten, die wie Rinnsale auf ihre Nase zuliefen. »Er war mir gegenüber sehr abweisend, machte auf und meinte, Elijah fühle sich nicht gut. Ich hatte den Mund halb geöffnet und wollte fragen, ob der Junge ernsthaft krank sei, auch weil Dentman selbst zu Hause geblieben war, doch er schlug mir die Tür vor der Nase zu, bevor ich etwas sagen konnte.«
»Das klingt ziemlich typisch«, erwiderte ich. »Und es ist zweimal geschehen?«
»Am nächsten Tag kehrte ich zurück und klopfte wieder. Erneut öffnete Mister Dentman, diesmal nur einen Spaltbreit, und sprach im exakt gleichen Wortlaut zu mir, Elijah ginge es nicht gut. Er sagte es auf wie ein auswendig gelerntes Zitat, doch ich war darauf vorbereitet und kam zu Wort, ehe er wieder zumachte. ›Sie wissen sicherlich, dass das County nur wenige Krankheitstage gestattet, wenn ein Kind Heimunterricht bekommt‹, sagte ich ihm. Das stimmte nicht, denn das Kind durfte genauso oft und lange krank sein wie jedes andere, aber die Ausstrahlung des Mannes beunruhigte mich. Nach dem ersten Tag hatte ich mir bereits die Nacht mit Gedanken über den Jungen um die Ohren geschlagen, und als Mister Dentman am zweiten mit der gleichen Masche kam, war mir klar, dass etwas nicht stimmte. So einfach wollte ich ihn nicht vom Haken lassen.«
»Wie hat er reagiert?«
»Er musterte mich durch den Türspalt, und erst, als er ganz aufmachte, wurde mir bewusst, wie groß der Mann war, was für breite Schultern und kräftige Arme er hatte. Sein Gesicht hingegen wirkte kindlich, sanftmütig und stellenweise rundlich weich, was überhaupt nicht zum Rest des Körpers passte. Ich weiß noch, dass etwas in seinem Gesicht mein Mitleid weckte.«
»Ich habe ihn auch getroffen«, sagte ich. Anders als Althea aber hatte ich angesichts von Davids Erscheinungsbild mitnichten Mitleid empfunden.
»Er vertröstete mich auf den folgenden Tag, wenn es Elijah wieder besser ging. ›Ich komme bestimmt wieder‹, versicherte ich ihm. ›Der Kleine hat einiges nachzuarbeiten.‹ Wissen Sie, mit diesen Worten wollte ich durch die Blume sprechen, und ein aufgeweckterer Kerl als Mister Dentman hätte es wahrscheinlich auch begriffen, aber ihm entging die Botschaft, die ich zu vermitteln suchte, offenbar gänzlich.«
»Vielleicht besser so. Ich hatte den Eindruck, dass ihn verschleierte Drohgebärden ziemlich kaltlassen.«
»Unnötig zu erwähnen, dass ich tags darauf wieder auf der Matte stand, und es war, als hätte es die beiden Vortage nie gegeben. David war nicht da, also öffnete Veronica, als ich klopfte. Elijah wartete bereits, und wir gingen seine Übungen auf die gleiche, bewährte Weise durch.«
»Wie hat er sich benommen?«
»Er war gewohnt still und in sich gekehrt, machte aber keineswegs den Eindruck, kürzlich krank gewesen zu sein.« Sie wusste, worauf ich aus war, und gab die Antwort der Frage vorweg, die ich als Nächstes gestellt hätte. »Ich untersuchte ihn rasch auf etwaige Verletzungen, natürlich. Wir sind dazu ausgebildet, das zu tun, selbst nur auf einen Verdacht hin, wenn wir das Gefühl hegen, etwas laufe aus der Bahn.«
»Haben Sie etwas entdeckt?«
»Nicht die kleinste Spur« , sagte sie und ich fühlte, wie meine Zuversicht schwand.
»Ich blieb aber neugierig«, fuhr Althea fort. »Vor dem Ende unserer Stunde sagte ich zu Elijah: ›Es sieht so aus, als fühlst du dich besser? Warst du denn gestern und vorgestern krank?‹ Er guckte nur mit seinen großen Kulleraugen und antwortete nicht, was aber nicht ungewöhnlich war, wenn man ihn kannte. Manchmal ignorierte er seine Mitmenschen bewusst, wofür er aber nichts konnte. Wie gesagt, ich war außerstande, ihm zu helfen. Er hätte von einem Spezialarzt behandelt werden müssen.«
»Haben Sie der Familie jemanden empfohlen?«
»Ja«, platzte sie heraus – so schnell, dass sie sogar vor dem Weiterreden Luft schnappen musste. »Ich wandte mich direkt an den Zuständigen auf dem Amt. Bis ich aber den nächsten Schritt wagen konnte, durchkreuzte der Krebs meine Pläne, und ich musste die Stelle aufgeben. Da war es bereits Sommer, eine sehr ungünstige Zeit, um irgendwelche Amtsbeschlüsse durchzudrücken, weil man die Ferien dort genauso auskostete wie unter Schülern, wenn nicht sogar intensiver. Bevor dann das neue Schuljahr begann …«
»War er tot.« Ich konnte die Ereignisse mittlerweile zeitlich treffend einordnen.
»Genau. Ich weiß noch, dass ich in der Zeitung davon las. Der Kleine tat mir furchtbar leid und seine Mutter auch. Sie war selbst eine verlorene Seele. Nicht zuletzt deshalb kamen mir die beiden häufig vor wie zwei Teile eines Ganzen. Mit Makeln behaftete Menschen, die sich vor lauter Angst aneinander klammern, um nicht aus dem Leben zu scheiden, sobald sie einander loslassen.«
Ich nickte. Wie genau sie den Nagel damit auf den Kopf traf, erschütterte mich. »Haben Sie Elijah an jenem Nachmittag weitere Fragen gestellt?«
»Oh ja. Sehen Sie, nachdem ich einmal zu stochern begonnen hatte, konnte ich nicht mehr ablassen.« Sie hob einen Arm und packte mich am Handgelenk, und ich stellte mir vor, wie der Krebs ihr Blut unter der Haut zum Kochen brachte. »Manchmal, wenn man etwas verfolgt, endet das manchmal in einer Jagd.«
Es ist ein Kommen und Gehen, rief ich mir wieder ins Gedächtnis.
»Ich fragte ihn erneut, ob er wirklich krank gewesen sei«, führte sie weiter aus, »doch er starrte mich wortlos an. Also packte ich es anders an, ich fragte ihn, ob er Ärger während der vorigen Tage hatte.« Sie senkte die Stimme, als säßen die Dentmans im Nebenzimmer, und sie wolle nicht belauscht werden. »Wenn man Kindern untersagt bestimmte Fragen zu beantworten, werden sie nur das antworten, was man ihnen eingetrichtert hat. Geht man aber von einem anderen Punkt aus – aus einem Winkel, auf den sie nicht vorbereitet sind –, erhält man die Antworten, die man sucht.«
»Und welche waren das in diesem Fall?«, fragte ich ebenfalls in gedämpftem Ton.
»Er erzählte, sein Onkel habe ihn angeschrien wegen der Tiere. Wegen der Tiere hätte er sich Ärger eingehandelt.«
»Welche Tiere?«
»Die toten«, antwortete sie. Die Aussage ließ mein rechtes Augenlid flimmern. »Er erzählte mir von seinen Schoßtieren. Wie er sie sammelte, wenn er welche im Wald entdeckte, und mit nach Hause nahm. Er erwähnte einen Hasen und ein Eichhörnchen – beide hatte er im Frühjahr auf dem Hof gefunden – aber er hat gesagt, er hätte ihn wegen dem Hund angeschrien. ›Er war zu groß und ich konnte ihn nicht verstecken‹, sagte er.«
»Der Hund …« Meine Stimme verlor sich.
»Ich hatte keinen blassen Schimmer von dem, was mir der Junge begreiflich machen wollte, und das teilte ich ihm auch mit. Da stand er vom Tisch auf und fragte mich ruhig, ob ich seine Schoßtiere sehen wolle. Er hätte noch einige versteckt, meinte er, und sein Onkel habe sie bisher noch nicht gefunden. Ich stimmte zu, woraufhin er nach oben ging. Dann nahm ich Platz, wobei ich spürte, wie der Krebs wie etwas Lebendiges in meinem Magen rumorte. Die Mutter des Jungen ließ sich während des Unterrichts nie am Tisch nieder, trieb sich aber stets irgendwo in der Nähe herum, man bemerkte sie fast nicht, wie ein Gespenst. Manchmal hörte ich sie auch durch die Wände. Als Elijah endlich zurückkehrte, hielt er einen Schuhkarton vor der Brust. Ich fragte ihn, ob seine Schoßtiere darin wohnten, was er mit einem Nicken bestätigte und die Kiste auf den Tisch stellte. Ich bat ihn, sie öffnen zu dürfen, und er nickte wieder. Sie begreifen sicher langsam, wie eine Konversation mit diesem Kind ablief.«
»Ja.« Ich entsann mich mancher Sendung auf dem Discovery Channel, in der es um verwahrloste Kinder ging, die in den Elendsvierteln europäischer Städte oder südamerikanischen Regenwäldern aufwuchsen und von Hunden großgezogen wurden.
»So schob ich den Deckel vom Karton und sah –«
»Vögel«, nahm ich ihr die Worte vorweg. Fast war mir, als höre ich das Geräusch sich fügender Puzzleteile. »Tote Vögel.«
Althea schaute mich an, als habe ich gerade das Geheimnis unserer Welt zutage gefördert. Dann kniff sie ihre trüben Augen fest zusammen, und einen gequälten, langsam verstreichenden Moment meinte ich sogar, ihr Herz gegen die zarte Wand ihres Brustkorbes pochen zu hören.
»Sie wissen von den Vögeln«, stellte sie fest, wunderte sich nicht darüber. Falls doch, verkniff sie sich weitere Fragen darüber. »Hinterher setzte er den Deckel wieder auf und hockte sich auf seinen Stuhl. Ich fragte, ob er wisse, dass die Tiere tot seien, was er nicht beantwortete, dafür jedoch, wo er sie fand, nämlich im Wald unter den Bäumen im Gestrüpp oder halb von Erde bedeckt.«
»Mit anderen Worten wollten Sie in Erfahrung bringen, ob er sie umbrachte«, mutmaßte ich. Der Gedanke an die zerquetschten Vogelküken und den Frosch, der wie ein aufziehbares Spielzeug in meinen Händen gezappelt hatte, ließ mich nicht los. Im Laufe der Therapie, der man mich nach Kyles Tod unterzogen hatte, sprach ich nie über diese Vorfälle. Fraglich blieb, wie meine Psychiaterin darauf reagiert hätte.
»Ja«, bestätigte Althea, »aber er tötete sie nicht. Er hat sie nur zufällig gefunden, so wie den Hasen und das Eichhörnchen.«
»Sie erwähnten den Hund.«
»Elijah sagte, er habe sein Grab zwischen den Bäumen unweit des Sees entdeckt. Als er ihn ins Haus schleppte, schalt sein Onkel ihn und wies ihn an, den Kadaver wieder zurückzutragen und im Wald zu lassen. ›Und daher der ganze Ärger?‹, fragte ich ihn. Weder bejahte Elijah das, noch schüttelte er den Kopf, sagte nichts weiter. So versuchte ich ein letztes Mal, ihn zu einer Aussage über seinen Gesundheitszustand während der vergangenen beiden Tage zu bewegen. Schlussendlich sagte er: ›Bin weggegangen.‹ Ich bohrte weiter, doch er wiederholte immer das Gleiche – er sei weggegangen.«
»Wohin?«
»Genau das fragte ich ihn auch: ›Wo bist du hingegangen?‹ Er wiederholte nur ›Bin weggegangen.‹ Ich fragte ihn, ob ihn jemand mitgenommen hatte. Er antwortete nicht. Er fürchtete sich – zu sehr – und ich ahnte, wenn ich es auf die Spitze trieb, würde ich ihn scheu machen, wo er gerade erst ein Stück weit aus sich herausgegangen war. Man verrennt sich, wenn man etwas zu hartnäckig verfolgt, und das tat ich. Ich beugte mich über die Tischplatte und legte meine Hand auf seine, was an sich schon ein heikler Akt war, denn er mochte es nicht, von irgendjemandem angefasst zu werden, auch nicht von seiner Mutter. Mir war klar, dass er vielleicht aufspringen und nach nebenan laufen würde. Aber ich versuchte verzweifelt etwas herauszufinden.«
»Ist Elijah weggerannt?«
»Nein.« Speichel war in Altheas Mundwinkeln zu weißen Bläschen geronnen. »Ich fragte rundheraus, ob ihm jemand wehgetan habe – seine Mama, Onkel David oder wer auch immer. Er sah mich lange an, ich erinnere mich, dass ich die Uhr im Stillen ticken hörte. Minuten vergingen, nicht wenige, doch dann zog der Junge seine Hand unter meiner heraus und legte sie an die Brust, mit der anderen fuhr er darüber, als hätte ich ihn verbrannt. ›Onkel David war ganz viel böse‹, antwortete er. ›Bin weggegangen.‹ Gerade wollte ich weitersprechen, da fiel ein Schatten über uns – die Mutter des Jungen stand in der Küchentür. Sie sah aus wie der Geist einer Frau, die auf einem Piratenschiff von der Planke gesprungen war. Sie hatte schwarze Augenringe und diese Narbe im Schläfenbereich.« Althea hob einen ihrer streichholzdünnen Arme, dessen Ellbogen aussah wie ein knorriger Baumstumpf, und zeichnete den Verlauf der Narbe an ihrem Kopf nach. »Gegen ihren blassen Teint sah sie leuchtend rot aus. Mich traf fast der Schlag, weil sie sich so herangeschlichen hatte.«
»Was hat sie gesagt?«
»Sie behauptete, ihr Sohn fühle sich bestimmt noch ein wenig matt, weshalb es das Beste sei, wenn ich die Stunde beende und damit ich mich nicht anstecke, welche Krankheit er auch immer hatte. ›Ma‘am‹, fing ich an, ›Ich glaube, auf der gesamten Welt gibt es nichts so Schlimmes, das mir der kleine Junge übertragen könnte, was ich nicht ohnehin schon habe.‹ Aber sie sagte: ›Gehen Sie bitte‹, und verschwand aus dem Raum. Zu diesem Zeitpunkt habe ich beschlossen, auf dem Amt Bericht zu erstatten, was sich dort zutrug. Und der Blick, den mir die Mutter des Jungen zugeworfen hatte, ich sage Ihnen … na ja, er fuhr mir bis in die Knochen und setzte mir ärger zu als jede Chemotherapie, die ich hatte. Ich packte mein Zeug zusammen und verließ das Haus. In der Woche darauf verschlimmerte sich mein Zustand so sehr, dass ich mich krankmeldete. Da keine Besserung in Sicht war, quittierte ich den Dienst endgültig. Ich kehrte nie wieder zu dem Haus zurück.«
Ohne Zweifel, Althea Coulter war definitiv eine Hartgesottene, die nichts so leicht erschrecken konnte. Dennoch fragte ich mich, inwieweit der Magenkrebs sie dazu gezwungen hatte, nie wieder zum Haus der Dentmans zurückzukehren, oder ob sie ihn als Vorwand benutzt hatte.
»Wissen Sie vielleicht – ob früher schon jemand einen Vorfall von Kindesmissbrauch meldete?«
»Abgesehen von meiner Andeutung auf dem Amt, etwas Seltsames geschehe in diesem Haus – ich glaube nicht. Und wissen Sie, ich habe den Behörden nie irgendeinen Missbrauch mitgeteilt.« Erneut verengten sich ihre Augen. Ihre Farbe erinnerte an Kerzenwachs, durchzogen von roten Äderchen. »Sie sind mit eigentümlichem Anliegen zu mir gekommen, mein Sohn. Dass Sie das, was dem Jungen zugestoßen ist, nicht für einen Unfall halten, erwähnten Sie bereits, aber können Sie mir auch sagen, was genau Sie hinter alledem vermuten?«
»Ich glaube, er wurde umgebracht.« Die Worte brachte ich selbstsicher und vorbehaltlos heraus, denn Zweifel, die ich bis dato noch gehegt hatte, verflüchtigten sich Stück für Stück. »Ich kann es nicht beweisen, glaube aber, dass sein Onkel es getan hat.«
Die alte Frau zog eine Augenbraue hoch, was beinahe komisch wirkte. »Haben Sie die Polizei schon in eine Theorie eingeweiht?«
»Sozusagen«, erwiderte ich und fing zu grübeln an: Welche Theorie? Ich mache bestenfalls Andeutungen, fische im Trüben und brüte über einem handgeschriebenen, unvollendeten Romanentwurf. Weder gibt es ein Motiv, noch stichhaltige Beweise. »Mein Bruder arbeitet dort, und ich sprach mit ihm darüber.«
»Was hält er davon?«
Ich grinste. »Er meint, ich solle es mir aus dem Kopf schlagen. Angeblich verschwende ich meine Zeit und bewege mich im Kreis, weil ich grundlos auf der Jagd nach etwas bin, das ich zuvor bloß interessiert verfolgt habe, wie Sie es ausdrücken.«
Althea lächelte verschroben, was ihrem vom Sterben gezeichneten Gesicht einen noch finstereren Ausdruck verlieh. Der Tod pustete ihr kalt in den Nacken, und unverhofft erhaschte ich eine Ahnung davon. Es war der abgestandene Geruch der Verwesung, fast süßlich wie bei einer Mumie. Sie verlagerte ihr Gewicht. »Sind Sie mit Ihren Fragen durch?«
»Ja, Ma‘am.«
»Gut, denn ich habe auch eine an Sie«, kündigte sie an, »aber um sie stellen zu können, brauche ich etwas Wasser für meinen trockenen Hals. Im Schwesternzimmer den Flur hinunter gibt es welches. Sind Sie so nett?«
Ich ging hinaus. Hinter den rund aufgestellten Schreibtischelementen saß jetzt eine attraktive junge Krankenschwester mittleren Alters mit dunkelbraunem Teint und gepflegten Zähnen. Ich bat sie um ein Glas Wasser für Althea, und sie wollte es mir geben, fragte jedoch zuerst, ob ich mich bereits als Besucher eingetragen hätte. Ich verneinte, woraufhin sie umso mehr strahlte und mir ein Klemmbrett vorhielt. Daran hing ein Kugelschreiber an einem Stück Faden. Aus Gründen, die mir bis heute verborgen blieben, hinterließ ich mein Pseudonym Alexander Sharpe in Druckbuchstaben und gab ihr das Teil zurück.
»Fairer Tausch«, bemerkte die Schwester, nahm das Brett entgegen und reichte mir dafür eine halbvolle Wasserkanne von Tupperware sowie einen kleinen Plastikbecher, auf den jemand mit wischfestem Stift die Initialen des Krankenhauses geschrieben hatte.
Zurück im Zimmer, füllte ich den Becher und hielt ihn Althea hin, die wie ein Kind mit beiden Händen zugriff. Ich schaute ihr ein wenig beklommen zu, weil ich damit rechnete, dass sie sich entweder besudelte oder jeden Moment verschluckte, aber nichts von beidem geschah.
»Ahhh«, seufzte sie, nachdem sie den Becher geleert hatte. Nun wirkte sie viel schwächer als noch vor wenigen Augenblicken; die Todesuhr hakte eine weitere Minute ab, mit der sich Althea dem Unvermeidbaren näherte. »Gut, gut.«
Ich nahm ihr den Becher ab. »Möchten Sie noch mehr?«
»Nein, es sei denn, Sie wollen in schätzungsweise drei Minuten jemanden mit der Klingel rufen, der die Laken wechselt.« Althea winkte matt mit einer Hand, also stellte ich den Becher neben das Foto ihres Sohnes. »Das Zeug rutscht mittlerweile in einem durch.« Sie machte die Medikamente, die sie bekam, für ihr dünnes Blut verantwortlich.
In den Stuhl niederlassend, faltete ich die Hände zwischen den Knien und neigte mich nach vorn zu ihr. »Was wollten Sie mich fragen?«
»Sie erwähnten anfangs Geister.«
»Ja, und ich wollte wissen, ob Sie daran glauben.«
»Habe ich Ihnen eine Antwort gegeben?
»Nein.«
»Möchten Sie eine hören?«
Ich fühlte, dass sie mit mir spielte, konnte aber nicht anders und grinste: »Wenn Sie möchten.«
Sie wieherte wie ein junges Pferd, als sie die Arme reckte und das zerknitterte Laken wieder glattstrich. Dann atmete sie flach, aber geräuschvoll ein, derweil sie einen kritischen Blick aufsetzte, was ich auf das Bestreben hin zurückführte, meinen Charakter eingehender durchleuchten zu wollen. Sobald sie jedoch die Stimme hob, bemerkte ich, dass sie sich ihrer Jugend entsann und den verwehten Fußspuren zurück in die Kindheit folgte.
»Im Sommer, als ich sechs Jahre alt war«, begann sie, »schlug sich meine Mutter mit allen möglichen Jobs kreuz und quer im Land durch. Sie müssen wissen, mein Vater war im Vorjahr mit einer anderen durchgebrannt, die er bei Orville – das war in Louisiana, wo ich aufgewachsen bin – im Drugstore kennengelernt hatte. Meine Mutter wollte das Wohlergehen ihres Kindes nicht von ihm abhängig machen. Er hatte uns mit nichts zurückgelassen außer den Kleidern an unserem Leib und einem baufälligen Kartenhaus drüben in Cameron. Wir benötigten ein Auto kurz nachdem er abgehauen war, und ich erinnerte mich daran, mit Mutter zum Gebrauchtwagenhändler an der Best Street gegangen zu sein, wo wir einen alten Chrysler für hundertfünfundsiebzig Dollar bekamen, der aussah wie nach einem Garagenbrand und ungefähr so verlässlich war wie der Mann, den Mutter auf dem ganzen Weg zurück nach Cameron verfluchte.
Die Arbeit, die sie verrichtete, bestand aus regelmäßigen Haushaltsdiensten an mehreren Orten in den gehobeneren Stadtvierteln. Das waren hochgiebelige Anwesen mit weißen Säulen und Gärten so üppig und weitläufig, dass man sich in der Tat darin verirren konnte. Auf ihrer Rundfahrt kehrte sie einmal pro Woche in jedem Haus ein, aber da ich zu klein war, um selbst auf mich aufzupassen, zumal es keinen Sinn ergeben hätte, einem Babysitter mehr zu zahlen, als sie beim Reinmachen in diesen Häusern verdiente, nahm sie mich mit. Die meiste Zeit über wartete ich in den Wohnzimmern auf irgendeiner teuren Couch auf sie und hielt die Hände fest verschränkt auf meinem Schoß, während ich fernsah. Mama ließ mich nichts essen oder trinken, nicht einmal einen Snack oder so, weil sie befürchtete, ich könne etwas verkleckern. Anderswo hockte ich an Küchentischen und malte Bilder, die ich den Eigentümern zurückließ. Sie glauben wohl, diese Leute sahen uns als niedere Hilfskräfte an und nicht mehr, was größtenteils stimmte. Andererseits müsste ich lügen, wenn ich behaupten würde, in die Häuser zurückgekehrt zu sein, ohne meine Zeichnungen an den Kühlschränken hängen zu sehen, als stamme es von deren eigenen Kindern.«
Sie blinzelte versonnen. Man sah, wie viel ihr dies bedeutete.
»Am liebsten hielt ich mich bei den Mayhews auf, einem netten Paar mit drei älteren Kindern, die alle ausgeflogen waren, um ein College zu besuchen. Ihr Haus war ein wunderbares Stück Architektur, für dessen Säuberung meine Mutter den ganzen Tag brauchte. Aber das Beste daran stellten der abschüssige Rasen sowie die umliegenden Gärten dar, die zu einem Palmenhain führten.
Dieser beschrieb die Grenze zwischen dem Grundstück der Mayhews und dem ihrer hinteren Nachbarn. Eines Nachmittags spielte ich zwischen diesen Palmen, als ich durch die Äste ein kleines Mädchen auf dem anderen Feld sah. Es war nur ein bisschen älter als ich, zierlich und bleich mit Knopfaugen wie eine eierlegende Henne. Selbst in meiner Jugend bemerkte ich ihre innere Zerbrechlichkeit. Sie trug einen Kopfschal mit Blumenmuster und hatte allem Anschein nach eine Glatze. Als sie mir winkte, freute ich mich und tat es ihr gleich, woraufhin sie loslief und in den Wald kam, wo sie sich hinter den Baumstämmen versteckte. So spielten wir den ganzen Nachmittag lang, bis Mutter von der Gartenterrasse aus rief, es sei an der Zeit, nach Hause zu fahren.
Als wir an einem anderen Morgen wieder einmal zu den Mayhews mussten, fragte sie mich, was ich den ganzen Tag unter den Palmen trieb, also erzählte ich ihr von meiner neuen Freundin. Auch ihre Kopfbedeckung erwähnte ich, und dass ich glaube, sie habe keine Haare mehr. Meine Mutter vermutete, die Kleine sei krank, weshalb ich nicht zu wild mit ihr herumtollen sollte. ›Wie heißt sie?‹, wollte Mama noch wissen, da fiel mir auf, dass ich ihren Namen nicht kannte. Genauer gesagt hatten wir kaum Worte gewechselt, sondern uns nur hinter den schmalen Stämmen oder breiteren Palmenblättern versteckt, wobei zwar reichlich Gelächter aufkam, nicht aber die Frage nach ihrem oder meinem Namen. Damit hatte Mama mir einen Floh ins Ohr gesetzt. An jenem Nachmittag, als das Mädchen wieder in den Wald gelaufen kam, entdeckte sie mich hinter einem moosbewachsenen Klotz. Ich stellte mich förmlich vor: ›Hallo, ich heiße Allie Coulter. Und wer bist du?‹ So in etwa sollte ich mich auf Mutters Geheiß hin stets bei den Leuten, für die sie arbeitete, kenntlich zeigen. Obwohl sie nichts mit den Eltern des Mädchens zu tun hatte, waren diese doch immerhin die Nachbarn der Mayhews, also hielt ich diese Formel für relativ angemessen.
Das Mädchen antwortete mir nicht. Ihr Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht und dann rannte sie einfach auf gleichem Weg davon. Ich schaute ihr hinterher, und gut möglich, dass ich noch etwas gerufen habe – so lebhaft ich mich auch daran erinnere, gehen mir die Details ab –, aber sie verschwand einfach. Am Abend erzählte ich Mama, was passiert war, und sie meinte, das Mädchen habe vielleicht Angst vor mir bekommen, weil ich ihr anders vorkam. Dies war, wie ich später begreifen sollte, Mutters Art, den Rassenunterschied zu umschreiben, den das weiße Kind verzögert bemerkt hatte. In dem Alter wusste ich nichts von solchen Dingen.
In der folgenden Woche spielte ich wieder zwischen den Palmen. Das Mädchen mit dem Kopftuch näherte sich durch den Hain und betrachtete mich mit ihren großen, traurigen Augen. Ich winkte ihr wieder, da machte sie kehrt und rannte, diesmal allerdings nicht, weil sie mich meiden wollte, sondern wie am Anfang zum Spaß und mit einem heiteren Grinsen in ihrem schmalen Gesichtchen. Ihre knochigen Knie kamen mir wie Robotergelenke vor, aber wir vertrieben uns den Nachmittag lang gemeinsam die Zeit, und ich fragte sie nicht mehr nach ihrem Namen.«
Etwas zog hinter Altheas Pupillen auf, wie wenn man Tinte in ein Glas klares Wasser tropfte. »Abends, auf dem Weg von den Mayhews nach Hause, weihte mich meine Mutter ein, sie habe wegen des Mädchens nachgeforscht: ›Mr. Mayhew sagte, die Familie, die hinter seinem Grundstück wohnt, hatte einmal eine Tochter, die jedoch vor einigen Jahren an Leukämie gestorben ist.‹ Dies alles ist so lange her – viele Jahrzehnte, eine Ewigkeit –, aber wenn ich mich recht entsinne, war Mama während der Fahrt furchtbar aufgeregt. Ihre Fingerknochen zeichneten sich weiß wie Perlen am Lenkrad ab, und dabei war ihre Haut noch dunkler als meine. ›Von nun an bleibst du im Haus, während ich dort arbeite‹, wies sie mich an. ›Wenn deine Freundin spielen will, soll sie dich suchen und einfach anklopfen.‹ In jener Nacht weinte ich deswegen, aber nicht weil ich begriffen hatte, was Mutter meinte, sondern schlicht vor Kummer, weil ich den Wald nicht mehr mit dem Mädchen unsicher machen durfte. Als wir in der Woche darauf zurückkehrten, hockte ich mich drinnen ans Fenster und schaute hinaus ins Grüne. Ich wartete in der Hoffnung, die Kleine werde wirklich anklopfen und mir damit die Freiheit schenken, aber sie kam nicht, und ich sah sie nie wieder.«
Unbehagen, das einer Seekrankheit nicht unähnlich war, durchdrang mich in kaum merklichen Wellen.
»Wie gesagt«, hob Althea wieder an. Sie war vom vielen Reden heiser geworden. »Mein Gedächtnis lässt zu wünschen übrig, wenn ich weit zurückblicken muss, aber was ich bestimmt weiß, ist, dass das Mädchen immer dieselben Kleider trug. Zudem geschah es manchmal, während wir spielten, dass ich sie nicht finden konnte, wenn sie mit dem Verstecken an der Reihe war. Einmal, als ich aufgab und zur Terrasse zurückkehrte, war ich besonders niedergeschlagen und fühlte mich ganz klein. Plötzlich – ich weiß es genau! – fiel mir kurz ihr blumiger Kopfschal ins Auge, also eilte ich zurück zu den Palmen. Leider war das Mädchen, als ich die Stelle erreichte, an der ich sie vermutete, wieder verschwunden.«
»Ist es nicht möglich, dass Sie mit einem anderen Mädchen spielten? Die mit der Leukämie könnte doch schlicht irgendjemand anders gewesen sein.«
»Natürlich.« Althea röchelte. Ich schenkte ihr neues Wasser ein, das sie jedoch nicht sofort trank. »Alles wäre möglich, aber das ist es nicht, was ich glaube.«
»Falls sie ein Geist war«, erwiderte ich. »Wie kann es sein, dass Sie sie sahen?«
»Vielleicht ist dies das größere Mysterium.« Sie legte ihre beiden mageren Hände um den Plastikbecher, setzte an und schlürfte laut; dann stellte sie ihn auf dem Nachtschrank ab. »Ich würde gern glauben, dass sie mit mir fühlte, weil ich in jenem Sommer so allein war und mich nach Freundschaft sehnte.« Sie lächelte müde. Ihr Kopf kam mir dabei vor wie ein Kürbis, den man nach Halloween zum Faulen stehen gelassen hatte. »Geister sind nicht weniger real als alles andere in diesem großen, weiten Universum. Weshalb sollten sie nicht existieren? Glauben Sie nicht an die Seele, die den Menschen erst ausmacht? Folglich muss die auch weiterleben, losgelöst vom Körper, wenn er längst gestorben ist. Jedem Grundschüler bringt man jene alte Weisheit bei: Materie kann weder erschaffen noch zerstört werden, korrekt?«
»Okay, klar.« Das hatte man mir in der sechsten Klasse gelehrt, und ich sah das Bild meines stocksteifen Physiklehrers vor mir, der mit Isolierband geflickte Hausschuhe sowie ein urkomisches Toupet getragen hatte und gerade Wasser in einem Kolben über einem Bunsenbrenner zum Sieden brachte.
»Es ist wahr. Materie kann weder erschaffen noch zerstört werden. Warum sollte die Seele von solchen Universalgesetzen ausgenommen sein?« Was Althea dann sagte, sollte mir nachhaltig im Gedächtnis bleiben. Es klang so schlicht und ergreifend, dass es wegen seines Wahrheitsgehaltes in mir widerhallte wie eine Mahnglocke: »Die Natur kennt kein Aussterben. Sie kennt nur Veränderung. Metamorphose. Sie weiß, dass die Seele, wenn sie einen Körper verlässt, dessen Licht ausgegangen ist, allein schon aus Definitionswegen irgendwo unterkommen muss. Glaubt man aber weder an Gott oder ein anderes höheres Wesen noch an Himmel und Hölle – wohin zieht die Seele dann?«
»Hierher«, antwortete ich, und es war, als hätte sie mir das Wort entrungen. Ich hatte nicht einmal nachgedacht. »Sie bleiben einfach bei uns.«
»Als Geister«, ergänzte sie.
»Als Geister«, wiederholte ich lächelnd, obwohl ich es gar nicht wollte.
Sie schloss die Augen und ließ den Kopf tief in die Kissen sacken. Dass ihre Pein zugenommen hatte, war offensichtlich, doch gleichzeitig erkannte ich, dass sie versuchte, ihr Unwohlsein vor mir zu verbergen. Gerade als ich glaubte, sie sei endlich eingeschlafen, schlug sie die Augen wieder auf und sah sich nach mir um, als hätte sie vergessen, wo ich saß.
»Ich gehe jetzt«, ließ ich sie im Aufstehen wissen und griff nach meinem Parka. »Sie sind erschöpft.«
Sie blinzelte, ehe sie die wässrigen Augen wieder schloss.
»Haben Sie Schmerzen?«, wisperte ich.
»Immer …«
»Soll ich die Schwester rufen?«
»Wozu? Damit sie mir sagt, dass ich sterbe? Das weiß ich schon.« Während ich das Oberteil anzog, ging ich zur Tür. »Ich danke Ihnen, Althea, dass Sie sich Zeit genommen haben. Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen getroffen.«
»Versprechen Sie mir etwas«, bat sie. Mit einigem Abstand zum Bett klang ihre Stimme kaum lauter als das Rascheln eines Papiertaschentuchs.
»Was Sie wollen«, entgegnete ich und wartete darauf, dass sie weitersprach, doch was ich als Nächstes hörte, war gehauchter Atem, während sie in die Bewusstlosigkeit abglitt.
Mehrere Meilen, nachdem ich Frostburg hinter mir gelassen hatte, warf die Sonne tief über der Landschaft goldene Streifen auf die zugefrorenen Berghänge. Wie Satzzeichen kauerten winzig kleine Vögel auf den Stromleitungen. Da die Erinnerungen an die Begegnung mit Althea bereits verblassten, kehrten meine Gedanken an die Geschehnisse der letzten zwei Monate in der Waterview Court 111 zurück – ich hatte mit der Lösung des Rätsels begonnen, das mit dem verhärteten Verdacht, David Dentman habe seinen Neffen ermordet, sowie weiteren unerklärlichen Vorgängen, die aufgekommen waren. Diese umspannten die Zeit seit meiner ersten Nacht im neuen Haus, als ich jemanden barfuß über den Flur huschen gehört hatte.
Altheas Geschichte von dem Geistermädchen machte mir weniger Angst, sondern sorgte dafür, dass ich mich mit Unverständnis plagte, das meine Eingeweide wie ein hitziger Parasit rumoren ließ. Deutete ich jene nächtlichen Geräusche falsch, genauso wie den Handabdruck an der Kellerwand und die seltsamen Wasserflecke auf dem Betonboden, die einem Kinderfuß viel zu ähnlich sahen? Die volkstümliche Kultur lehrt uns, Geister seien rastlose Geschöpfe im Sinnen nach Sühne und Rache an denjenigen, die ihnen Schlechtes angetan haben, aber ist das alles nichts als Nonsens? Ich konnte nicht anders, als mir Altheas Worte abermals vorzusagen: Ich würde gern glauben, dass sie mit mir fühlte, weil ich in jenem Sommer so allein war und mich nach Freundschaft sehnte. Falls dem so war – entging mir irgendetwas inmitten des Wirrwarrs um Elijah und David?
Früher oder später musste ich an Jodie denken. Ich war du. Mein Interesse an den Dentmans hatte sie bereits so aus der Fassung gebracht, dass sie zu meinem Bruder gezogen war. Dafür verachtete ich mich.
Kann ich die Angelegenheit nicht einfach vergessen? Ich will das Handtuch werfen und dieses angebliche Mordmysterium als Debakel abhaken, die Räumungsfirma wieder anrufen, um Elijahs Sachen aus dem Keller zu schaffen, und meine gottverdammten Notizblöcke vernichten. Kann ich es nicht einfach von mir weisen und zulassen, dass mein gemeinsames Leben mit Jodie seinen geregelten Lauf nimmt?
Nein, ich glaubte nicht, dass ich es vermochte. Ferner war mir, als stünde es mir überhaupt nicht zu.
Als ich die Vororte von Westlake erreichte, bremste ich hinter einer kurzen Autoschlange, die sich vor einer Ampel gebildet hatte. Ich streckte mich zur Seite, klappte das Handschuhfach auf und kramte darin herum, bis ich einen Stift und einen Streifen Papier in der Hand hielt, der sich als Rechnung für Bürobedarf erwies. Auf die Rückseite schrieb ich: Es heißt, die Natur kenne kein Aussterben. Es war der perfekte Einleitungssatz für meinen Roman Floating Staircase - Die Treppe im See, falls ich ihn je vollendete.
Als die Ampel auf Grün schaltete, hupte der Fahrer hinter mir.
Schreckhaft, wie ich war, durchfuhr es mich, als hätte jemand einen Schuss abgegeben. Ich stand kurz davor, etwas Unfassbares ans Tageslicht zu befördern, das wusste ich ohne Frage, obwohl ich keine Ahnung davon hatte, weshalb ich mir so sicher war. Auf dem restlichen Weg gab ich ordentlich Gas.
Das Haus war ein finsterer Kasten. Der Schnee hatte im anhaltend milderen Wetter zu schmelzen begonnen. Am Rand unseres Grundstücks zeigte sich vereinzelt graues Gras. Während ich den Schotterweg hinauffuhr, streiften die Hartriegel den Honda zu beiden Seiten. Einen winzigen Rest Hoffnung hegte ich, Jodie wartete zu Hause, aber der nüchterne Teil meiner selbst in mir wusste, dass dies nicht der Fall war. Sie konnte stur sein und hielt sich bestimmt an ihren Entschluss.
Nachdem ich ausgestiegen war, blieb ich stehen und betrachtete das Haus, als wäre es wie aus dem Nichts vor mir aufgetaucht. Der schmelzende Schnee lastete schwer auf dem Vordach, und die Fenster sahen aus wie mit Sand überzogen.
Ich werde verhindern, dass meine Ehe wegen diesem Bullshit zerbricht, nahm ich mir vor. Die Entrümpler anzurufen, die unseren Keller von Elijahs Zeug befreien sollten, hatte ich fest eingeplant. Danach würde ich hinüber zu Adam gehen und mit Jodie sprechen.
Hinter dem Haus machte ich mich auf den Weg zwischen den kahlen Bäumen hindurch zum See. Die Kiefern um mich herum schienen verschwörerisch zu tuscheln. Als das Gewässer in Sicht kam, blieb ich stehen. Es war, abgesehen von einer Scholle in der Mitte, die von den Umrissen her an den Staat Texas erinnerte, mittlerweile aufgetaut. So sah ich wirklich zum ersten Mal das Wasser. Es schimmerte im Licht des Mondes.
Wirf einen Anker aus, hörte ich meinen Therapeuten.
»Sei verdammt noch mal still«, fuhr ich die Stimme an, kehrte um und ging zum Haus zurück.
Drinnen war es verflucht kalt. Die Dunkelheit drückte von draußen gegen die Fenster. Ich schaltete wenige Lichter ein. Ich ging in den Keller und holte Earls Fotos von der Suchaktion der Polizei und hängte sie mit Magneten an die Kühlschranktür. Nachdem ich mich mit kaltem Hühnchen auf dem Schoß am Boden niedergelassen und an die Küchenwand gelehnt hatte, musterte ich gründlich die Motive. Etwas in diesen Szenen entging mir. Es war wichtig, entzog sich jedoch meiner Wahrnehmung.
Wirf einen Anker aus.
Mir blieb nur noch eines; komischerweise war es etwas, worauf mich mein Bruder neulich beim Holzhacken im Hinterhof gebracht hatte: Mörder handeln nach Motiv, Unschuldige bringen Alibis hervor, und man kann niemanden nur aufgrund bestimmter Ungereimtheiten hinter Gitter stecken. Ich griff zum Telefon und hämmerte Earls Nummer in die Tasten. Ein paarmal klingelte es, bis er sich schlaftrunken mit rauer Stimme meldete.
»Sorry, wenn ich Sie geweckt habe«, sagte ich. »Travis hier.«
»Schießen Sie los«, grummelte er. »Wie lief es bei Althea?«
»Sie ist eine herzensgute alte Frau, die einen qualvollen Tod stirbt. Ich bemitleide sie schrecklich.«
»Was wusste sie über die Dentmans zu erzählen?«
Ich unterbreitete ihm die Geschichte von Elijahs ominöser zweitägiger Erkrankung und der Erklärung des Jungen, er sei während jener Zeit »weggegangen«. Außerdem bekam Earl die Sache mit den toten Tieren zu hören, die der Junge gesammelt hatte, und dass sein Onkel deswegen aus der Haut gefahren sei. »Wie heftig sein Gefühlsausbruch war«, hängte ich an, »ist die Eine-Million-Dollar-Frage.«
»Haben Sie Ihre Theorie geschildert? Dass David den Kleinen ermordet hat?« Da war eine jugendliche Ausgelassenheit, die durch die Stimme des alten Mannes lief.
»Fest steht nach meinem Gespräch mit Althea nur, dass die Dentmans eine schräge Familie waren. Sie wusste auch nichts Definitives.«
»Stecken wir in einer Sackgasse fest?«
Meine Augen ruhten nach wie vor auf den Fotos am Kühlschrank. »Nicht ganz. Eine Bitte hätte ich an Sie, und ich will ehrlich sein, ich fühle mich wie der letzte Arsch, Sie so etwas zu fragen.«
»Unsinn.«
»Ich will bloß nicht, dass Sie sich Ärger einhandeln.«
»Ich bin ein großer Junge. Weshalb weihen Sie mich nicht einfach in Ihren kleinen Plan ein und lassen mich dann entscheiden, wie viel Ärger ich ernten könnte?«
Ich rückte mit meinem Plan heraus. »Verwenden Sie einen anderen Namen«, riet ich ihm zuletzt. »Falls Ihnen spontan keiner einfällt, geben Sie ihnen meinen. Sie dürfen nicht mit hineingezogen werden.«
»Himmel«, raunte er und ließ einen Pfiff folgen. »Sie können höllisch raffiniert sein, wenn Sie wollen, Junge, ist es nicht so?«
»Ich erhoffe mir nicht sonderlich viel davon. Wirklich, ich bin mir nicht einmal sicher, was Sie vorfinden werden oder was ich damit beweisen kann. Erst muss ich es mit eigenen Augen sehen.«
»Ich werde mich gleich morgen früh darum kümmern«, versprach Earl. Im Hintergrund hörte ich eines seiner Tiere winseln. Ich rief mir den monströsen Wolfshund wieder vor Augen, der die Anrichte in Earls winzigem Wohnmobil bewachte.
»Seien Sie einfach vorsichtig«, bat ich und legte auf.
Gegen acht Uhr machte ich mir ein Erdnussbuttersandwich mit Marmelade und eine Tasse Kaffee. Damit und mit den Fotos vom Unglücksort zog ich mich wieder in den Keller zurück.
Ich übersehe etwas.
Etwas Wichtiges.
Unten herrschte kohlrabenschwarze Finsternis, so undurchlässig wie geteertes Papier. Die Glühbirne an der Decke hatte den Geist ganz aufgegeben, aber Ersatz konnte ich nicht finden, also stöberte ich eine Taschenlampe auf und leuchtete in Elijahs verborgenes Zimmer. Jemand hatte auf dem Schreibtisch eine Treppe aus seinen Holzklötzen aufgebaut. Ich starrte darauf, wobei ich die Tasse in einer Hand hielt und den Lichtkegel mit der anderen darauf richtete; die Bilder klemmten unter einem Arm, und der Kaffee brannte mit jedem Schluck bis in meine Zehenspitzen. Das Tolle am Kaffee ist, dachte ich, dass er einem beisteht, komme, was da wolle.
Ich setzte mich an Elijahs Schreibtisch und schaltete mit einem Klick die kleine Lampe in der Ecke ein. Eine Zeit lang besah ich die Fotos auf dem Schoß und trank. Die Klötze ignorierte ich solange wie möglich, dann fing ich an, sie wie beim Mikado einen nach dem anderen wegzuziehen, bis dem Gebilde nichts mehr von seinem ursprünglichen Aussehen und Zweck anhaftete. So wurde es gleichsam zu Nonsens. Vor meinen Augen.
Ich schob eines meiner Notizbücher vor, schlug eine leere Seite auf und fing zu schreiben an. Blut tropfte aus meinem Mund auf das Blatt und mein Shirt. Als ich meine Lippen anfasste, verschmierte es meine Finger. Da wurde mir bewusst, dass ich auf dem Stift gekaut und nicht mitbekommen hatte, dass Splitter in meiner Unterlippe stecken geblieben waren. Hatte ich welche verschluckt, ohne es zu bemerken? Ich stellte mir vor, wie eine Suppe aus Holzspänen in meiner aufgerührten Magensäure brodelte.
Ich fasste das Foto des Sees ins Auge, schwenke hinüber zu der Seite, auf der meine Handschrift wie Wellen auf- und abging, und wieder zurück aufs Bild. Es ist ein Kommen und Gehen, sann ich. Irgendetwas stimmt hier nicht.
Dann konzentrierte ich mich auf den Abzug mit Veronica Dentman, die zwischen den Bäumen stand. Tumb. Blind. Starr vor Entsetzen. Bereits tot. Längst gestorben, sinnierte ich. Das nächste Bild zeigte eine Traube Polizisten, die zwischen den Bäumen zum Haus schlenderten. Einige von ihnen hatten sich umgedreht, um dem Fotografen Einhalt zu gebieten. Ihre Gesichter waren aufgrund der Bewegung verwackelt und nicht zu erkennen, genauso wie die von Passagieren durch die Fenster eines vorbeibrausenden Zuges.
Ich warf einen Blick auf den Rest der Holztreppe auf dem Schreibtisch. Alle Klötze waren rot. Ich hätte schwören können, dass beim letzten Mal, als ich hingesehen hatte, auch noch andere Farben vertreten waren. Ich schaute genauer hin, da entdeckte ich die Zeitungsberichte, die ich in der Bibliothek entwendet hatte, unter dem Gebilde. Das Foto von Elijah Dentman stierte mich finster, fast vorwurfsvoll an. An diesem Abend verhießen seine leeren Augen unabsehbare Heimtücke.
Mein Rücken knackte beim Aufstehen. Nachdem ich Notizbücher und Beweisbilder zusammengepackt hatte, mühte ich mich die Treppe hinauf. Ein Bad, dachte ich, dann Bett. Bevor ich nach oben ging, blieb ich am Telefon stehen und starrte es an, als schulde es mir Geld. Die Uhr an der Mikrowelle hinter mir zeigte 88:88. Schließlich griff ich zum Hörer und wählte Adams Nummer.
Am anderen Ende der Leitung klingelte es, klingelte und klingelte, und niemand ging ran.
Hat sein Gerät Ruferkennung? Ignorieren sie jetzt tatsächlich meine Anrufe?
Aus dem Spirituosenschrank nahm ich eine Flasche Wolfschmidt und machte mich davon, als hätte ich etwas gestohlen.
Der Flur im Obergeschoss war der reinste Grubenschacht. Durch die Fenster am Ende glomm blaues Licht und zeichnete Rechtecke auf den Boden. Der Duft von Jodies Parfüm hielt sich hartnäckig hier oben. Ich fragte mich, ob sie zurückgekehrt war, um weitere Sachen mitzunehmen.
Ich ging direkt ins Bad, schlug auf den Lichtschalter und schob die Tür mit einem Fuß zu. Nach einem Schluck zum Aufwärmen stellte ich die Plastikflasche Wodka auf den Waschtisch und betrachtete mich im Spiegel. Ein ungepflegter, kratzender Bart, eingefallene Augen und struppiges Haar, das sich bis über meine Augen kräuselte. Ich wandte mich angewidert ab, nur um beim Anblick von Jodies Haarklammern, die am Beckenrand lagen, meine Augen brennen zu spüren.
Dann ließ ich Wasser in die Wanne und schaute zu, wie sie immer voller wurde, während der Spiegel beschlug und das abscheuliche Monstrum darin auslöschte. Nach einem weiteren Schluck schälte ich mich aus den stinkenden Klamotten und warf alles auf einen Haufen am Boden.
Jawohl, meine lieben Freunde und Nachbarn: Heute Abend lasse ich mich verdammt noch mal volllaufen.
Ich nahm den Wodka mit in die Wanne und zuckte unter dem heißen Strahl zusammen, also drehte ich den Warmwasserhahn mit den Zehen zurück, ehe ich mich niederließ. Dabei stockte und gluckerte und dampfte die Leitung. Das heiße Wasser fühlte sich so gut an, dass meine verspannten Muskeln zusehends lockerer wurden.
Die Fotos hatte ich auf den Fliesen am Boden ausgelegt. Auch ihre Hochglanzoberfläche war vor Feuchtigkeit beschlagen. Erneut kam mir das abwegige Bild des alten Lehrers mit dem kochenden Wasser vor dem Bunsenbrenner. Jefferson? Johnson? Und wenn mein Leben davon abhinge, mir wollte der Name dieses Hurensohnes nicht mehr einfallen.
Draußen auf dem Flur, hinter der geschlossenen Tür, hörte ich den Holzboden knirschen. Ich glaubte, durch den Schlitz unter der Tür eine Bewegung wahrzunehmen. Müde lachend trank ich noch mehr von dem ekelhaft schmeckenden Wodka und lehnte den Kopf an die Wandfliesen. Und –
Und da stand ich draußen im Dunkel der Nacht. Windböen peitschten auf mich ein, stachen auf der Haut und ließen mich bis auf die Knochen frieren. Die Stärke des Windes ließ mich realisieren, dass ich gefährlich unstet auf irgendeinem Punkt hoch über der Welt balancierte. Als ich nach unten schaute, sah ich meine nackten Füße auf der obersten Stufe der Treppe im See stehen – nur war diese Treppe ein Wolkenkratzer, ein monolithischer Finger, der kerzengerade in den schwarzen, sternenübersäten Himmel zeigte, nicht hölzern und pyramidenförmig, sondern golden gedreht, spiralig wie ein Korkenzieher. Unendlich weit entfernt, silbern schimmernde Distanz, konnte ich blinkende Dioden aus Licht sehen, die Westlake darstellten.
Direkt unter mir im dunklen Wasser zappelte jemand. Ich sprang. Sauste durch die Schwärze des Raumes … bloß war es nicht Raum, sondern auch Wasser. Ich hörte es in meinen Ohren rauschen, als ich in die eiskalten, lichtlosen Tiefen tauchte. Ich hielt den Atem an und schwamm durch das Nichts auf ein gespenstisch schimmerndes Licht zu, wobei sich Hindernisse auftaten: Bäume. Unterwasserkiefern. Der ganze Wald war geflutet, und ich schwamm durch ihn auf das wabernde Licht zu. Hartriegel taten sich wie Zaunpfähle auf; ihre Äste waren unfassbar dick und schwer wie wassergetränkte Kissen. Lianen rankten sich wie Tentakel aus braunem Schlamm um meine Knöchel. Schorfige Rinde zerkratzte mein Gesicht, rote Wolken färbten das Wasser.
Als ich durch eine Lücke zwischen den Kiefern schwamm, schwelte das Licht wie der Suchscheinwerfer eines versunkenen Kriegsschiffes, allerdings unheimlich grün. Es ging voran, doch meine Lungen brannten und drohten zu zerreißen. Auf einmal bekam ich ein teigiges, formbares Etwas zu fassen. Ein Körper trieb an mir vorbei. Seine Augen drückten sich wie Quallen aus ihren Höhlen, das Haar wehte wie eine Schwade Seegras, die sich in der Strömung bewegte, und die Stirn durchzog ein runzlig dunkelroter Kamm –
Schreiend fuhr ich hoch, hellwach. Mein Herz arbeitete auf Hochdruck wie ein Stabmixer beim Pürieren. Die Wanne war nahezu voll, und die Wodkaflasche trieb zwischen den angezogenen Knien. Meinen Oberkörper seitlich aus dem Wasser lehnend keuchte ich in tiefen unkontrollierten Stößen. Ich klaubte die Fotos vom Boden zusammen und wischte darüber. Wieder betrachtete ich das mit den Polizisten, die über den Rasen zum Haus gingen, danach das mit Veronica im Gehölz.
Die Bäume.
Ein Lachen kitzelte in meiner Kehle.
Und dann wurde alles klar, als das fehlende Puzzleteil schließlich laut einrastete.
Das Geräusch war nahezu ohrenbetäubend.
Adam öffnete mir im Bademantel und mit Hausschuhen. Sein Haar war ein Durcheinander gekräuselter Locken, die am Hinterkopf klebten und sicherlich hatte ich ihn gerade aus dem Schlaf gerissen. Er brummelte etwas – zwischen allerlei Unverständlichem fiel auch der Name meiner Frau –, doch ehe er ausgesprochen hatte, stürmte ich an ihm vorbei ins Haus. Meine Stiefel hinterließen nasse Bananenabdrücke auf dem Hartholz.
»Was hast du vor?« Er artikulierte sich nun deutlicher und schlug die Haustür hinter sich zu.
Ich lief schnurstracks in die Küche. Mein Haar war immer noch feucht vom Baden – ich bemerkte Eiskristalle, die Klumpen an meinem Haar bildeten – und in meinem getriebenen Eifer hatte ich schlicht wieder die schmutzigen Kleider angezogen, um so schnell wie möglich weiterzukommen.
»Wo seid ihr alle?«, fragte ich, da ich das Haus ungewohnt still fand.
»Jodie und Beth sind mit den Kids im Kino. Was willst du hier?«
Ich zog einen Stuhl heraus und warf die Bilder auf den Küchentisch, dann setzte ich mich.
Adam funkelte mich von der Tür aus an.
»Nimm Platz«, gebot ich ihm. »Ich will dir was zeigen.«
»Du bist betrunken. Ich rieche den Alkohol zehn Meilen gegen den Wind. Hältst du das wirklich für eine so gute Idee?«
»Bitte. Setz dich einfach.«
Er machte aus seinem Unwillen keinen Hehl, rückte jedoch einen Stuhl zurecht und setzte sich mir gegenüber hin – wie jemand, der sich auf heiße Kohlen niederließ. Dabei ruhte sein Blick ununterbrochen auf mir.
Mit beiden Händen schob ich ihm die Fotos zu. »Sag mir, was du siehst.«
Während er mich weiter anstarrte, nahm er die Abzüge in seine großen Hände, wo sie winzig wirkten. Schließlich ließ er von mir ab und blätterte durch die ersten Bilder. Sein Gesicht blieb ohne Ausdruck. »Du bist hergekommen, um mir Bilder vom Grundstück hinter deinem Haus zu zeigen?«
»Sieh genau hin.«
Er betrachtete ein paar und hielt zuletzt inne, da er verstand, was er sah: Fotos von der Suche nach Elijah Dentman. »Woher hast du die?« Seine Stimme ähnelte einem Knurren.
»Spielt das eine Rolle?« Ich langte über den Tisch und entriss ihm die Bilder, um sie zwischen uns aufzufächern, damit wir sie beide sahen. »Ich muss dir nicht sagen, bei welchem Anlass sie geschossen worden sind.« Ich trommelte mit den Fingern auf ein bestimmtes Motiv. »Hier gehen einige deiner Kollegen vom See zum Haus. Man erkennt sie schlecht, aber das da bist du.« Ich zeigte auf den zweiten Mann von links. »Man sieht am Stand der Sonne, dass es viel später am Tag aufgenommen wurde als die anderen.«
Adam weigerte sich, es anzuschauen.
»Dann dieses hier«, fuhr ich ungerührt fort, indem ich ihn auf Veronica und ihren hohlen Gesichtsausdruck stieß. »In diesem Moment blickt sie Richtung See. Wahrscheinlich bekommt sie gerade mit, dass jemand sie fotografiert. Dass er am Wasser steht und sie von unten hinauf knipst, ist eindeutig zu erkennen, und zwar anhand der Perspektive. Wenn du um den See spazierst und dabei auf mein Haus –«
»Travis …«
»Sie sie dir an.« Ich drehte beide Bilder um, damit er sie auf einen Blick nebeneinander auf sich wirken lassen konnte, doch er wollte nicht.
Befremdlich leise sprach er, mein Bruder: »Ich glaube das nicht. Ich schwöre bei Gott, es ist mir einfach unbegreiflich.« Seine Miene zeugte von derart tiefgründiger Enttäuschung, dass ich mich stark zurückhalten musste, um nicht aufzuspringen und wie ein Irrer aus seinem Haus zu laufen. »Als ich die Tür aufmachte, hoffte ich, du seist vernünftig geworden und gekommen, um deine Frau wiederzusehen.«
»Dir entgeht da etwas. Schau dir die Bilder an, vor allem die Bäume.«
»Werde ich nicht –«
»Tu es einfach, verdammt!«
Winzige Schweißperlen hatten sich an Adams Oberlippe gebildet. Endlich ließ er sich zu einem Blick auf die Fotos auf seinem Küchentisch hinreißen. Dabei schwieg er in Erwartung dessen, was ich weiter zu sagen hatte.
»Was fällt dir auf?«, fragte ich.
»An den Bäumen?«
»Ja. Was erkennst du?«
»Ich sehe … ich sehe Bäume«
»Ja«, entgegnete ich. »Das ist richtig, Bäume. Scharenweise. Ein ganzer verfluchter Wald. Es ist mitten im Sommer, und auf dem Gelände wimmelt es nur so von ihnen.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Ich will darauf hinaus, dass David Dentman der Polizei eine Menge Bullshit erzählt hat. Er behauptete, den Jungen an jenem Tag vom Haus aus im See schwimmen gesehen zu haben. Sein unter Eid abgegebener Augenzeugenbericht besagt, er sei, als er Elijah nicht mehr sah, hinunter ans Wasser gelaufen, um ihn zu suchen. Erst da habe er bemerkt, dass er verschwunden war.« Erneut tippte ich mit den Fingern auf die beiden Bilder. »Aber das ist Bullshit. Man sieht die Rückseite des verschissenen Hauses nicht durch die Bäume, was umgekehrt bedeutet, dass die verschissene Treppe vom Haus aus verborgen bleibt. Jede Wette: Im Sommer käme man nie darauf, dass sich hinter dem Wald ein See befindet.«
Adam blaffte: »Was willst du mir damit sagen? Ich habe den See sehr wohl vom Haus aus gesehen. Du und Jodie habt die Aussicht am Tag, als ihr eingezogen seid, in höchsten Tönen gelobt. Man sieht ihn vom Fenster eures Schlafzimmers aus.«
»Natürlich.« Ich nickte. »Im Winter. Und selbst dann muss man durch ein Geflecht von Ästen schauen. Sobald es Frühling wird und die Blätter sprießen, erkennt man vermutlich nicht einen Tropfen Wasser von unserem Fenster aus, was auch für alle anderen im Haus gilt.«
Adam seufzte und lehnte sich zurück. Mir war nicht ersichtlich, ob er sich durch den Kopf gehen ließ, was ich ihm gerade erklärt hatte, oder ob er mich gleich aus seiner Bude jagen würde. Seine Miene ließ sich nicht deuten.
»Du warst dort an dem Tag.« Ich schob ihm das Gruppenfoto näher zu. »Du konntest das Haus nicht zwischen den Bäumen sehen, oder?«
»Du verlangst von mir, dass ich mich an Bäume erinnere?«
»Jesus, warum bist du nur so stur? Es geht nicht nur um diese blöden Bäume, sondern auch um das, was Dentman behauptet hat.«
»Na gut, David Dentman ist also ein Lügner«, sagte er.
»Exakt.«
»Unleugbar?«
»S-sicher«, stotterte ich, während ich gleichzeitig nach Lücken in meiner Theorie suchte, bevor Adam darauf stieß. »Er hat gelogen, um zu vertuschen, was wirklich geschehen ist.«
Adam verschränkte die Arme vor der Brust. »Und was ist wirklich passiert?«
Ich sank auf dem Stuhl zusammen. »Sicher bin ich mir nicht. Ich meine, ich habe es im Kopf noch nicht ausgearbeitet. Nur … nur …«
»Nur was?« Der geringschätzige Tonfall war wieder typisch Adam Glasgow, genauso wie die erzwungene Gelassenheit nach allem, was ich ihm gerade erläutert hatte. In jenem Moment wurde mir klar, dass ich nie aufhören würde, mich wie sein kleiner Bruder zu fühlen, sein untergeordneter, schwacher, kleiner Bruder.
»Du ignorierst die Zusammenhänge.« Ich schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Die Fotos flatterten.
»Tu das nicht«, mahnte er mit Blick auf meine Hand.
Ich überging es. »David Dentman ist aktenkundig bei euch. David Dentman hat sich der Falschaussage schuldig gemacht. Elijah Dentmans Leiche wurde nie aus diesem verdammt noch mal abgeschlossenen Gewässer geborgen!«
Adam holte angestrengt Luft, man sah, wie sich seine Nasenlöcher weiteten und wieder entspannten. Vorübergehend starrte ich gedankenverloren auf seine Poren sowie die dunklen Barthaare, die aussahen wie auf die Kieferpartie aufgemalt. Ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden.
»Dann hat David Dentman seinen Neffen getötet«, sagte mein Bruder.
»Ja.«
»Und diese Bilder stellen den Beweis dar?« Er zeigte darauf. »Diese … Bäume? Und eine falsche Aussage des verwirrten Mannes mit gebrochenem Herzen inmitten des Trubels, während man die Leiche seines Neffen suchte?«
»Ich weiß, wie es klingt«, gestand ich, »dennoch ändert es nichts an der Tatsache, dass –«
»Mann, es gibt keine Fakten.« Adam erschreckte mich, indem er über den Tisch griff und meine Hand in seine nahm. Zärtlich.
Ich kämpfte gegen den intensiven Drang an, mich zu entziehen, als habe er mich verletzt.
»Hör mir zu, okay? Wir haben den Fall untersucht. Dass unsere Taucher mit leeren Händen hochkommen, ist nicht unüblich, selbst wenn es sich um ein, wie du sagst, abgeschlossenes Gewässer handelt. Hast du eine Ahnung, wie groß dieser See ist? Kannst du dir vorstellen, wie viele Baumstämme, wie viel Windbruch und Gestein an seinem Grund liegen? Felsgrotten gibt es, und verborgene Abflüsse führen zu zahllosen anderen Strömen hier in der Gegend. An all diesen Stellen kann eine Leiche hängen bleiben beziehungsweise verschwinden. Für immer.« Er zuckte mit den Schultern, als hege er keine Hoffnung mehr. »David Dentmans Aussage, er habe das Kind am See gesehen, deckt sich nicht mit dem, was die Bilder zeigen, na und? Er sah ihn vielleicht doch, und Nancy Stein sowieso. Lügt sie etwa auch?«
Ich zog die Hand unter seiner heraus. »Nancy Stein sah ihn, weil sie mit ihrem Hund am Ufer spazieren ging. Von ihrem Haus aus sieht man die Treppe nicht. Das sagte auch ihr Mann.«
»Jesus, vielleicht ging der beschissene Wind, oder das Laub war doch nicht so –«
»Bullshit. Komm schon.«
»Und wo steckt die Leiche dann? Hätte David Dentman den Jungen getötet, ließe sie sich irgendwo finden.«
Stille senkte sich über die Küche. Ich hörte einzig das Ticken der Wanduhr hinter meinem Bruder. Es enervierte wie ein Industriemotor.
»Jetzt hör mir genau zu, Bruder, in Ordnung?« Adam beugte sich weiter über die Tischplatte, um mir noch näher auf den Leib zu rücken. Bestürzt sah ich, dass er mit den Tränen kämpfte. »Das hier ist kein Buch. Das ist das echte Leben. Welchem Rätsel du auch immer auf den Grund gehen willst: Lass dir gesagt sein, es gibt keins.«
Wütend und enttäuscht, wie ich war, konnte ich bloß geduckt sitzen bleiben und die Arme zum Schutz vor der Brust überkreuzen, während ein Bein unterm Tisch zuckte. Einmal mehr war ich ein aufmüpfiger Pubertierender im Büro des Schulleiters.
Adam biss sich auf die Unterlippe, wie er es schon in jungen Jahren getan hatte, wann immer er in eine Zwangslage geraten war. »Ich wollte dir das nicht sagen«, meinte er, »weil ich zuerst nicht wusste, wie ich es formulieren sollte, aber es muss sein, weil du es einfach nicht begreifst.«
»Du tust so, als sei ich heroinabhängig.«
»So führst du dich auch auf.«
»Fahr zur Hölle«, schnauzte ich, rückte auf dem Stuhl nach hinten und erhob mich.
Er blieb ruhig. »Nein, komm wieder runter. Wenn du den toughen Jungen markieren willst, schön, aber warte damit, bis wir hier fertig sind. Das ist wichtig.«
»Ich habe es satt, mir von dir sagen zu lassen, was ich tun soll.«
Adam holte tief Luft und versuchte es anders: »Dann setz dich eben für Jodie zu mir.«
Zähneknirschend gab ich nach.
»Jodie ist außer sich. Und wenn ich das sage, untertreibe ich sogar. Sie hat Angst, dass du wieder Depressionen bekommst wie nach Moms Tod –«
»Jodie hatte ihre Nase in zu viele Psychologiebücher gesteckt.«
»– und wie du dich nach Kyles Tod verhalten hast.«
»Jodie kannte mich da noch nicht einmal.«
»Aber ich. Ich habe gesehen, wie es dich mitgenommen hat.«
Mein Gesicht brannte, die Augen juckten.
Adam stöhnte. »Du dichtest dir etwas zusammen, weil du unheimlich gern den Helden spielen möchtest.«
Ich knickte die Zehen in den Stiefeln ein und wandte mich von ihm ab, nur um direkt auf ein gerahmtes Foto auf dem Schrank zu blicken, das uns bei seiner Hochzeit zeigte. Es ließ mich nicht los und verspottete mich zur gleichen Zeit.
»Du verrennst dich in dieser Sache, weil du dich damit von der Schuld an Kyles Tod reinwaschen willst.«
Mein ganzer Körper verkrampfte sich.
»Du kannst nicht ungeschehen machen, was mit unserem Bruder passiert ist«, bemerkte er knapp. »Egal wie viele erdachte Verbrechensfälle du löst, und ob du tausend Bücher darüber schreibst oder nicht – es steht nicht in deiner Macht, Kyles Unfall ungeschehen zu machen.« Er legte eine Pause ein. »Jetzt zerstörst du deine Ehe, um Fehler auszumerzen, die du in der Vergangenheit gemacht hast. Siehst du nicht, dass du in einen Teufelskreis geraten bist?«
Ich konnte keine Antwort geben.
»Travis?« Seine Stimme klang unendlich weit weg; als spreche er vom Mond zu mir.
Als ich mich von dem Foto abwandte, gluckerte giftiger Sud in meinem Magen.
Adam erhob sich und stapelte die Bilder aufeinander. Dann sah er auf die Uhr und kaute erneut an seiner Lippe. »Geh nach Hause. Lass dir meine Worte durch den Kopf gehen. Falls einige davon einen Sinn ergeben, sobald du morgen früh ausgenüchtert bist, kannst du Jodie anrufen, wie wäre das?«
Ich nickte benommen, richtete mich auf und nahm die Fotos vom Tisch. Adam begleitete mich zur Tür, meine Stiefel schmatzten und hinterließen auf dem Boden nasse Spuren. Ich rollte die Bilder zusammen. Meine Hände schwitzten stark.
»Geh«, verabschiedete er sich beim Öffnen der Tür. »Gönn dir ein wenig Schlaf.«
Ich trat ins Dunkle. Mein Schatten erstreckte sich vor mir in dem eckigen Paneel weichen Lichtes, das sich aus dem Haus ergoss. Während ich über die vereiste Auffahrt stakste, hallte das Geräusch, als Adam die Tür wieder schloss, durch die Sackgasse.
Ich zitterte.
Es war ein Fehler hierherzuziehen. Wir hätten im Norden Londons bleiben sollen. Mit Adam habe ich mich schon immer übers Telefon besser verstanden.
Beim Überqueren der Straße zog ich meinen Parka fester zusammen und duckte mich vor dem beißenden Wind. Irgendwo rechts von mir blitzten Scheinwerfer auf, die mich einen Moment lang mitten auf der Fahrbahn wie ein Reh einfroren. Ich machte die kantige Karosserie eines Pick-ups aus, der langsam am Bordstein vorfuhr. Es war ein altes, zweifarbiges Modell, und als ich mich der Fahrerseite näherte, roch ich die stinkenden Abgase aus seinem Auspuff.
Jemand kurbelte die Scheibe hinunter.
Am Steuer saß David Dentman.
»Steigen Sie in den Truck«, forderte Dentman. Die einzige Lichtquelle in der Kabine war das glühende Ende seiner Zigarette.
»Was machen Sie hier?« Ein eisiger Finger fuhr an meinem Rückgrat hinab.
»Ich suche Sie.« Er reckte sich über den Beifahrersitz und öffnete die Tür, woraufhin die Deckenlampe anging und tiefschwarze Schattenkleckse über sein Gesicht huschten.
»Nein, wir können auch hier draußen reden.«
»Gott, Glasgow, seien Sie nicht so eine Pussy. Ich werde Ihnen nichts tun. Jetzt steigen Sie schon ein.« Er klang, als sei er dieses Geplänkel leid.
Es war ein dämlicher, vermutlich kolossaler Fehler, jener Art, welcher ein Kinopublikum dazu verleitet, den arglosen, aber wohlmeinenden Protagonisten mit unflätigen Namen zu bedenken. Aber ich entschied mich nicht grundlos dazu. Als ich vorne um Davids Wagen ging, streiften mich die Scheinwerfer kurz. Schließlich stieg ich auf der Beifahrerseite ein. Im Bewusstsein, dass ich die Fotos noch in der Hand hielt, stockte mein Atem. Gerade weil ich sie zu einem Röhrchen zusammengerollt hatte, fielen sie besonders ins Auge; genauso gut hätte ich sie ihm direkt unter die Nase halten können.
Im Pick-up stank es nach Terpentin, Tabak, Whiskey und Schweiß. Aus nächster Nähe roch ich nun auch Dentman selbst – maskulin und stark – beinahe tierisch.
Dentman legte den ersten Gang ein und gab Gas. Die Maschine heulte auf und brachte den Wagen zum Schlingern. Es klang, als stecke der Motor eines Panzers unter der Haube.
»Ich dachte, Sie wollten sich nur mit mir unterhalten«, erinnerte ich.
Die Scheinwerfer schnitten gleich einer Klinge in die Finsternis, während er den Wagen auf die Spur brachte und auf die erste Abzweigung zufuhr. Ich beobachtete, wie der Tacho erst fünfzig, dann fünfundfünfzig, sechzig und mehr anzeigte, weshalb ich nach dem Sicherheitsgurt tastete, aber keinen vorfand. Yeah, wirklich schlau.
Dentman hockte lässig hinterm Steuer, das er in zwei fleischig dicken Fäusten hielt. Sein gewaltiger Körper füllte den Sitz zur Gänze aus, wobei er den Kopf leicht seitlich neigte, um die düstere, schmale Straße im Auge zu behalten, die er unter den Neandertaler-Augenbrauen fixierte.
»Wir befinden uns in einer Ortschaft«, erinnerte ich ihn.
Seine Seitenansicht zeigte mir ein angedeutetes Lächeln.
Wind blies durch die offene Scheibe auf seiner Seite, die Temperatur im Wagen sank. Die Luft, die durch den gerollten Stoß Fotos in meiner Hand fuhr, flötete absonderlich. Ich versuchte, sie durch schiere Gedankenkraft unsichtbar zu machen. Bitte, bitte, bitte.
Dentman bedachte die Bilder mit einem nichtssagenden Blick und kurbelte die Scheibe hoch, vielleicht weil ihn das Pfeifen nervte. »Sie stinken wie eine Schnapsbrennerei«, bemerkte er nach einer Weile, dabei schnüffelte er wie ein Bluthund.
Der Pick-up zuckelte die Straße entlang, während der Motor unter der Haube rumorte. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bevor die Türen vom Fahrgestell abfielen.
»Was wollen Sie?«, fragte ich.
»Öffnen Sie das Handschuhfach.«
»Nein, danke.«
»Los.«
Widerwillig gehorchte ich. Es klappte wie ein Mund auf, und ein kleines orangefarbenes Licht strahlte auf meinen Schoß. Drinnen lag nur ein Gegenstand, angesichts dessen ich mehrmals blinzeln musste, bis ich mir sicher war, dass es sich wirklich genau darum handelte. Nein, ich hatte mich nicht versehen: Es war eine Taschenbuchausgabe von The Ocean Serene.
»Ich habe meine Lieblingsstellen markiert«, sagte Dentman. »Hoffentlich ist es Ihnen recht.« Er klang sarkastisch.
Ich schlug den Roman auf und blätterte.
Im kargen Mondlicht erkannte ich die unterstrichenen Passagen. Nachdem ich mir eine Seite ausgesucht hatte, fing ich zu lesen an. Dann schlug ich das Buch wieder zu und schob es zurück ins Handschuhfach. Der phosphoreszierende Mond zeichnete auch Dentmans Profil deutlich nach. »Es ehrt mich, in Ihnen einen solch glühenden Fan zu haben, aber wohin zur Hölle bringen Sie mich?«
»Sie müssen mir etwas erklären«, verlangte er beinahe im Plauderton, während wir im forschen Tempo durch die Stadt fuhren. »Auf wessen Leben basiert die Handlung?«
»Was?«
»Das ist es doch, was Sie tun, oder nicht? Das Leben anderer Leute stehlen, ihre Schicksale für Unterhaltungszwecke? Und sich daran bereichern.«
»Ich weiß verdammt noch mal nicht, wovon Sie reden.«
»Was denken Sie über mich? Was denken Sie über meine Familie?«
»Sie haben den Verstand verloren«, beschied ich.
»Greifen Sie unter Ihren Sitz.«
»Nein. Genug Bullshit. Was soll das alles?«
»Das frage ich Sie.«
»Sehen Sie, ich weiß nicht, was das hier werden soll. Falls es um den Karton geht, den ich Ihnen vorbeigebracht habe, dachte ich eigentlich, wir hätten –«
»Greifen Sie unter Ihren Sitz«, wiederholte Dentman mit mehr als nur unterschwelliger Wut im Tonfall.
Widerwillig beugte ich mich nach vorn und griff mit einer Hand unter den Sitz. Mein Atem rasselte. Ich tastete den steifen Teppich ab, wusste nicht, was mich erwartete beziehungsweise was ich überhaupt suchte. Dann stieß ich mit den Fingerspitzen gegen etwas. Ich holte es hervor und legte es auf meine Oberschenkel. Wenigstens konnte ich nun die Fotos verbergen. Als ich es betrachtete, drehte sich ein dicker Klumpen in meiner Magengrube um, und ich glaubte, mich erbrechen zu müssen. Meine Hände zitterten, und ich konnte nicht anders, als mit den Zähnen zu klappern, dass mein Schädel bebte. Mein Atem stockte einstweilen. Wie gern wäre ich ohnmächtig geworden …
Auf meinem Schoß lag das vermisste Notizbuch.
Einige – nein, unzählige Fragen gingen mir durch den Kopf, doch mein Mund, dieses treulose Organ, versagte den Dienst.
Dentman manövrierte den Pick-up die Hauptstraße entlang, vorbei an den kärglichen Geschäften der ländlichen Kleinstadt, in denen keine Lampe brannte, da sie nachts geschlossen waren. Nur die auffallend rosafarbene Reklame des Tequila Mockingbirds strahlte ihr dämmerig pulsierendes Gaslicht ins Dunkel. Die Nacht, die gegen die Windschutzscheibe drängte, wurde zu etwas Greifbarem, ein Flor aus schwarzem Samt, der sich über das Tal legte.
»W-wo haben Sie das her?«, stammelte ich, als ich meine Stimme fand. Mir schwirrte der Kopf. Der kalte Schleier der Furcht legte sich auf mir nieder. Ich realisierte, dass ich die Türschlösser noch nicht ausgewechselt hatte, seit wir in der Waterview Court wohnten. Mein Gott … Ich konnte mich weder bewegen noch atmen und war nicht dazu in der Lage, die Augen von dem Block abzuwenden, dem Deckblatt im schwarz-weißen Muster, der Bindung und den Eselsohren.
Wir rumpelten weiter, bis Westlake eine bloße Ahnung weit hinter uns war. Alles, was noch auf die Stadt hindeutete, waren die verblassenden Lichtspritzer im Rückspiegel des Pick-ups.
»Verdammter Hurensohn«, fluchte ich leise, indem ich den Block hochhob. Er schien tausend Pfund zu wiegen. »Sie sind in mein Haus eingebrochen.«
»Das stimmt nicht.« Er beschleunigte auf siebzig Meilen die Stunde. Ich spürte, wie die Reifen auf dem glatten Asphalt durchdrehten. »Sie haben den Kram bei mir zurückgelassen. Er steckte in der Kiste, die Sie uns brachten.«
Ich hatte Mühe, einen klaren Blick zu bewahren.
»Sie haben die Nachbarn über mich ausgefragt«, sagte Dentman. »Glauben Sie nicht, das sei mir entgangen.«
»Ich kann es erklären.«
»Sagen Sie mir lieber, weshalb mein Nachname auf diesen Seiten steht.«
»Es wird seltsam klingen, aber noch mal: Ich kann alles erklären.«
»Mir gefällt das nicht.« Er widmete seine volle Aufmerksamkeit der Dunkelheit vor uns. Darin fanden sich keine Häuser, weder Laternen noch sonst etwas, das auf Zivilisation hindeutete – bloß schwarz in schwarz ein Dickicht aus Bäumen, die zu beiden Seiten des Fahrzeugs vorbeihuschten. »Mir gefällt nicht, dass Sie in meinem Privatleben herumschnüffeln, in meinen Privatsachen.« Er hielt inne, wohl um den Worten Nachdruck zu verleihen. »Vor allem aber gefällt mir nicht, was Sie meiner Schwester angetan haben.«
Ich schluckte einen zähen Brocken Speichel hinunter. »Ich habe ihr gar nichts angetan.«
»Sie war völlig aus der Fassung.« Dentman drehte mir den Kopf zu. Seine Augen waren gähnend schwarze Abgründe. Ich roch, wie seine Poren Zigarettenqualm absonderten. »Sie hat dieses Kind geliebt, und was ihm widerfahren ist, brach ihr das Herz. Was für ein kranker Arsch muss man sein, sie bis in eine andere Stadt zu verfolgen, um ihr die Tragödie noch einmal vor Augen zu führen?«
»Das war nicht in meiner Absicht.«
»Oh«, höhnte er. »Ich kenne Ihre Absicht. Ich habe Ihre Bücher gelesen und begriffen, dass Sie sich am Elend anderer aufgeilen.«
»Es sind nur Bücher. Keine davon sind real.« Ich hielt mich mit einer Hand am Armaturenbrett fest. »Bitte, schauen Sie auf die Straße.«
Er schüttelte den Kopf, als hätte ich ihn enttäuscht. »Sie hat mir von Ihnen erzählt. Sie haben über den Jungen geredet. Sie haben behauptet, ihr das ganze Zeug zurückzugeben, wenn sie wieder zum Haus kommt.«
»Nein, das ist nicht wahr. Ich habe sie nie ins Haus eingeladen.«
»Dann lügt meine kleine Schwester also?«
»Die Straße«, rief ich. »Passen Sie auf.«
Sie zweigte ab. Dentman fuhr rechts, ohne zu blinken, wobei der Wagen fast auf einer Seite abhob. »Was verdammt ist nur los mit Ihnen? Sind Sie pervers, oder was?«
»Das alles ist ein einziges Missverständnis.«
»Was ist mit dem Geschreibsel in dem Notizbuch? Ist das auch alles nur ein Missverständnis?«
»Lassen Sie mich einfach erklären –«
»Ja, klar«, unterbrach David. »Ich verstehe, wie es dazu kommen konnte. Ein Missverständnis, eindeutig.«
»Wohin fahren wir?«
»Was ist denn los?« Er zeigte aufs offene Handschuhfach, wo das Taschenbuch über die herabhängende Klappe rutschte, als er nochmals Gas gab. »Sie schreiben zwar Gruselzeug, aber ich rieche, dass Sie im wirklichen Leben ein Hosenscheißer sind.«
»Halten Sie an.«
»Das macht Sie in meinem Buch zu einem Feigling.«
»David –«
»Sich der Situation nicht zu stellen, den Tatsachen nicht ins Auge zu sehen … das macht einen Schlappschwanz aus.«
»Bleiben Sie stehen. Ich möchte aussteigen.«
»Aussteigen? Jetzt? Ich dachte, Sie wollten alles über meine Familie erfahren. Sie wissen schon … für Ihr Buch.«
»Ich schreibe kein Buch. Das sind – das waren – persönliche Angelegenheiten.«
»Die wiederum meine persönlichen Angelegenheiten betreffen.« Dentman wurde laut. »Die Angelegenheiten meiner Familie.«
»Sagen Sie mir jetzt, wohin wir fahren.«
»Ich werde Sie jemandem vorstellen.«
»Ich will niemandem vorgestellt werden. Lassen Sie mich endlich aus diesem gottverdammten Pick-up aussteigen.«
Vor uns registrierte ich ein schwaches Licht zwischen den Bäumen. Ich schöpfte neue Hoffnung, obwohl ich die Gegend nicht kannte. Zumindest aber gab es hier anscheinend andere Menschen.
Falls Adam einen Beweis dafür brauchte, dass David Dentman ein wahnsinniger Mörder war, genügte es bestimmt, wenn er meinen zerfetzten Körper am folgenden Morgen am Rand dieser Hochstraße durch den Wald entdeckte.
»Muss schon sagen«, fuhr er fort. Das Gaspedal hatte er mittlerweile bis zum Bodenblech durchgetreten. »Sie beschreiben mich ziemlich ausführlich auf den Seiten dort. Nennen mich einen Mörder und so.«
»Das sind nicht Sie.«
»Nicht? Steht mein Name.«
»Wenn Sie zu verdammt blöde sind, um zu kapieren, was ich Ihnen die ganze Zeit versuche zu erklären –«
Die Bremsen des Pick-ups quietschten, als Dentman heftig drauftrat, und das Heck geriet ins Schlingern. Die Fliehkraft schleuderte mich gegen das Armaturenbrett. Irgendwo in meinem Hinterkopf donnerten Kanonen wie zur Feier des Unabhängigkeitstages. Dentman lenkte gegen, bis wir wieder in der Spur fuhren. Dabei schalt er sich leise, beinahe nicht abgebogen zu sein, und drehte das Steuer erneut.
»Sie sind ein beschissener Psychopath«, sagte ich, und zog mich wieder in den Sitz.
Überraschenderweise reagierte Dentman mit einem Lachen darauf. Es klang wie das Gebell von tausend Hunden. »Wissen Sie, was ich glaube?« Er tippte sich an die Schläfe. »Ich glaube Sie sind verblendet und ein Ignorant. Ich glaube, Sie sind ein egoistischer Hurensohn. Wenn man die Nase in anderer Leute Leben steckt, bekommt man irgendwann die Quittung.«
»Fahr zur Hölle.«
»Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr Sie ihr zugesetzt haben. Sie wissen nicht, wie schwierig es war, all dies mit ihr durchzustehen. Sie dummer Wichser, Veronica liebte ihren Sohn.«
»Wie steht‘s mit Ihnen? Wie standen Sie zu dem Jungen?«
»Ich werde keine Ihrer gottverdammten Fragen beantworten«, knurrte er. »Und in Ihren Scheißbüchern enden.«
»Sagen Sie mir, was Sie mit ihm gemacht haben.«
Erneut bremste Dentman, diesmal etwas vorsichtiger. Der Pick-up rollte mitten auf der Straße aus. Das Dröhnen des Motors um uns flaute ab, und unser Atem beschlug die Scheiben. Die Häuserlichter, die ich gesehen und auf die ich meine ganze Hoffnung auf Hilfe gesetzt hatte, waren immer noch zu weit weg. Hier hockte ich nun – umringt von Bäumen – allein mit einem Kindermörder im Dunkel der Nacht.
»Steigen Sie aus.« Dentman hauchte die Worte bloß. Seine Augen waren nicht sonderlich groß und standen ein wenig zu weit auseinander, schwelten aber dafür wie zwei Kohlen eingemeißelt in den scharfen Zügen einer Statue. Seine Zähne waren klein mit Abständen dazwischen. Er hatte schmale Lippen, die er im Zorn schürzte.
»War es ein Unfall, oder haben Sie es absichtlich getan?«, stichelte ich, wobei es mir vorkam, als lausche ich den Worten eines anderen. Ich konnte mich nicht zurückhalten. »Kann doch sein, dass Sie es nicht beabsichtigt haben. Vielleicht sind Sie in Panik geraten.«
»Ja«, erwiderte er. »Genau so, wie Sie es in Ihr kleines Notizbuch geschmiert haben. Jetzt raus aus meinem Wagen.«
Ich brauchte keine dritte Aufforderung, ich zog den Türgriff und sprang hinaus auf die vereiste Fahrbahn. Die Fotos von der Suchaktion der Polizei drückte ich zusammen mit dem Block fest an meine Brust. Es war kalt und klamm, aber mein Herz raste und ich schwitzte so stark, dass ich es gar nicht wahrnahm.
Dentman stellte den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus. Als er ausstieg und vorne um das Vehikel herumging, war ich mir sicher, er werde eine Pistole aus dem Hosenbund ziehen und mich gleich hier am Straßenrand ins Jenseits befördern. Allzu deutlich stellte ich mir vor, wie mein Blut den Schnee tiefrot färbte, während die Bilder, nachdem ich sie losgelassen hatte, wie Steppenläufer den Weg über die verlassene, einspurige Piste bis zur nächsten Stadt fegten.
Er baute sich vor mir auf und packte meinen Oberarm. »Kommen Sie.« Er versuchte, mich an den Straßenrand zu ziehen.
»Wohin gehen wir?«
»Das hier ist es doch, worum es geht, nicht wahr? Der Höhepunkt Ihrer beschissenen Story. Das ist es, auf was Ihre Leser warten, richtig?«
Ich konnte nicht stehen bleiben, denn meine Füße gehorchten mir nicht mehr. Dentman war im Vergleich zu mir ein Riese, und es kam mir vor, als tappe ich neben einem gigantischen Glockenturm aus Stein einher. Er atmete stoßweise und ich spürte seinen Herzschlag über seinen festen Griff um meinen Ellbogen.
»Er war Autist«, hielt ich ihm vor.
David grunzte.
»Ihr Neffe. Er litt doch unter Autismus, nicht wahr?«
»Sie spinnen.«
»Haben Sie ihn deshalb umgebracht – weil er anders war, und Sie ihn nicht verstanden? Womöglich hat er Ihnen auch ein wenig Angst gemacht.«
»Sie wissen nicht, wovon Sie da sprechen.«
»Sie haben vielleicht die Bullen hinters Licht geführt, aber mich –«
Dentman zog meinen Arm zurück, kugelte mir fast die Schulter aus.
Ich strauchelte und verlor beinahe den Notizblock mitsamt den Fotos.
Er hielt mich nach wie vor am Arm fest, schwang mich herum, bis ich ihn unweigerlich anschauen musste. »Kein … Wort … mehr«, stieß er hervor.
Mein Kopf quoll über vor Dingen, die ich sagen könnte, doch keines war hart genug in diesem Moment.
Wir erklommen einen verschneiten Hügel und schlitterten durch ein Wäldchen mit verschlungenen Baumkronen, die den Mond fast gänzlich verdeckten. Ich blieb nur einmal stehen, um mir meines Verhängnisses klar zu werden, doch David schleifte mich weiter und ich stolperte ihm nach. Wir passierten eine lichte Baumgruppe, die sich in eine weite Lichtung öffnete, deren Boden mit Nebel bedeckt war. Ich war überrascht (und erleichtert), Lichter vor uns zu sehen. Wir standen vor einem, früher einmal bestimmt zehn Fuß hohen, Schmiedeeisenzaun. Hinter dem Zaun, halbmondartige Grabsteine, wie Rückenflossen auf dem schwarzen Rasen.
Ein Friedhof.
»Weiter«, drängte Dentman. Er ließ meinen Arm los und bewegte sich auf den Zaun zu.
Eine Weile sah ich ihm nach, wie er voranging – sein enormer Schädel pendelte wie bei einer kaputten Spielzeugpuppe –, dann folgte ich. Wir erreichten einen schmalen Kiesweg, der sich durch eine Öffnung im Friedhofstor wand. Dentman trat hindurch, ohne auf mich zu warten, und bewegte sich die leichte Anhöhe zwischen den Gräbern hinauf, vorbei an Granitkreuzen, die wie Meilensteine aussahen.
Ich ging dem schwerfälligen Koloss hinterher, da ich weniger Sorgen um meine Unbescholtenheit verspürte als Neugierde – Neugierde und Endgültigkeit. Ich überquerte den Friedhofsrasen, die anhaltende Kälte forderte schlussendlich ihren Tribut. Ich hatte einen üblen Geschmack im Mund und atmete schwer, ich spürte den Puls an meinen Unterarmen. Wir passierten ein imposantes Mausoleum sowie mehrere Grabmarkierungen, die Engeln und Sternen nachempfunden waren. Ich versuchte aufzuschließen und eilte einen leichten Hang hinunter. Am anderen Ende des Friedhofs unter einer hohen Eiche sah ich ihn stehen bleiben. Er lehnte halb am schmiedeeisernen Zaun und schaute auf die Erde. Hätte ich es nicht besser gewusst, könnte ich glauben, er habe mich vergessen.
Andächtig näherte ich mich. Ein kräftiger Wind ließ die kahlen Äste der Eiche knarren. Vor uns standen zwei Grabsteine mit jeweils einem Namen darauf.
Am ersten:
BERNARD DENTMAN
Am zweiten:
ELIJAH DENTMAN
GELIEBTER SOHN UND NEFFE
Beide mit entsprechenden Geburts- und Sterbedaten versehen.
»Ich mag nicht der klügste Mann sein, Glasgow. Ich schreibe weder Bücher, noch gehe ich mit Anzug und Krawatte zur Arbeit. Aber genauso wenig bin ich ein Idiot. Ich durchschaue Sie. Ihresgleichen denkt, sie kommen mit allem durch, mit jeder verfluchten Sache, die sie wollen. Jeder verfluchten Sache in der Welt. Sie denken, das ganze beschissene Universum zerbrösle einfach zu Staub, sobald Sie nicht mehr da sind, um es zusammenzuhalten.«
»Das tue ich nicht.«
»Bullshit. Wissen Sie, über mich haben Sie Nachforschungen angestellt, aber dass ich das Gleiche mit Ihnen getan habe, ist Ihnen entgangen.« Er machte einen Satz auf mich zu, dass ich erschrocken aufkeuchte. Erneut drehte er mich um, dann betrachtete er den Grabstein aus hellem Granit, der noch nicht lange genug dastand, um von Schlingpflanzen und anderem Unkraut überwuchert zu sein. Geliebter Sohn und Neffe.
Ich fühlte einen Faustschlag auf meinem Rücken, zuckte vor Schmerz zusammen und ließ mein Notizbuch und die Tatortfotos fallen. Der Wind bekam die Fotos schneller zu fassen als ich und blies sie übers Friedhofsgelände.
»Sie knien auf dem Grab meines Neffen. Ich versuche, Ihnen ein bisschen Menschlichkeit einzubläuen, ein wenig Ehrfurcht. Mussten Sie jemals einen leeren Sarg begraben?«
»Lassen Sie … mich los …«
»Sie haben so viel über Geister, Mörder und tote Kinder geschrieben«, raunte er hinter meinem Rücken, seine Stimme getragen vom Wind. Er hätte ebenso gut zehn Stockwerke über mir brüllen können. »Nur zu. Frag das Grab all deine gespenstischen Fragen, die du hast, du Hurensohn. Mach schon.«
Ich wand mich in seinem Griff und forderte erneut, er solle mich verdammt noch mal loslassen.
Er tat es nicht. »Ich brauche keinen, der in meinen Angelegenheiten herumschnüffelt. Meine Schwester verkraftet das nicht, und ich werde nicht zulassen, dass du sie weiterhin folterst.« Sein Kopf nur knapp über meiner Schulter, spürte ich seinen heißen Atem im Nacken. »Pass auf.« Seine Lippen berührten beinahe mein Ohr, und die Worte waren praktisch nichts weiter als ein Flüstern. »Mein Vater war ein verkommener, elender Wichser, der mehr Unheil angerichtet hat, als irgendwer je hätte ertragen sollen. Ich nahm meine Schwester mit und zog sie groß. Bis zu meinem Tod gehört all mein Verantwortungsgefühl ihr. Bis zu meinem Tod. Niemand wird ihr etwas zuleide tun. Besonders du nicht. Sie ist meine Schwester, und ich liebe sie … egal was ist.«
Ich schaffte es, mich umzudrehen und ihn anzusehen. Seine Augen waren die eines Wolfes – hungrig, verzweifelt und wild. »Die Polizei weiß Bescheid über Sie. Mein Bruder ist ein Cop. Er weiß, welcher Spur ich gefolgt bin. Töten Sie mich, dann wird man Sie diesmal erwischen.«
Dentman packte meinen rechten Unterarm. Sein Gesicht berührte beinahe meines, sein Atem stank. Da war nicht die kleinste Regung in seinem Gesicht – weder lächelte er, noch bleckte er die Zähne. Nur ein starres Gesicht, starrer Mund, starrer Kiefer.
In einem vergeblichen Versuch, meine Hand zu befreien, verlor ich das Gleichgewicht und schlug mit dem Kopf gegen Elijahs Grabstein. Explosionsartig schlugen Lichtblitze vor meinen Augen Kapriolen, und mir war, als neige sich die Welt auf eine Seite. Ich dachte an Feuerwerke und Projektoren, denen die Filmrolle entglitt. Blind griff ich nach Dentmans Shirt.
Scheinbar mühelos drückte er meine Rechte auf die Erde und trat mit dem Stiefel aufs Handgelenk. »Du dämlicher Bastard, wenn ich dich umbringen wollte, hätte ich es längst getan.«
Er schlug mir mit der Faust ins Gesicht. Meine Augen tränten vor Schmerz, der sich von der Nase übers ganze Gesicht ausbreitete, ratterte wie ein rostiger Einkaufswagen mit verkrüppelten Rollen durch meinen Kopf. In diesem Augenblick war mir kaum nach Flucht zumute. Ich betete nur um einen raschen Tod ohne Pein. Alles was ich tun konnte, war den nächsten Treffer abzuwarten.
Aber er kam nicht. Stattdessen schleifte Dentman mich an den Armen ungefähr zwei Fuß vom Grabstein nach links und ließ mich auf die Seite wälzen.
Ich atmete einmal tief ein. Es tat in den Lungen weh, am Brustkorb. Ich konnte die Augen nicht öffnen, erst als ich wieder Luft bekam. Dann wurde ich Dentmans drohender Gestalt über mir gewahr und stellte mir einmal mehr vor, wie er die Pistole zückte, die ich mir zurechtgesponnen hatte, um mich im Stil eines Profikillers mit einem einzigen gezielten Kopfschuss wegzublasen.
Endlich öffnete ich meine Augen ganz und rollte auf meinen Rücken. Hustete. Spuckte. Immer noch sah ich alles nur verschwommen, aber es gelang mir, den Kopf zu drehen und meinen Angreifer auszumachen.
Sein Gesicht stoisch und nicht zu deuten. Dentman ging von mir weg, außer Atem, wie ein Jäger, nach seinem Fang.
»Was zur Hölle hast du mit mir vor?« Wir sagen solch jämmerliche Sätze in Momenten der Verzweiflung.
Dentman höhnte: »Fuck, Junge. Du bist erbärmlich. Sieh dich nur an.«
»Du kannst mich nicht töten.«
»Stück Scheiße.« Er kniete sich neben mich und packte erneut beide Hände.
Am Rande meines Gesichtsfeldes nahm ich die Reflexion des Mondes auf Metall wahr, ehe etwas klimperte, als wechsle jemand Kleingeld. Als ich aufschaute, stellte ich fest, dass er mich mit Handschellen an den verdammten Eisenzaun gekettet hatte. »Du kannst mich nicht hier draußen lassen. Ich werde erfrieren.«
Davids breite Schultern bebten mit jedem Atemzug. Wie bei einem wutschnaubenden Stier traten aus seiner Nase Dampfschwaden aus. Dann spuckte er auf mich, drehte sich um und ging gemächlich davon.
Ich hörte das Knirschen seiner schweren Stiefel im Schnee. Mein Kopf schwirrte immer noch, aber ich setzte mich aufrecht hin und schaute Dentman nach. Als er außer Sichtweite zwischen den Bäumen im Finstern verschwunden war, hatte ich schon fast vergessen, wie er aussah.
Ich glaube, ich werde ohnmächtig, dachte ich. Ich glaube, ich werde –
Dunkelheit.
Ein leichtes und undeutliches Etwas kroch lautlos neben mich. Federleicht kletterte es auf meine Brust. Heißer Atem fuhr mir über die Stirn. Ich spürte eine Zunge, die mir die Tränen ableckten, die mir als heiße Rinnsale die Wangen hinunterliefen.
»Kyle«, sagte ich.
Keine Antwort.
Als ich zu mir kam, erhob sich die Sonne gerade über den Bäumen am Friedhof. Sie strahlte mir so perfekt in die Augen, wie es eben nur die Sonne vermochte. Ich fuhr zusammen und drehte den Kopf weg, wobei ich mir plötzlich gar nicht mehr so sicher war, wo ich mich befand. Das Sonnenlicht ließ die Bäume bluten und die schneebedeckten Hügel leuchten wie eine Supernova. In der Ferne sah ich eine Kirche, deren Turm sich gegen den blassen Himmel wie die Spitze einer Meeresschnecke ausmachte.
Als ich mich aufsetzen wollte, wurde mir so schwindlig, dass ich mich fast übergeben musste. Ich versuchte, meinen rechten Arm anzuheben, aber es ging nicht – ich war immer noch an den Zaun gekettet. Mit der freien Hand tastete ich vorsichtig meine Schläfe ab und zuckte zusammen. Die Beule an der Seite meines Schädels fühlte sich wie ein Schaumstoffball an.
Die Ereignisse der vergangenen Nacht strömten zurück in einem erstickenden Wirbelwind. Ich betrachtete meine Linke und fand sie blutverkrustet. In meiner Handfläche klaffte eine beträchtliche Schnittwunde, die ich mir irgendwie im Eifer des Gefechts zugezogen haben musste. Die Fingerspitzen waren blau angelaufen.
Dann realisierte ich, wie heftig ich zitterte. Ich konnte mich weder beruhigen noch auf irgendeine Weise wärmen. Schätzungsweise fünf, sechs Stunden lang lag ich schon hier draußen im Schnee. Mir war schummrig, vermutlich wegen einer leichten Gehirnerschütterung. Das Blut an meiner Hand war über Nacht getrocknet, es zog sich in breiten roten Streifen vom Handgelenk über den Arm in meine Ellbogenbeuge und war schließlich in den Schnee geflossen. Ich sah aus, als hätte ich gerade ein Schwein geschlachtet.
»Fuck …«
Meine eigene Stimme zu hören, schickte Splitter gebrochenen Glases in die graue Substanz meines Gehirns.
Stimmen: Jetzt hörte ich sie von fern, da näherte sich jemand durch die Bäume. Sie waren zu dritt, und als sie näher kamen, erkannte ich, dass es sich um zwei Polizisten handelte; der dritte Mann, so schlussfolgerte ich, war der Friedhofsverwalter.
Die drei blieben wenige Fuß vor mir stehen. Mein Notizblock lag gleich neben einem der schwarz glänzenden Schuhe im Schnee.
»Hey«, sagte der größere Beamte. »Was zur Hölle ist mit Ihnen geschehen?«
»Ich erfriere hier, verdammt«, brachte ich hervor.
Der Verwalter zeigte auf mich. Er war ein kleiner fetter Widerling mit grässlichen Zähnen, ein Charakter, der einem Roman von Dickens entsprungen sein mochte. »Sehen Sie? Seine Hand? Ich sagte doch, er wurde angekettet.«
»Ich h-heiße T-T-Trav –«
»Ich weiß, wer Sie sind.« Der größere Cop war, wie sich herausstellte, Douglas Cordova, der Partner meines Bruders, den ich auf der Weihnachtsfeier kennengelernt hatte. Mit seiner bügelsteifen Uniform, dem kantigen Kinn und seinen jadegrünen Augen wirkte er glatt wie von einem Rekrutierungsposter. »Mach ihn los«, befahl er seinem Begleiter.
Der zweite Officer kniete sich mit einem Bein in den Schnee und nestelte an seinem Gürtel, um einen Schlüssel für die Handschellen zu finden. Er wirkte weniger einschüchternd als Cordova, mit seinen schlaffen, müden Hunde-Zügen, sein praktisch nicht vorhandenes, fliehendes Kinn verlieh dem Profil eine unfertige Note. Freers stand auf seiner Namensplakette.
»Brauchen Sie einen Arzt oder so?« Freers fragte zu dicht an meinem Gesicht. Sein Atem roch nach Zwiebeln.
»Nein.«
»Sie bluten, wissen Sie das?«
Ich warf einen Blick auf meine zerschnittene Hand.
»Ich meinte Ihr Gesicht«, deutete Freers.
Mit weichen Knien erhob ich mich und hielt mich dabei an der dicken Eiche fest. Meine Jeans krachte hörbar, der Stoff war an meinen Beinen festgefroren. Ohne meinen Parka hätte ich die Nacht sicher nicht überlebt.
»Wer hat Ihnen das angetan?«, wollte Cordova wissen. Eine seiner Hände ruhte auf der Schulter des Friedhofwärters und die beiden sahen aus wie schlecht zusammengestellte Football-Spieler, im Begriff die Köpfe zusammenzustecken, um die nächsten Schritte zu besprechen.
»David D-D-Dentman«, stammelte ich.
Cordovas Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er wandte sich an seinen Partner: »Okay, bringen wir ihn zum Wagen, bevor er zum Eiszapfen wird.«
Freers stützte meinen Unterarm und führte mich zwischen den Grabsteinen hindurch.
»Warten Sie.« Ich bückte mich kurz nach meinem Block. Ich sah mich um und hoffte, zumindest einige von Earls Beweisfotos wiederzusehen, doch sie waren verschwunden.
»Das da ist Verschmutzung des Friedhofs«, bellte der Wart mit Verweis auf mein Notizbuch. »Für Verschmutzung des Friedhofs ist ein Strafbetrag fällig.«
»Niemand hat irgendetwas verschmutzt«, beschwichtigte Cordova, dessen Hand nach wie vor auf der schmalen Schulter des Mannes lag.
»Ein Strafbetrag ist fällig«, wiederholte er, obwohl sein Ton diesmal weit weniger streng klang.
»Kommen Sie«, forderte Cordova, trat neben mich und drückte mir ein paar Finger über dem Becken ins Kreuz.
»Ich denke, ich schaffe das allein, danke«, erwiderte ich.
»Außerdem haben Sie das Gelände widerrechtlich betreten«, fügte der Verwalter an, als wir über den Kiesweg vom Friedhof zur Straße gingen, wo der Streifenwagen stand. »Widerrechtlich!«
»Hören Sie nicht hin«, flüsterte Cordova nahe meinem Ohr.
Freers öffnete die Tür zum Rücksitz und half mir hinein. »Kopf einziehen.« Dann rief er Cordova übers Dach des Autos hinweg zu: »Dreh die Heizung voll auf für unseren Freund, okay?«
Türen schlugen zu. Cordova rückte seinen stämmigen Körper hinter dem Lenkrad zurecht, während sich Freers auf dem Beifahrersitz zurücklehnte. Als Cordova die Heizung einschaltete, lief mir, obwohl ich halb erfroren war, sprichwörtlich der Schweiß in die Schuhe.
»Alles in Ordnung da hinten, Travis?«, fragte er. »Schon warm?«
Da ich meinen Lippen nicht zutraute, Worte zu bilden, nickte ich schlicht mehrmals Cordovas Augen im Rückspiegel zu.
Mein Schädel wummerte wie eine Calypso-Trommel. Ich sah die Landschaft von Westlake durchs Fenster an mir vorüberziehen, die Einkaufsmeile und die Reihen geweißter zweigeschossiger Wohnhäuser sowie den Verkehr auf den Straßen. An der Waterview Court fuhren wir vorbei.
»Sie haben meine Straße verpasst«, sagte ich durch die Löcher in der Plexiglastrennscheibe.
»Wir bringen Sie nicht nach Hause«, erklärte Cordova.
»Wohin dann?«
Freers beugte sich zur Fahrerseite hin, wobei er mich aus dem Augenwinkel betrachtete. »Vielleicht sollten wir ihn im Krankenhaus checken lassen. Er schlottert wie ein Tamburin.«
»Das können wir hinterher machen«, erwiderte Cordova.
»Ich wollte wissen, wohin Sie mich bringen.«
Cordovas Augen im Rückspiegel funkelten. »Zum Revier. Strohman will sich mit Ihnen unterhalten.«
»Stehe ich unter Arrest?«
»Sollten Sie?«, fragte Freers zurück, drehte sich um und grinste dämlich.
Die Entscheidung war gefallen, ich mochte den Kerl nicht.
Paul Strohmans Büro kam einer kastenförmigen Betonzelle gleich, deren Anstrich der Farbe abgestandenen Bieres entsprach. Weder Fotos noch irgendwelche Dienstauszeichnungen zierten die Wände, und abgesehen von einer übergroßen Kaffeetasse sowie einem Telefon herrschte auf dem schiefen Holzschreibtisch des Polizeichefs Leere. Ein einzelnes Fenster aus drahtverstärktem Glas mit Furnierrahmen, das ungefähr die Maße eines Studentenwörterbuches hatte, befand sich oben an der Wand hinterm Tisch. Ohne den Aufdruck an der geriffelten Türscheibe – Paul J. Strohman, Chief – hätte ich den Raum für ein Verhörzimmer gehalten.
Strohman selbst war ansehnlicher. Großgewachsen und kräftig mit gesund aussehendem Haar sowie gut definierten Zügen. Der Chef der Polizei strahlte auf unbestimmte Weise einen Promi-Status aus. Er trug ein weißes Anzughemd ohne Krawatte, dessen Ärmel fast bis zu den Ellbogen hochgekrempelt waren und dazu eine dunkelgraue Bundfaltenhose. Er saß zurückgelehnt in einem hölzernen Schreibtischstuhl, das Telefon am Ohr, als mich Cordova durch die Tür bugsierte.
Cordova hatte mich zuvor angewiesen, ich solle mich auf der Toilette am Ende des Gangs frischmachen. Er gab mir ein schmuddeliges Handtuch und ein Stück Seife, dessen Oberfläche mit fleckigen Bläschen darauf hindeutete, dass sie selbst gewaschen werden sollte. Während ich die Blutkruste von Hand und Arm wischte sowie die roten Schlangenlinien entfernte, die vom linken Nasenloch hinunter über Lippen und Kinn verliefen, hörte ich die beiden Beamten auf dem Gang murmeln. Ihre Kommunikation war brüsk. Ich verstand nur einzelne Fetzen der Unterhaltung. Glaubte jedoch sicher, Adams Namen gehört zu haben. Indem ich mich dichter vor den schmierigen und verspritzten Spiegel beugte, betupfte ich die glänzende, frische Blessur an der Seite meiner Stirn.
Nun, da sich die Tür zu Strohmans Büro hinter mir schloss, war ich nicht unbedingt ein neuer Mensch, fühlte mich aber wenigstens nicht mehr wie ein Landstreicher, den man wegen Herumlungerns aufgelesen hatte.
»Also gut«, sprach Strohman in den Hörer. Er wies auf den einzigen anderen Stuhl im Raum, der vor seinem Schreibtisch stand. »Danke, Rich … Yeah, kein Problem. Sicher … Grüß Maureen von mir … Genau. Du auch.«
Gerade als ich Platz nahm, legte er auf. Ich drückte immer noch das Notizbuch an meine Brust, meine beiden Füße standen fest auf dem Boden. Ich hatte einen plötzlichen Rückblick, von meinem Verhör durch Detective Wren zwanzig Jahre zuvor – wie ich zitternd mit einem Handtuch über meinen schmächtigen Schultern auf einer Bank am Fluss gesessen und schluchzend versucht hatte, so gut ich konnte zu erzählen, was passiert war. Grillen tauchten vor mir im sommerlich hohen Gras auf, und Stechmücken waren um meine Ohren geschwirrt. Wren hatte sich mir zugewandt und mich an der Schulter festgehalten, dabei sehr leise und sehr lethargisch gesprochen. Ich muss sagen, es ist ihm schwergefallen behutsam zu sprechen, selbst wenn sie ihn für so etwas ausgebildet hatten, ich war mir sicher, es war eine harte Prüfung für ihn.
»Travis«, sagte Strohman, »ich heiße Paul. Ich bin der Chef hier unten. Ich arbeite mit Ihrem Bruder zusammen.«
»Ich weiß, wer Sie sind.«
Er blieb unbeeindruckt. »Schöne Schramme haben Sie da.«
»Sie sollten den anderen mal sehen.«
»Richtig.« Ich merkte, dass er nicht nur die farbenfrohe Schwellung an meiner Schläfe beäugte, sondern auch die Matschflecke an meinen Klamotten sowie mein wirres Haar. Er nahm den Hörer auf und tippte eine dreistellige Nummer ein. »Hey Mae, bringen Sie uns Kaffee rein, ja? Danke.« Dann hängte er auf. »Sie sehen aus, als könnten Sie einen gebrauchen.«
»Weshalb haben Sie mich herbringen lassen? Wieso wissen Sie, wer ich bin?«
»Das kann ich Ihnen sagen: Ich verbrachte den gestrigen Morgen damit, David Dentman eine Anzeige wegen Belästigung gegen Sie auszureden«, antwortete er nüchtern.
Mein Lachen tönte wie das Krächzen eines seltsamen Vogels. »Machen Sie Witze? Gegen mich?« Obwohl es wehtat, tippte ich mit zwei Fingern gegen den geschwollenen Wulst an meiner Stirn. »Er hat mich so fest geschlagen – ich denke, Sie finden noch seine DNA auf meiner Schädelplatte.«
Strohman lehnte gelassen im Stuhl und sah ziemlich gelangweilt aus. »Er kam Feuer und Schwefel schnaubend herein und behauptete, Sie hätten sein Haus in West Cumberland ausfindig gemacht und seine Schwester mit Erinnerungsstücken an ihren gestorbenen Sohn drangsaliert. Er sagte, Sie schrieben ihr irgendeine Horrorstory in ein Heft, in der die beiden als Geistesgestörte dastünden.«
Er fragte nicht, ob dies der Wahrheit entsprach, und ich verspürte den Drang, mich zu rechtfertigen. »Das alles beruht auf einer Reihe von Missverständnissen. Ich habe diese Frau nicht belästigt. Meine Frau und ich sind in das ehemalige Haus der beiden gezogen, in dem sie einige Sachen zurückgelassen haben. Ich wollte sie ihnen bloß wiederbringen.«
Strohman seufzte und tippte an das dunkle Grübchen an seinem Kinn. »Es ist mir ehrlich gesagt egal.«
»Wieso sitze ich dann hier?«
»Weil ich Ihren Bruder mag«, entgegnete er. »Er ist ein guter Mann. Ich versuche, seine Familie nicht in Verlegenheit zu bringen«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Sie sorgen für gehörigen Aufruhr in der Stadt. Mordanschuldigungen und Stümperei bei der Polizei –«
»Ich habe nie etwas über Polizei-Stümperei gesagt.«
»Wie auch immer.« Er ließ geistesabwesend einen Zeigefinger in der Luft kreisen, um mir zu bedeuten, wie banal er die ganze Unterhaltung fand. »Westlake ist eine kleine familiäre Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt. Meine Aufgabe besteht darin, für das Wohlergehen der Bürger zu sorgen. Sie haben eine Menge Fragen über Dinge gestellt, die Sie nichts angehen und manch einen brüskiert. Also dachte ich, ich gebe Ihnen die Möglichkeit, sich direkt an mich zu wenden.«
»Ich wüsste gern, weshalb die Ermittlungen zu Elijah Dentmans mutmaßlichem Unfall eingestellt wurden.«
Strohman grinste; er wirkte auf schurkische Weise gutaussehend. »Sie klingen wie Columbo.«
»Sagen Sie mir, wie kam es, dass man David Dentman so leicht vom Haken ließ?«
»Wieso sollte er nicht?«
»Immerhin ist er vorbestraft und hat eine gewalttätige Vergangenheit. Er sagte aus, Elijah an jenem Nachmittag vom Haus aus im Auge behalten zu haben, aber Ihre Mitarbeiter haben etwas übersehen. So wie ich zu Beginn.« Ich führte die Bäume auf den Fotos vom See an, wobei ich geflissentlich aussparte, woher ich sie hatte. Wahrscheinlich gab es in einer überschaubaren Stadt wie Westlake nur einen einzigen Kriminalfotografen, weshalb Strohman nicht fragen musste.
»Wo sind diese Fotos?«
Ich fluchte innerlich. »Vermutlich irgendwo in Pennsylvania, mittlerweile.«
Der Polizeichef runzelte die Stirn.
»Ich hatte sie auf dem Friedhof bei mir, doch der Wind wehte sie weg, als mir Dentman ins Gesicht schlug und mich an den Zaun kettete.« Dann war es an mir, die Stirn zu runzeln. »Warum haben Sie mich noch nicht gefragt, was ich überhaupt dort draußen wollte?«
»Ich weiß es bereits.«
»Wie das?«
»Dentman rief heute Morgen hier an.«
»Dieser Hurensohn. Hat er gestanden?«
»Es war ein anonymer Anruf«, erklärte Strohman, »aus einer Telefonzelle in West Cumberland, aber ich weiß, dass er dahintersteckt.«
»Tja, scheiße.«
»Ich werde Ihnen etwas anvertrauen.« Er erhob sich, ging vom Schreibtisch zur Tür und öffnete.
Da stand eine rundliche, kleine Frau mit silbergrauem Haar und zwei dampfenden Styroporbechern Kaffee in den Händen. Ich hatte nicht einmal gehört, ob sie geklopft hatte. Strohman nahm die Becher und dankte ihr, ehe er die Tür mit dem Fuß zudrückte. Nachdem ich ihm einen Kaffee abgenommen hatte, setzte er sich vor mich auf die Tischkante. Das Holz knarrte unter Protest.
»Ist es das, was Sie mir anvertrauen wollen?«, fragte ich. Die Wärme, die von dem Becher ausging, tat gut. »Kaffee?«
Wieder grinste Strohman. Mein Hirn beschwor ein Bild des jungen Kirk Douglas herauf. »Bei Situationen wie dieser, steht zuallererst immer die Familie unter Verdacht, hier also die Dentmans. In diesem Fall die Mutter des Jungen, und seinen Onkel. Die Mutter«, er wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht, um auf ihre geistige Verfassung hinzudeuten, »war nur beschränkt zurechnungsfähig, wenn wir es so ausdrücken wollen. Aber«, er sah mich über den Rand seines Bechers hinweg an und schob nach, »das wissen Sie ja, nach Ihrem Besuch.« Er schlürfte. »Ich habe David Dentman intensiv auf den Zahn gefühlt, seine Schilderungen blieben unverändert.«
»Das allein bedeutet noch nicht, dass er unschuldig ist.«
»Es gibt weder eine Leiche noch andere Hinweise, die auf Mord schließen lassen. Damit will ich sagen, dass wir keinen stichhaltigen Grund für eine Festnahme hatten.«
Ich fasste neuen Mut und beugte mich auf dem Stuhl nach vorn. »Also glauben Sie, dass er den Jungen getötet hat?«
Strohman stellte seinen Kaffee auf dem Schreibtisch ab und legte die Hände in den Schoß. »Ich bin sieben Jahre lang in Los Angeles auf Streife gegangen und habe zwei weitere im Morddezernat gearbeitet. Ich liebe diese kleine Stadt – es ist hübsch und friedvoll hier, ich habe eine Frau und Kinder, die in L.A. weit schlechter aufgehoben wären – und bin mir ihrer Mängel bewusst. In den vier Jahren, seit ich hier bin, gab es nur zwei Fälle von unvorhergesehenen Todesfällen, von denen nur einer tatsächlich Mord war: Drüben im Bird kam es zu einem Streit. Fäuste flogen, bis jemand ein Messer zückte. In dieser Gegend sorgt so etwas für reichlich Trubel. Die meisten meiner Officers haben noch nie Blut gesehen, geschweige denn Mordermittlungen durchgeführt.«
Dieses Promi-Vorzeigelächeln kehrte wieder. Er hatte perfekte Zähne. »Ich hingegen habe schon einige unappetitliche Fälle bearbeitet. Ich könnte Ihnen Dinge erzählen … Sie würden die ganze Nacht kein Auge zumachen, weil Sie zwanghaft auf die leisesten Geräusche im Haus horchen müssten. Wenn es zu solcherlei Dingen kommt, naja, das ist mein täglich Brot. Und nur weil ich mit meiner Familie hierhergezogen bin, um ein ruhigeres Leben zu führen, bedeutet das noch lange nicht, dass ich gleich alles vergesse, was ich in der Ausbildung gelernt habe, ganz zu schweigen von meiner Intuition. Diese Fähigkeiten legt man nicht einfach ab wie an der Sicherheitskontrolle auf dem Flughafen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Was ist mit dem Umstand, dass der Leichnam des Jungen nicht gefunden wurde?«
»Ich rechne damit, dass er irgendwann im Frühjahr auftaucht, wenn der See taut. Mein Punkt ist: Ich sitze nicht hier herum, mit dem Daumen im Arsch. Ich weiß, wie man eine Untersuchung durchführt. Ich brauche niemanden wie Sie, der in meiner Scheiße schnüffelt. Comprende?«
Strohman erhob sich vom Schreibtisch und kehrte zu seinem Stuhl zurück. Beim Setzen quietschen die Rollen darunter. »Also sagen Sie mir, wie kann ich Sie beruhigen?«
»Abgesehen davon, den Fall wieder aufzurollen, nehme ich an?«
»Das ist eine gute Stadt. Den Leuten ist besser geholfen, einen Unfalltod in Vergessenheit geraten zu lassen, als sie in den Mittelpunkt von Mordermittlungen zu stellen, die ohnehin im Sande verlaufen.«
»Das ist Bullshit.«
»Ich bin nachsichtig mit Ihnen, weil Ihr Bruder ein guter Cop und ein guter Mann ist. Ginge es um jemand anderen, käme Dentman sofort mit seiner Anzeige durch. Lassen Sie sich das durch den Kopf gehen.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Officer Cordova wird Sie jetzt nach Hause fahren.«
Nachdem wir in die Sackgasse eingebogen waren, brachte Cordova den Streifenwagen mit einer engen Drehung zum Stehen. Freers machte eine abfällige Bemerkung über das Haus der Dentmans; offenbar war ihm entgangen, dass ich jetzt hier wohnte.
Cordova stieg aus und öffnete mir die Tür. Als ich draußen stand, streckte ich meine Beine. Mein Kopf schmerzte immer noch. »Sie haben sich am Tag, als der junge Dentman ertrank, mit Nancy Stein unterhalten, oder?«, fragte ich ihn.
»Was?« Das hatte er wohl am allerwenigsten erwartet.
Ich schüttelte den Kopf. »Ist egal.« Als ich hinüber zum Haus schaute, sah ich Adam vor der Eingangstür stehen.
»Was zum …«
»Yeah, Sie sollten nicht alles so ernst nehmen«, bemerkte Cordova beim Wiedereinsteigen. »Und lassen Sie jemanden Ihren Kopf anschauen.«
Für einen kurzen Moment, dachte ich nicht an die Beule an meiner Schläfe und glaubte, er rate mir zu einem Psychotherapeuten.
Ich ging den Schotterweg zum Haus und hörte den Streifenwagen Richtung Hauptstraße davonfahren, während mein Bruder mit seinem eindrucksvollen Erscheinungsbild auf der Terrasse nichts Gutes verhieß. Trotz der Kälte war mir so heiß, dass mein Shirt an der Brust klebte und Schweiß von meinen Achselhöhlen meinen Brustkorb hinunterlief. Meine Fingernägel hinterließen sichelförmige Einkerbungen auf der Deckklappe meines Notizbuches. Die Realität verschwamm. Hier herrscht Klarheit. Mir war, als würde mein Dasein gleich enden.
Adam stand wie ein Wachposten vor der Tür. Er trug Jeans und einen weißen Pullover mit einem Stern auf der Brust, vor der er die muskulösen Arme verschränkt hatte. Sein Gesicht war das eines frustrierten Elternteils.
Ich hatte längst alle Hoffnung aufgegeben, also konnte ich lachen, als ich am Fuße der Stufen stand. Lustig war natürlich überhaupt nichts an dieser Situation, wirklich in keinerlei Hinsicht, aber ich hatte die Kontrolle verloren, und übrig blieb schlicht ein krankes, humorloses Glucksen.
»Geh ins Haus«, befahl Adam, drehte sich um und trat vor mir ein.
Beth saß mit Jodie auf der Wohnzimmercouch. Als ich hineinkam, erhob sie sich. Sie sah nicht nur ein wenig beunruhigt aus, sondern richtig fertig, krebskrank, magersüchtig. Jodie schaute mich mit dunklen Augen an. Ein neuerlicher Lachanfall bahnte sich an. Diesmal gelang es mir, ihn zurückzuhalten, um die Situation nicht noch schlimmer zu machen.
»Travis«, begann Beth, »was zur Hölle ist mit dir passiert?«
»Lange Geschichte, aber ich bin okay. Ich muss nur mit Adam sprechen.«
»Verdammt richtig«, stimmte er hinter mir zu. Auch seiner Stimme haftete etwas Eigentümliches an. Er versetzte mir einen Stoß, welcher mich näher an meine Frau heranbrachte.
»Alles klar bei dir, Babe?«, fragte ich.
»Dein Kopf«, sagte Jodie nur. Auf dem Couchtisch vor ihr waren die Holzklötze zu einer Stufenpyramide aufgetürmt.
»Alles bestens, ist nur eine Beule.« Ich spürte, dass Adam und Beth wortlos miteinander kommunizierten.
Beth rieb eine meiner Schultern, dann nahm sie Jodies Hände. »Wir machen Kaffee und belegte Sandwiches«, erklärte sie, ehe sie meine Frau von der Couch aus dem Zimmer führte.
Ich blieb, wo ich war, freute mich aber nicht darüber, Adam entgegenzutreten.
Im Bauch des Hauses sprang die Heizung an.
Adam stand immer noch hinter mir, als er begann: »Bisher weiß ich nur, dass du gestern Abend nicht nach Hause gekommen bist, und dass Doug dich gegen Morgen grün und blau geschlagen auf dem Friedhof außerhalb der Stadt gefunden hat. Willst du das näher ausführen?«
»Gut zu wissen, dass du dich so um meine Gesundheit sorgst. Ich lebe noch, falls es dich interessiert.«
»Ja, das sehe ich. Drehst du dich jetzt endlich verdammt noch mal um?«
Ich tat es.
»Ich dachte eigentlich, dass ich dich ein wenig zur Besinnung gebracht habe.«
»Nein. Du hast mir nicht zugehört. Ich habe versucht es dir zu erklären.« Ich war erschöpft. Ging es nach mir, so gab es keine Schlacht mehr, die ich schlagen konnte. Meine Stimme dröhnte wie durch einen Lautsprecher in der High School.
»Du hast nichts außer an den Haaren herbeigezogenen Bullshit aufgetischt. Ich sagte dir, was du am besten tun solltest, aber du wolltest nicht hören.«
»Doch«, widersprach ich. »Ich habe sehr wohl zugehört. David Dentman fing mich in seinem Wagen ab, als ich euer Haus verließ.«
»Und ich schätze, er war es, der dein Gesicht zu Matsch verwandelt hat, richtig?«
»Mehr oder weniger.«
»Kein Wunder. Ich hab dich gewarnt, diese Leute in Ruhe zu lassen.«
»Aber wer kann schon vorhersagen, wie sich ein wahnsinniger Mörder verhält?«
Adams Nasenflügel flatterten. Er nahm die Arme von der Brust und stemmte die Hände in die Hüften. Seine Wangen waren gerötet und ich sah seine Sehnen am Hals hervortreten. Ich wusste, dass er mich gern geschlagen hätte. »Das«, fuhr er fort, »ist dein Fehler. Niemand sonst ist dafür verantwortlich. Du konntest es einfach nicht lassen. Ich habe dich gewarnt.«
»Du siehst es nicht. Wie kann es sein, dass ich der Einzige bin, der es begreift? Das alles kommt mir vor wie the fucking Twilight Zone.«
»Es gibt nichts zu begreifen.«
»Da gibt es genügend zu begreifen.«
»Nein, du interpretierst dir zu viel zusammen. Es spielt sich alles in deinem Kopf ab. Du gaukelst dir gottverdammt nur etwas vor und glaubst fest daran. Der Junge ist ertrunken. Es war ein Unfall. Bekomm das in deinen Schädel.«
Weißglut packte mich. Detective Wrens Gesicht erschien auf einmal wie der Vollmond vor meinem, eine Hand auf meiner Schulter und er fragte mich zum tausendsten Mal, was mit meinem Bruder geschehen sei.
»Du liegst falsch und bist verblendet«, grollte ich.
»Gottverdammt. Du hast doch den Verstand verloren, kannst Fiktion und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten.«
»Die Wirklichkeit sieht so aus«, antwortete ich im bemessenen Ton, »dass David Dentman seinen Neffen umgebracht hat, doch niemand will es wahrhaben.«
»Dann beweis es.« Adam schlug sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel. »Wenn du dir so verdammt sicher bist, will ich einen verdammten Beweis sehen.«
»Sein Charakter beweist genug; das lausige Notizbuch deutet darauf hin.« Ich warf es durch die Luft. »Das Haus deutet darauf hin, die Gesamtheit all der Geschichten, die –« Mein Blick blieb auf dem Couchtisch hängen mit den Holzklötzen aus meiner Kindheit beziehungsweise denen von Elijah, die immer noch eine bunte Miniaturtreppe bildeten. Ein gequältes Lachen brach aus meiner Kehle hervor. »Der Beweis steckt in diesen Klötzen, siehst du? Der Beweis steckt in der Treppe!«
Um mich herum schien die Welt zu gefrieren. Eine Schleuse tat sich im Zentrum meines Hirns auf und durchflutete es mit gleißend weißem Licht. Ich bemerkte nur vage, wie Beth und Jodie im Flur auftauchten.
»Der perfekte Ort«, murmelte ich, als ich mich zu ihnen umdrehte.
»Travis«, sagte Adam.
»So einfach. Es ist der perfekte Ort, weil es mich schon seit dem ersten Tag anstarrt.«
»Er hat den Verstand verloren«, sprach Adam.
»Oh«, stöhnte Jodie und fing zu weinen an. »Oh Gott …«
»Du willst eine Leiche?«, schrie ich ihn an. »Du willst den Beweis?«
Wie eine Dampflok preschte ich an Adam vorbei und riss die Haustür weit auf. Jodie kreischte meinen Namen, doch ich stoppte nicht, hielt nicht einmal vorübergehend inne. Ich war nicht anwesend, sondern schwebte irgendwo oberhalb und betrachtete mich selbst wie im Traum. Ich war eine Steinlawine im freien Fall, die immer schneller wurde, eine Boeing 747 mit völlig ausgebrannter Maschine, die mit rasender Geschwindigkeit gen Erde stürzte. Hektisch wieselte ich zur Seite des Hauses, setzte zu einem Sprint an, als ich den Garten erreichte. Die Baumstämme vor mir standen wie Zaunpfähle da, eine letzte Barriere zum See.
»Travis!«, hörte ich Adam hinter mir.
Ich hastete weiter die leichte Böschung hinab durch den Schnee auf das Wasser zu, nicht ohne einen Bogen zu dem Hackklotz zu machen, in dem meine Axt steckte. Beidhändig packte ich den Griff und zerrte mit aller Kraft daran. Das Gerät lockerte sich und kam frei, wobei ich fast nach hinten gestürzt wäre.
Im Augenwinkel sah ich, dass Adam mir auf den Fersen war, dicht gefolgt von Beth. Nur Jodie – meine Jodie, mein Mädchen – blieb neben dem Haus stehen und sah dem Treiben zu.
Mit der Axt in der Hand schlug ich mich durch den Wald, wobei ich Äste aus dem Weg schob oder sie abhackte, wenn es sich anbot. Irgendwo, nahe bei mir flatterte eine Schar Amseln auf, die ich erschreckt hatte. Ich lief nicht mehr, weshalb Adam aufholte, ich hörte die Zweige unter ihm knacken. Er rief immer wieder meinen Namen.
Ausgelaugt, aber weiter angetrieben, brach ich durch die letzten vom Winter gebeutelten Bäume. Jeder Atemzug schmerzte in der Brust, doch vor mir lag er nun: der See. Und direkt vor meinen Augen: die Treppe im See. Im Gegensatz zu meinem ersten Besuch gab es nun kein Eis mehr, auf das ich steigen konnte. Ich fand kaum Zeit, mir dessen bewusst zu werden und trat geradewegs ins Wasser. Der Uferschlamm war mit Schilf gespickt, doch mein Fuß sank rasch ein. Das Nass fühlte sich an wie ein Eisbad. Die Kälte stieg wie eine Rakete in mir auf und explodierte mitten im Schädel. Besessen, wie ich war, wollte ich nicht aufgeben.
»Travis«, schrie Adam. Das Knacken maroder Zweige wurde lauter; immer näher …
Ich watete hinein. Bald stand ich bis zu den Hüften im See. Mein ganzer Leib schlotterte, schien auseinanderzufallen, wie ich es von Dentmans Pick-up erwartet hatte, als er über sechzig Meilen die Stunde gefahren war. Wie aus dem Nichts nahm das Gewicht der Axt einen gefühlten Zentner zu, weshalb ich sie mit beiden Händen festhalten musste. Dann reichte mir das Wasser bis zur Brust und ich wuchtete sie über meine Schulter. Meine Zähne klapperten wie eine Horde Stepptänzer. Ich spürte meine Hoden schrumpfen und sich in den Unterbauch zurückziehen. Mittlerweile machte ich keine Schritte mehr, sondern schob die Füße am schlammigen Boden des Sees entlang. Wie tief wurde es noch? Ich hatte keine Ahnung, und es war mir auch gleich. Genauso gut hätte ich in diesem Moment am Grunde des Meeres waten können.
Adam erreichte den Waldrand und taumelte auf den See zu. Mein Name hallte wieder und wieder durch die Nacht. Nun konnte ich auch Beth hören.
Da ich mich nicht umschaute, wusste ich nicht, ob sie mir in die Kälte folgten. Ich erwartete es nicht. Egal wie, es war unerheblich. Die Treppe, dieses urzeitlich wirkende Konstrukt, ragte nur wenige Meter vor mir aus dem Wasser.
Hinter mir platschte es, ich drehte mich um und sah Adam durch das Wasser stampfen.
Die Stufen begannen bereits unter Wasser, also nahm ich den Aufstieg mit der Axt auf der Schulter in Angriff. Die Bretter waren verwittert, rissig und unansehnlich, muteten fragil wie morsche Knochen an. Auf ihnen enthob ich mich der eisigen Fluten. Der Wind blies unerbittlich. Das Wasser hatte ihn bislang abgehalten. Nun, da mein Fleisch ihm derart ungeschützt entgegentrat, wurde es sofort taub. Still, zählte ich die Stufen. Ich fasste die Spitze ins Auge.
Etwas knallte von unten gegen das Gebilde. Etwas im Wasser. Versenkt. Gefangen, dachte ich. Gefangen. Ich spürte meinen Körper nicht mehr, als ich auf der vorletzten Stufe stand. Die Planke der obersten war zersplittert und nicht richtig vernagelt. Sie sah aus als wäre sie in der Vergangenheit einmal herausgebrochen worden.
Ich holte mit der Axt über dem Kopf aus. Irgendwo – von überall – rief Adam. Nur beiläufig bekam ich mit, wie meine Blase nachgab. Die Wärme wanderte vom Schritt innen an den Oberschenkeln hinunter.
Die Axt sauste nieder. Die Planke erhielt eine fatale Wunde. Das stumpfe Eisen krachte ins sonnengebleichte Holz und teilte das Brett glatt in zwei Teile. Die Nägel hielten die beiden Hälften jeweils an den Seiten fest, sodass eine Scharte in der Mitte klaffte. Ich ging auf die Knie und zog die Teile einhändig mitsamt den Nägeln heraus. Da meine Finger gefühllos blieben, war es schwierig, ihnen meinen Willen zur Bewegung aufzuzwingen, zumal die eine Hand wieder zu bluten begonnen hatte. Es tropfte überallhin.
»Travis!«
Als ich die beiden Planken von der Stufe gerissen hatte, warf ich sie an der Treppenseite hinunter ins Wasser – klatsch, klatsch – und schaute in das entstandene Loch. Darin stieß ich auf mein Spiegelbild. Es starrte mich aus einem Rechteck schwarzen Wassers an.
Wirf einen Anker aus.
Ich hielt den Griff fest umschlossen, beugte mich über die Öffnung und rammte den Kopf der Axt ins Wasser. Ich wollte die ganze gottverdammte Treppe falls nötig auseinandernehmen, mit bloßen Händen, meinen gefrorenen Fingern, meinen blutigen Flächen, einfach um ihn zu retten, um meinen –
Das Blatt traf auf einen Widerstand, wobei irgendetwas voneinander getrennt wurde.
Was auch immer es war: Es schabte beim Auftauchen am Griff. Ich starrte verbissen in die brackige Brühe, auf dass es endlich auftauchte. Und wartete.
Als es so weit war, ragte es mitten in den Resten der Stufe heraus und trieb innerhalb des Rechteckes an der schwarzen Oberfläche.
Es trieb.
Meine Hände erschlafften, die Axt rutschte ins Wasser. Ich konnte meine Augen nicht von diesem Ding im Wasser abwenden. Ein gebrochener Mann war ich, benommen und unterkühlt, verloren im Taumel meiner Paranoia. Ich starrte es an, und niemand konnte es mir nehmen oder leugnen, was es war …
Ein Torso.