Teil zwei. Das schöne am geheimnissvollen

Kapitel 8

Die Weihnachtszeit kam und ging. Silvester feierten wir mit Adams Familie im Tequila Mockingbird, Tooey Jones‘ Pub, unweit der Hauptstraße. Ein schwerer Schnellfall bedeckte die Stadt von Westlake in der ersten Jännerwoche, und die Ältesten verkündeten den kältesten Winter, den sie je gesehen hatten, seit sie Jungs waren. Zusammen mussten sie schon dreihundert Jahre alt sein.

Abgesehen von der nicht verlässlichen Heizung im Keller machte uns das Haus wenig Kummer. Am zweiten Januar untersuchte ein Monteur vom örtlichen Gasunternehmen das Gerät und meinte, es sei alles in Ordnung. Dann schaute er sich das Thermostat im Erdgeschoss an, das konstant zwanzig Grad anzeigte. »Kann sein, dass es kaputt ist«, vermutete er. »Sie müssen einen Termin vereinbaren, damit sich jemand anders von der Firma darum kümmert.«

Waterview verkaufte sich blendend, und die Kritiken, die mein Verleger von Websites und aus verschiedenen Printmedien zusammentrug, konnten sich ebenfalls sehen lassen. So gut diese Neuigkeiten auch waren, versuchte ich dennoch, meiner Lektorin Holly Dreher aus dem Weg zu gehen, weil ich keinen einzigen Satz an meinem neuen Buch geschrieben hatte, seit wir aus London fortgezogen waren. Aus welchen Gründen auch immer, blockierte eine unerschütterliche Backsteinmauer den Gedankenfluss in meinem Hirn. Natürlich wusste ich, dass ich diesen Spießrutenlauf nicht ewig fortführen konnte.

Eines trist-grauen Nachmittags, als die nackten Zweige der Bäume schlackernd von einem heraufziehenden Sturm kündeten, läutete mein Handy in der Küche. Ein beharrliches Zirpen im leeren Haus. (Beth hatte Jodie zu einer Shoppingtour in die Stadt überredet.) Ich starrte gerade auf eine leere Blockseite und klopfte mit dem Kugelschreiber gegen mein Handgelenk. Weil Gott genauso wie jeder Mensch auf Ironie steht, war ich mir sicher, dass Holly anrief, und siehe da, als ich das Gerät von der Arbeitsplatte schnappte, zeigte es die Vorwahl 212 an: New York. »Hey, Holly.«

»Ich dachte schon, du seist dort draußen gestorben, Travis.« Ihr Tonfall ließ eindeutig erkennen, dass ihr klar war, dass ich sie gemieden hatte wie die Pest.

»Nein. Ich lebe noch und bin wohlauf.«

»Was sollte ich denken nach all den Nachrichten, die ich dir hinterließ, von wegen du sollst mich zurückrufen.« Sie seufzte. Ich hörte, wie sie sich eine Zigarette ansteckte. »Wie ist das neue Haus?«

»Wir müssen noch etwas Arbeit hineinstecken.«

»Um Gottes willen, du ziehst doch nicht etwa Wände hoch oder reißt welche ein.«

»Nein, so schlimm ist es nicht.«

»Auf die letzten E-Mails hast du auch nicht reagiert.«

»Unsere Internetverbindung ist mehr schlecht als recht.« Das war nicht gelogen, denn wir hatten tatsächlich Schwierigkeiten damit. Und beim Provider hatten wir bereits Beschwerde eingelegt, wo man jedoch alle Vorwürfe von sich wies. Trotzdem: Selbst wenn ich länger als ein paar flüchtige Minuten hätte surfen können, bevor die Verbindung abbrach, wäre ich außerstande gewesen, Hollys Nachrichten im Zuge der Schreibblockade abzurufen, unter der ich litt.

»Also hör mal, es ist nicht zu viel verlangt, deinen Hintern in die nächste Bibliothek zu schwingen und einer Freundin zumindest Bescheid zu geben, dass es dir gut geht. Capisce?«

»Ich hatte bisher kaum Zeit, mich in der Stadt umzusehen. Keine Ahnung, ob es überhaupt eine Bibliothek gibt. Du kannst dir sicher ausmalen, wie es am Arsch der Welt zugeht.«

»Gott. Erinnere mich nicht daran. Mein Geburtsort liegt in Pennsylvania und heißt Inzest, erinnerst du dich?«

Draußen blies der Wind kräftiger und rüttelte an den Fensterläden der Küche. Das Haus knirschte und ächzte überall um mich herum. Ich kam mir vor wie im Bauch eines riesigen Fisches.

»Hättest du die E-Mails gelesen«, fuhr Holly fort, »wüsstest du, dass ich eine Menge lobender Worte für die ersten Kapitel übrig hatte.« Sie machte eine dramatische Pause. »Ich bin gespannt, den Rest zu lesen.«

»Sicher«, erwiderte ich … und hielt sofort inne. Eine Bewegung im Flur erregte meine Aufmerksamkeit. Ich sah – oder glaubte zu sehen –, wie ein Schatten der Länge nach über die Wand kroch. Meine Eingeweide verkrampften, und mein Herz war plötzlich hart wie Granit. Mit zugehaltener Sprechmuschel, rief ich Jodies Namen und wartete auf eine Antwort, die jedoch nicht folgte. Außerdem hätte ich die Haustür gehört, wenn sie es gewesen wäre.

»Wir werden die Druckauflage bei dem neuen Buch verdoppeln.« Holly klang auf einmal viel zu laut. »Wenn es nach mir geht zumindest. Aber zuerst musst du abliefern.«

Ich schlich gerade rechtzeitig den Flur hinunter, um zu beobachten, wie jemand am Ende langsam die Kellertür hinter sich zuzog. Als das Schloss einrastete, klang dies als ob jemand eine Pistole nachlud. Ich schluckte einen dicken Schleimklumpen hinunter.

»Du bist beängstigend wortkarg. Einen Aufschub willst du doch hoffentlich nicht, oder? Der Veröffentlichungstermin steht!«

Irgendwie fand ich meine Stimme wieder. »Nein, das sind klasse Neuigkeiten.« Die Worte blieben mir regelrecht im Halse stecken. Die Stufen der Kellertreppe knirschten, als jemand hinunterging. Ich pirschte mich mit vehement klopfendem Herzen an die Tür.

»Was zum Teufel ist los mit dir?«, bellte Holly. »Du klingst, als stündest du komplett neben dir, Mann.«

»Ich muss aufhören. Ruf dich zurück.«

»Was ist denn?«

»Ich glaube, hier ist gerade jemand eingebrochen.«

»Travis? Du meinst, in euer Haus?«

»Ich muss jetzt.«

»Soll ich –«

»Ich melde mich wieder«, sagte ich und legte auf. Das Handy rutschte vor Schweiß in meiner Hand. Ich ließ es in die Hosentasche gleiten, dann öffnete ich die Kellertür. Unten brannte Licht, das ich definitiv nicht eingeschaltet hatte. Und Jodie war, soweit ich wusste, seit Längerem nicht nach unten gegangen. »Hey«, rief ich im verbissenen Versuch, bedrohlich zu klingen, und scheiterte kläglich. »Ich weiß, dass Sie da unten sind. Kommen Sie hoch, wir können über alles reden. Ich habe nicht vor, die Polizei zu rufen.«

Ich stand eine gefühlte Ewigkeit lang am Ende der Stufen und schwitzte wie verrückt. Gerade als sich mein Herzschlag weitgehend erholte, erklang ein dumpfer Knall gefolgt von wiederholtem Klicken, ebenfalls hohl und wie aus der Ferne, als fielen Bleistifte auf den Betonboden. Dabei schien der Schweiß augenblicklich auf meiner Haut zu gefrieren. Fast schaffte ich es, mir einzureden, ein Tier sei ins Haus gelangt, schnüffle im Keller herum und veranstalte ein heilloses Durcheinander. Dann sah ich, dass der Teppichläufer auf der Treppe triefte, eindeutig von nassen Fußabdrücken.

Unsichtbare Hände schlossen sich um meine Kehle. Mit einem Mal wurde das Atmen zu einer kaum bewältigbaren Aufgabe. Ich zückte das Handy, um die Notrufnummer zu wählen – trotz einer erdrückenden Ahnung am Grunde meiner Seele, dass dem, was dort unten lauerte, weder Kugeln noch Handschellen Einhalt gebieten konnten.

Nein, erhob sich eine Stimme in meinem Hinterkopf. Das ist dämlich. Hör auf, dich selbst in Panik zu versetzen.

Quälend langsam machte ich mich auf den Weg nach unten, wobei die Bohlen unter meinem Gewicht ächzten. Am Fuß der Treppe atmete ich tief ein und zählte im Kopf bis fünf, bis ich um die Ecke schnellte und mich darauf gefasst machte, wem oder was auch immer die Stirn zu bieten.

Der Keller war leer. Im Hauptraum standen weitere verwaiste Sachen – Dinge, von denen wir noch nicht wussten, wo wir sie verstauen sollten – und die einzelne Glühbirne an der Decke warf Schatten an alle Wände. Ich stand mit angehaltener Luft da und harrte eines weiteren Geräusches, um genau ausmachen zu können, wo sich der Eindringling versteckte – ein Waschbär oder Opossum sicherlich –, vernahm aber bis auf meinen eigenen Herzschlag kein weiteres Geräusch mehr. Dann stach mir etwas ins Auge: Eigentlich war es unmöglich, da ich es beim Umzug weggeworfen hatte, und die Erinnerung daran, wie es in den Müllcontainer hinter unserer Wohnung in London gewandert war, stand mir so deutlich vor Augen, dass ich die schwindende Wärme der Sonne im Nacken beinahe spürte und die angrenzenden Bäume roch.

Es ist nicht hier, redete ich mir ein. Ich habe es weggeworfen und es existiert nicht mehr.

Dennoch schritt ich hinüber, wobei ich einen verzerrt langen Schatten an die Wand gegenüber warf. Ich kniete mich nieder, immer noch mein Handy im Griff und starrte es an.

Wirf einen Anker aus und finde Halt, bevor du versuchst, eine konkrete Richtung einzuschlagen, riet einst mein Therapeut Was notierst du eigentlich ständig auf diesen Blöcken?

Was vor mir auf dem Kellerboden lag – wie eine Kugel, die jemand aus der Vergangenheit in die Gegenwart abgefeuert hatte –, war eines jener Notizbücher. Er war irgendwo in der Mitte aufgeschlagen und ich erkannte meine kindliche Handschrift auf den Seiten wieder. Die Tinte war an manchen Stellen verschmiert. Hier standen meine Ausführungen zu dem, was Kyle widerfahren war, aufgeschrieben aus einem unbewussten Drang zur Bewältigung, im Zuge einer entmutigten Phase – ein weiterer Begriff, den der Therapeut geprägt hatte – meiner Jugend.

Ich berührte das Notizbuch mit einer Hand, als könne ich es dadurch seiner Existenz berauben und wie Konfettiregen vor schillerndem Discolicht zurück in das Paralleluniversum befördern, aus dem es stammte. Die Seiten waren kalt, sehr kalt.

Während ich mit stockendem Atem umblätterte, war mir bewusst, auf was ich stoßen würde, bevor ich es sah, ein verblasstes Polaroid-Foto von Kyle, Adam und mir am Flussufer in Eastport. Wir hielten einander in den Armen, und Kyles kurzer Blondschopf hob sich von Adams beziehungsweise meinem struppigen dunklen Haar ab. Wir sahen alle drei den Fotografen an – unseren Vater, dessen Schatten abscheulich verheißungsvoll auf Kyle fiel. Ich hatte das Bild an jenem Nachmittag eingeklebt, als Adam von Dad zum College zurückgefahren worden war, während sich in unserem Haus unheilvoll drohende Stille ausbreitete, wie Eiswasser.

Ich schlug das Notizbuch zu, stand aber nicht sofort wieder auf. Dies lag daran, dass meine Beine vor Entsetzen steif geworden waren; ich konnte nunmehr genauso wenig auf sie bauen wie ein Querschnittsgelähmter. So rieb ich meine Augen mit einem Handballen, wobei die Feuchtigkeit meinen Blick vorübergehend trübte. Als ich wieder klar sehen konnte, schaute ich zufällig auf eine der angeschlagenen Gipswände gegenüber.

In der ersten Woche hatte ich auf Jodies Bitte hin ein paar Behälter Halbglanzfarbe gekauft, um Diele und Wohnzimmer dezent graugrün zu streichen. Fast zwei Tage waren dabei draufgegangen, und am Ende hatten wir einen halben Eimer übrig. Ich hatte den Deckel wieder festgeklopft und das Gefäß unter die Kellertreppe gestellt. Doch jetzt stand es nicht mehr da, sondern zwischen zwei Paaren Skiern und einem alten Couchtisch. Der Deckel lag mit der verschmierten Seite nach oben direkt daneben. An der Wand prangte genau in der Mitte des gleichmäßig weißen Gipses ein Handabdruck in der entsprechenden Farbe.

Später und für den Rest der Woche, in der ich den Augenblick im Geiste abermals durchspielte, wurde mir klar, dass ich nicht länger als zehn bis fünfzehn Sekunden dort gekniet und auf den Abdruck gestarrt hatte, obwohl ich es zu jenem Zeitpunkt wie eine volle Stunde empfunden hatte. Diese war mit der Behäbigkeit einer evolutionären Entwicklung verstrichen. Ich nahm die Fasern meiner Kleidung wahr und die Hitze, die plötzlich von mir abstrahlte, ganz zu schweigen von der Gänsehaut und den aufgestellten Nackenhaaren. Vor meinen Augen tänzelten geisterhafte Amöben, und es brannte, als seien Blutgefäße geplatzt. Jeden Muskelstrang meines klopfenden Herzens spürte ich, jede Sehne und jedes Band, das sich durch meinen Körper zog.

Ich erhob mich und näherte mich dem Abdruck mit weichen Knien. Als ich ihn mit zwei Fingern berührte, war er immer noch klebrig, also nicht völlig eingetrocknet.

Er stammte von einer Kinderhand.

»Wer ist hier unten?« Die Worte klangen zittrig und leidlich überzeugend. »Kyle?«, fügte ich an und ängstigte mich umso mehr.

Erneut vernahm ich ein schwaches Klicken von der anderen Seite des Raumes und erschrak so sehr, dass ich herumfuhr und praktisch genau mit dem Hintern auf dem offenen Farbkübel landete. Als er unter mir wegrutschte, fiel ich auf die Seite. Wie in Zeitlupe verfolgte ich mit, dass er umkippte und im Halbkreis herumrollte, wobei er einen graugrünen Bogen auf dem Beton hinterließ.

»Jesus!« Ich raffte mich vom Boden auf.

Das Klicken ging weiter und endete schließlich in einem bauchig tiefen Knall: Die Heizung ging an.

»Herrgott noch mal …« Ich zwang mich zu einem nervösen Lachen, bevor ich zum Waschbecken an der Wand ging und den Hahn aufdrehte. Die Rohre rasselten und pfiffen, bevor sich ein kupferfarbener Strahl kaltes Wasser ergoss. Ich hielt die Hände darunter, was mir umso eindrücklicher vor Augen führte, wie stark ich schwitzte. Schließlich nahm ich einige Papiertaschentücher und entfernte die verschüttete Farbe, so gut es ging. Zuletzt hatte ich den ganzen Stoß aufgebraucht, mit dem Ergebnis, dass der Boden aussah wie mit großen Magnolienblüten bemalt.

Mit dem letzten Tuch in der Hand erwog ich, den Abdruck von der Wand zu wischen. Am Ende entschied ich mich aber dagegen. Warum, wusste ich sofort, bloß sollte ich es mir erst später am Abend eingestehen: Ich wollte, dass Jodie es sah, um ihr zu beweisen, dass ich nicht verrückt wurde.

Das erneute Läuten meines Handys bescherte mir fast einen Herzinfarkt. Ich ging ran und hörte, noch bevor ich mich melden konnte, Hollys schrille Stimme durch den Hörer kreischen: »Travis, alles in Ordnung? Soll ich die Polizei verständigen?«






Kapitel 9

»Ja«, sagte Jodie, als sie in die Hocke ging. »Es ist ein Handabdruck.«

»Aber von wem stammt er?«, fragte ich. Ich stand mit verschränkten Armen neben ihr, als schmolle ich aus irgendwelchen Gründen. Sie war erst zwei Minuten mit vollbeladen Einkaufstaschen von Macy‘s zurückgekehrt und roch nach unterschiedlichen Parfüms aus dem Kaufhaus, als ich sie an die Hand genommen hatte und sie die Kellertreppe hinunterzog, während die Scheinwerfer von Beths Auto noch unsere Auffahrt ausleuchteten.

Nun betrachtete Jodie den Fleck an der Wand und wollte ihn anfassen.

»Nicht«, sagte ich ein wenig zu laut.

Sie zog die Hand erschrocken zurück, als habe ein Tier nach ihr geschnappt, und warf mir einen verwirrten Blick über die Schulter zu.

»Verschmier ihn nicht. Er soll unversehrt bleiben.«

»Warum? Glaubst du, er stammt von Bigfoot?«

Ich ging neben ihr auf die Knie. »Findest du es nicht komisch? Verflucht sonderbar?«

»Dass sich ein Handabdruck auf unserer Wand befindet?«

»Das ist der Handabdruck eines Kindes, der ausgerechnet hier erscheint«, führte ich genauer aus, mit dem Finger gegen die Wand trommelnd.

»Und? Die Dentmans hatten ein Kind. Ist es so schwer nachzuvollziehen, dass –«

»Nein, du checkst es nicht.« Erneut klopfte ich gegen die Wand. »Das ist die Farbe, mit der wir oben ausgestrichen haben. Erkennst du sie nicht wieder? Du hast sie doch selbst ausgesucht, um Himmels willen.«

»Und du hast sie überall am Boden verteilt«, fügte sie leicht vorwurfsvoll hinzu, sich im Raum umschauend. »Toll.«

»Vergiss den Boden. Wie erklärst du dir die Hand?«

»Zufall?«

Ich konnte nicht anders, als zu lachen. »Meinst du das ernst?«

»Warum nicht? Ist eine Allerweltsfarbe.«

»Als wir eingezogen sind, war kein einziges Zimmer graugrün gestrichen, und außerdem hätte ich das hier so oder so längst bemerken müssen.

»Ach ja?« Der herablassende Tonfall in Jodies Stimme beunruhigte mich. »Hättest du?«

»Was meinst du damit?«

Sie erhob sich und klopfte die Hände an den Oberschenkeln ihrer Jeans ab. »Meine Taschen liegen oben kreuz und quer im Flur. Hilfst du mir damit?«

»Machst du Witze? Was ist hiermit?«

Jodie seufzte. Ihr Blick wanderte wieder Richtung Handabdruck, dann zurück zu mir. Schließlich fragte sie: »Hast du wenigstens eine Theorie dazu, in die du mich einweihen möchtest?«

Damit brachte sie mich aus der Fassung. »Eine Theorie?«

»Genau. Wo kommt der Abdruck denn deiner Meinung nach her?«

»Ich … Keine Ahnung«, gestand ich.

»Dann komm mit hoch und hilf mir mit den Einkäufen. Ich will was zu Abend kochen und Wein dazu trinken.« Sie drehte sich um und wollte hochgehen.

»Warte.« Ich hob den Notizblock vom Boden auf, wo ich ihn liegen gelassen hatte. Ich hielt ihn ihr vor wie ein Ankläger bei der Präsentation von Beweisen vor den Geschworenen. »Dann hätten wir das noch.«

Jodie erwiderte nichts, schien vielmehr zu kapitulieren und lehnte sich an die Wand, um durch die Seiten zu blättern.

»Ich warf es in London in den Müll, als wir Platz in der Wohnung schafften. Weißt du noch?«

»Travis …«

Ich fuhr geräuschvoll mit dem Daumen durch die Seiten. »Du kennst meine Aufzeichnungen, die ich als kleiner Junge nach Kyles Tod verfasst habe. Obwohl ich sie in London wegwarf, liegen sie jetzt hier herum.«

»Das war ich.«

Ich starrte sie mit offenem Mund an.

»Ja«, bekräftigte sie. »Ich fand diese Blöcke im Müll und nahm sie wieder mit ins Haus. Hab sie in einen Karton gelegt, ohne dir Bescheid zu sagen.«

»Wieso?«

»Weil ich dachte, du seist mal wieder unachtsam gewesen.« Jodie kratzte sich im Gesicht, rote Striemen auf ihrer Wange blieben zurück. »Vielleicht hättest du es eines Tages bereut, sie weggeworfen zu haben, und das wollte ich nicht.«

Ich war sprachlos; konnte bloß auf den Einband des Blocks stieren, der eine schwarz-weiße Raubkatze zeigte.

»Travis, er war dein Bruder. Ich wollte verhindern, dass du einen Fehler begehst und du dich später dafür hasst.« Sie legte mir sanft eine Hand auf die Schulter. »Ist es das, worum es hier geht? Wegen Kyle?«

Sein Name in ihrem Mund löste einen grellen Pfiff wie von einer heißen Dampfmaschine in meinem Schädel aus. Ich warf den Block auf einen Berg Bücher, glotzte aber weiter auf meine leeren Hände, als hielte ich ihn nach wie vor fest.

Jodie kam näher und umarmte mich von hinten. Als sie mir einen Kuss in den Nacken gab, spürte ich ihren Herzschlag an meinem Rücken. Wieder fiel mir der Duftcocktail auf, mit dem sie sich in der Drogerieabteilung besprüht hatte. »Du bist mir doch nicht böse, oder? Dafür, dass ich das getan hab, meine ich.«

Ich drückte ihre Hände, die sie vor meinem Bauch verschränkt hatte. »Nein.«

»Ich liebe dich, weißt du. Ich sorge mich um dich und will, dass es dir gut geht.«

»Das ist meine Aufgabe«, hielt ich dagegen.

»Machen wir es zu einer gegenseitigen. Okay?«

Ich drückte sie fester. »Okay.«

»Komm jetzt.« Sie ließ mich los und ging zur Treppe. Ihr Schatten folgte an der Wand wie ein Kometenschweif. »Essen wir was Gutes. Ist übrigens eiskalt da unten.«

Jodie wusste von Kyle, natürlich. Für sie hatte ich einen jüngeren Bruder gehabt, der gestorben war, mehr nicht. Was ich ihr vorenthielt, war meine Schuld an seinem Tod. (Soweit ich wusste, waren die einzigen lebenden Menschen, die die Wahrheit kannten, Adam und Michael Wren, ein Beamter der Maryland State Police … vorausgesetzt Detective Wren weilte noch unter den Lebenden.)

Ich erzählte Jodie knapp eine Woche nach unserer Verlobung davon, als wir abends im Bett meines Appartements in Georgetown lagen. Wir waren nackt, schwitzten und keuchten angestrengt nach dem Liebemachen und starrten beide unverbindlich an die Decke, die plötzlich zu niedrig über uns zu hängen schien. Die Veröffentlichung von The Ocean Serene stand gerade an, und ich – beziehungsweise Alexander Sharpe – hatte es schlicht und ergreifend Kyle gewidmet. Jodie hatte die Druckfahnen kurz davor gelesen, während ich in die Tageszeitung vertieft gewesen war. Sie fragte mich, wer Kyle gewesen sei.

»Mein Bruder«, erklärte ich ihr.

»Ist Adam –«

»Kyle war mein jüngerer Bruder. Er starb, als ich dreizehn war.«

»Oh … das tut mir leid, Travis.«

»Ist schon gut.«

»Nein«, beharrte sie. »Ist es nicht. Ich wusste nicht …«

»Ich habe es dir nicht erzählt«

»Schatz, das ist wirklich …«

»Ist okay. Es ist schon lange her.«

»Willst du darüber sprechen?«

Wollte ich nicht. Andererseits hatte ich mich für den Rest meines Lebens dieser Frau verschrieben und war mir bewusst, dass sie deshalb ein bestimmtes Anrecht besaß, und Jodie musste von Kyle erfahren.

»Er war zehn«, hörte ich mich sagen, und es hätte genauso gut die Stimme eines anderen sein können, die durch ein Rohr tief aus dem Erdinneren an mein Ohr drang. »Wir lebten damals in Eastport, einem beschaulichen Küstenvorort von Annapolis direkt an der Chesapeake Bay mit Leuchtturm, idyllisch kleiner Zugbrücke und allem Drum und Dran. Rückblickend kommt es mir vor wie ein Foto von Jean Guichard. Aber zum Aufwachsen war es ein wunderbarer Ort.«

Draußen wälzte sich der Verkehr vor und zurück, wie Ebbe und Flut. Das Licht der Straßenlaternen schillerte in den Regentropfen an den Fensterscheiben.

»Hinter unserem Haus verlief ein Fluss zur Bucht. Im Sommer schwammen wir immer darin.«

Ich hielt inne und ließ melancholisch die Gedanken schweifen, und Jodie umarmte mich inniger. Auf dem Schreibtisch lag ein Päckchen Marlboro. Ich stand auf und nahm es zusammen mit einem Briefchen Streichhölzer mit vors Fenster. Das widerspenstige Ding klemmte, weshalb ich es erst mit etwas Verzögerung öffnen konnte; die Luft, eine kühle Mittsommerbrise wehte in den stickigen Raum. Halb aus dem Fenster gelehnt, inhalierte ich tief. Jodie hatte verzweifelt versucht, mir das Rauchen auszureden, und maßregelte mich zu jeder Gelegenheit. In jener Nacht aber machte sie keine Bemerkung dazu.

»Damals im Sommer ertrank Kyle im Fluss«, schilderte ich kurz und bündig. Irgendwie zwischen dem aus dem Bett steigen und dem Zigaretten anzünden, hatte ich mich dazu entschlossen, Jodie nicht jedes Detail zu erzählen – was ich an jenem Tag getan beziehungsweise unterlassen hatte. Es war unnötig, zumal ich sowieso nicht glaubte, es erläutern zu können. (Nur einmal im Leben hatte ich es erzählt, und zwar Detective Wren, und das genügte voll und ganz. Mit dreizehn war es mir laut über die Lippen gekommen, danach nie wieder.)

Leise hauchte Jodie: »Nein.«

Ich warf den Zigarettenstummel aus dem Fenster und verriegelte es wieder. So sehr ich fror, so taub fühlte sich mein Gesicht an. Da bemerkte ich, dass ich geweint hatte, und die Tränen brannten auf meinen Wangen. Ich wischte sie weg, tappte zurück ans Bett und schlüpfte unter die Decken.

»Jetzt weißt du es«, schloss ich einfach, als sei damit alles gesagt.

»Alles okay mit dir?«

»Ja.«

»Warum hast du es mir nicht schon früher erzählt?«

»Weiß nicht.«

»Du hättest es mir erzählen sollen.«

»Natürlich«, erwiderte ich, obwohl ich ihr kaum zuhörte.

»Falls du je wieder darüber sprechen willst: Ich bin da und höre zu.«

»Danke, aber wirklich, mir geht es gut.«

»Denk einfach daran, Baby.«

»Werde ich.«

»Mein Baby.«

»Ja.«

Und das war alles, was ich Jodie je darüber erzählt hatte.

Jodie bereitete Tacos und mexikanischen Reis zu. Während ich den Tisch deckte, legte ich eine CD von Eric Alexander ein und öffnete eine Flasche Chateau Ste. Michelle. Obwohl der Handabdruck im Keller nach wie vor wie ein Symbol des Verhängnisses über mir schwebte, wollte ich verhindern, dass meine Frau dachte, ich hätte den Verstand komplett verloren, also zündete ich sogar Kerzen an und setzte meine Feiermiene auf, als wir Platz nahmen. Zu meiner Überraschung war der Abdruck zu einer vagen Sorge ganz hinten in meinem Oberstübchen geschrumpft, als Jodie mitten in der Rekapitulation ihres Nachmittags steckte. Eine Stunde und mehrere Gläser Wein später war ich davon überzeugt, dass ich alles darüber vergessen konnte.

»Hör mal, wir haben oben das perfekte Büro, benutzen es aber im Moment nur als Abstellkammer«, sagte Jodie, legte die Gabel nieder und schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein. »Wir könnten meinen Laptop dort aufstellen statt auf dem Wohnzimmertisch, und dein Schreibkram ließe sich von dort aus auch leichter organisieren. Außerdem brauche ich einen Platz, wo ich meine Dissertation in Ruhe zu Ende bringen kann, und du willst bestimmt nicht für den Rest deines Lebens auf dem Sofa schreiben, oder?«

Ich hatte wohl auch auf dem Sofa nicht viel geschrieben, aber egal. »Gib mir ein paar Tage, und ich richte uns ein gemütliches Büro ein. Arbeitest du morgen?«

»Ja. Du solltest mal am Campus vorbeischauen. Sie haben dort eine nette Bibliothek.« Sie lächelte unschuldig; eine Sekunde lang erschien sie mir so, wie sie als kleines Mädchen ausgesehen haben mochte. »Wir könnten dort zusammen zu Mittag essen.«

»Wie lange dauern die Winterkurse?«

»Nur ein paar Wochen, aber pass auf.« Sie stellte ihr Weinglas ab. »Ich wollte etwas mit dir besprechen.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Schieß los.«

»Im Frühjahr schreiben sie eine Vollzeitstelle aus, und ich spiele mit dem Gedanken, mich zu bewerben.«

»Lehrtätigkeit?«

»Ich weiß, es klingt verrückt, und ich habe auch nicht sechs Jahre lang auf die Promotion hingearbeitet, nur um in den Hörsälen hängenzubleiben.«

»Wenn du aber Doktorin bist … Du wolltest doch in einer Klinik arbeiten.«

»Ich weiß. Ich weiß.« Sie lachte und stützte ihr Kinn mit einer Hand. »Das Lehren bereitet mir großen Spaß. Ich liebe die Kinder. Ich liebe die Studenten.«

Die Unterhaltung näherte sich gefährlich nahe dem Streitthema – Jodies Wunsch, Nachwuchs zu zeugen. Kurz spürte ich Wut auflodern, weil es mir wie ein passiv-aggressiver Versuch vorkam, das leidige Thema erneut zur Sprache zu bringen – Ich liebe Kinder. Ihr aufrichtig zufriedener Gesichtsausdruck aber erstickte das Gefühl im Keim. Ihre Augen funkelten wie Edelsteine im Kerzenlicht.

»Na ja«, sagte ich. »Wenn dir der Sinn danach steht …«

»Du meinst also, du hättest kein Problem damit?«

»Wieso sollte ich ein Problem damit haben?«

»Ich dachte, nachdem ich so lange die Schulbank …«

»Du musst deinem Herzen folgen. Falls du deine Meinung mit der Zeit änderst, kannst du immer noch zurückschwenken und in einem Krankenhaus arbeiten. Rechnest du mit ernsthaften Chancen auf den Posten?«

»Oh ja«, betonte sie beinahe atemlos. »Durchaus.«

»Verdammt«, erwiderte ich, »dann hol ihn dir.«

Wir machten erneut Liebe in dieser Nacht und es war sehr schön, obwohl mir diese ungezügelte Lust wie in der ersten Woche in unserem Haus auf dem Sofa fehlte.

»Was ist los?«, fragte Jodie sofort danach.

»Was meinst du?«

»Du wirkst so abwesend.«

»Klang gerade nicht so, als hätte dich das gestört.«

»Liegt es an deinen Notizbüchern? Weil ich sie in London aus dem Müll genommen habe?«

»Nein.« Für mich hörte es sich wie aus weiter Ferne an.

»Woran sonst? Irgendetwas stimmt doch nicht.« Sie streichelte meine Brust. »Ich merke das.«

Ich küsste ihre Stirn, nahm sie in den Arm und drückte sie.

»Du wirst nicht mit der Sprache herausrücken, was?«, fragte sie nach einer Weile.

Ich sagte nichts weiter, bis ich letztendlich in einen traumlosen Halbschlaf verfiel, während Jodie aufstand und duschte, bevor sie zum Bett zurückkam.

Irgendwann kurz vor Sonnenaufgang wurde ich wach, weil ich dachte, eine eiskalte Hand berühre meine Brust. Ich zuckte hoch, wobei mir ein Schrei im Hals steckenblieb. Jodie schlief seelenruhig neben mir; seltsam, dass ich sie mit meinem Erschrecken nicht aufgeweckt hatte. Durch den Raum und einen Teil der Vorhänge konnte ich den Dreiviertelmond perlweiß am gefrorenen See reflektieren sehen.

Halb bewusst fasste ich an mein Gesicht, während sich meine Augen noch an die Finsternis gewöhnen mussten. Quälende Unruhe trieb mich an. Aufstehen, aufstehen, aufstehen. Ich dachte an nichts anderes mehr, also warf ich die Decken zurück und trat auf den kühlen Hartholzboden. Ein kalter Schauer durchfuhr wie ein Blitz meinen Körper und ich fühlte wie meine Hoden, diese beiden faltigen Feiglinge auf die Größe getrockneter Feigen zusammenschrumpften. Ich zog meine Schlafanzugshose an und schlich in den Flur, immer noch nicht an das Knarzen der Dielen gewohnt; ich zuckte jedes Mal innerlich zusammen, fürchtete, Jodie würde aufwachen. Aber sie schnarchte und war in ihrer eigenen Traumwelt verloren und ich schaffte es, ohne Zwischenfälle bis zum Teppichboden vorzudringen.

Wie in der ersten Nacht im Haus spähte ich übers Geländer hinunter in die Diele. Die Kartons standen nicht mehr dort und das Mondlicht fiel ungehindert durch die vorderen Fenster. Ich regte mich nicht, hatte jedoch meine klammen Hände zu Fäusten geballt, und lauschte auf ein Geräusch in der durchdringenden Stille des Hauses. Ich lauschte und lauschte. Worauf wartete ich? Was hatte mich aufgeweckt? Keine Ahnung.

Im Keller suchte ich nach der Schnur des Deckenlichts und nach einer Weile in der Dunkelheit irrend, wie ein pantomimischer Lotse vor einer Flotte Düsenflieger, spürte ich plötzlich, dass er in meinem Gesicht hing. Ich zog daran und das Licht brannte sich in meine Netzhaut. Ich zuckte zusammen und blieb in der Mitte des Kellers stehen, bis ich mich auf die Helligkeit eingestellt hatte. Dann schaute ich mich nach etwaigen Pfützen am Boden um. Es waren aber keine da.

Mein Blick fiel auf den Handabdruck an der Wand gegenüber. Ein besonders beklommener und überempfindlicher Teil meiner Seele war davon überzeugt, dass sich die Spur aufgelöst hatte, oder schlimmer – dass jetzt weitere, Dutzende mehr die Wand bedeckten, und zwar bis in den letzten Winkel –, aber er war da. Der einsame Kinder-Handabdruck.

Natürlich reichte er bereits aus, um mich zu verstören, doch nun nagte noch etwas an mir, das seinen Ursprung irgendwann früher am Abend hatte. Etwas Wichtiges war mir entgangen, wenn auch nur knapp, aber ich konnte nicht konkret dingfest machen, worum es sich handelte.

Als ich ins Bett zurückkehrte, begleitete mich dieses unangenehme Gefühl, und auch am Morgen brütete ich sehr lange darüber nach. Da Jodie an der Uni war, versuchte ich wieder, etwas zu Papier zu bringen, stellte aber wenig überrascht fest, dass ich mich einfach nicht darauf konzentrieren konnte. Bald hatte ich zu viel Kaffee getrunken und streifte durch die Zimmer, den leichten Schneefall durch die Mansardenfenster beobachtend.

Gegen Mittag hatte ich den Handabdruck dreimal gemustert. Er war abgesehen davon, dass er bei Tageslicht weniger schauerlich wirkte, unverändert geblieben. Tatsächlich glaubte ich gegen halb eins, dass Jodie vielleicht doch recht hatte: Der Fleck war vielleicht schon immer da gewesen. Der offene Farbeimer? Es schien nicht unwahrscheinlich, dass ich ihn dort vergessen und nicht unter die Treppe gestellt hatte, wie ich glaubte. Immerhin gehörte die Hand einem Kind, und wir hatten keins.

Ich rang mich zum Aufräumen des Zimmers durch, das unser Büro werden sollte. Immer noch stapelten sich Kisten darin, manche sogar bis an die Decke. Ich hob eine an und fiel beinahe rückwärts, weil sie so gut wie nichts wog. Sie war leer. Während ich sie zusammen mit ein paar anderen hinaus zur Abfalltonne trug, trommelte ich mit den Fingern gegen die Pappe.

Auf einmal fügten sich gewisse Puzzleteile in meinem trägen Geist zusammen, da wusste ich, was mir im Zusammenhang mit der Hand am Gips im Keller entgangen war. Komischerweise hatte es aber nichts mit dem Abdruck selbst zu tun, sondern allein mit der Wand. Wie ich mit den Fingern gegen den Karton klopfte, klang es genauso wie in der Nacht zuvor, als ich es am Trockengips getan hatte.

Hohl.

Ich kehrte in den Keller zurück und klopfte die Wand mit den Fingerknöcheln ab. Natürlich klang sie hohl, als befände sich nichts dahinter. Ich bewegte mich an ihr entlang, ohne mit dem Pochen aufzuhören, bis ich einen Unterschied wahrnahm, wo die Trockenwand unmittelbar über dem Betonschalstein oder irgendwelchen Balken befestigt worden war.

Neugierde und ein rechter Gefühlsaufruhr trieben mich dazu an, alles vor der hohlen Wand aus dem Weg zu räumen, bis der ganze Bereich freigelegt war. Während ich die Fugen der Gipsplatte ertastete, die man nicht überklebt hatte, jonglierte ich Quadratmaße im Kopf: Der Keller besaß eine kleinere Grundfläche als das Erdgeschoss, aber erklären konnte ich mir dies nicht. An und für sich hätten beide Maße ungefähr übereinstimmen müssen. Das bedeutete doch nicht etwa –

Als ich die Fuge zwischen zwei Trockenwänden hinunterfuhr, fiel mir eine geringfügige Delle auf. Ich betrachtete sie genauer, indem ich sozusagen die Nase gegen den Gips drückte. Es war ein Scharnier. Etwas weiter unterhalb befand sich ein zweites … und kurz vor dem Boden ein drittes.

Das war mit Sicherheit keine Wand.

Es war eine Tür.

Allerdings fehlte ein Knauf, Griff oder sonst etwas, mit dem man sie öffnen konnte. An der Fuge auf der anderen Seite versuchte ich, die Finger zwischen die beiden Platten zu klemmen, um die Tür aufzuziehen, aber es war unmöglich. Wahrscheinlich war sie schon seit Langem versiegelt worden.

Eine Tür wohin? Einen weiteren Raum?

Ich hatte keinen blassen Schimmer.

Dann hörte ich die Stimme meines Therapeuten wieder: Es ist ein Kommen und Gehen. Die Wandschränke, in denen wir in London Nahrungsmittel verstaut hatten, fielen mir ebenfalls wieder ein, ihre Klapptüren mit Magnetverschluss.

Es ist ein Kommen und Gehen.

Ich legte eine flache Hand an die vermeintliche Wand und drückte vorsichtig dagegen. Ich fühlte sie etwas nachgeben … dann löste sie sich von der anderen Platte, wobei die Scharniere quietschten. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, ein senkrechter Spalt in die Dunkelheit.

Erst als ich sie weiter aufmachen wollte, bemerkte ich, wie aufgebracht ich war, denn meine Hand zitterte heftig. Ein leises, kurzes Lachen entrann meiner Kehle.

Ich öffnete die Tür.








Kapitel 10

Als Jodie und ich das Haus in der Waterview Court bezogen, hatte ich bereits vier Bücher veröffentlicht, die sich entweder mit dem Übernatürlichen befassten oder dem Horrorgenre zuzuordnen waren. Ich handelte mit Spuk, Geistern und garstigen Wesen mit noch garstigeren Absichten. Als ich nun vor der offenen Tür in der Kellerwand stand, wurde mir bewusst, wie viele solcher Szenen ich bereits beschrieben hatte. Meinen Charakteren ließ ich seit jeher eine gewisse Beklemmung und Furcht angedeihen, wann immer sie kurz vor einer unwägbaren Entdeckung standen.

Jedoch hatte ich keinerlei Furcht, wie es im Gegensatz die meisten Charaktere in meiner Vergangenheit hatten. Ich war cool, eine fast erfrischende Zufriedenheit umgab mich, als hätte ich gerade die letzte Lücke eines ungewohnt verzwickten Kreuzworträtsels geschlossen.

Deshalb war mein erster Gedanke beim Öffnen der Tür: Scheiße, ich habe alles falsch gemacht.

Der Raum hinter der Tür war eng und fensterlos. Dunkle gewölbte Formen deuteten ein regelmäßiges Muster an, aber ohne Beleuchtung konnte ich nicht ausmachen, worum es sich handelte. Ich wollte mehr Licht hineinlassen, indem ich die Wand weiter aufmachte, aber die einzelne Birne mitten an der Kellerdecke war nicht stark genug. Ich tastete auf gut Glück an die Innenseite der Wand und fand überraschenderweise tatsächlich einen Lichtschalter. Ich knipste ihn an und musste daraufhin mehrere Sekunden lang sacken lassen, was ich sah.

Es war ein Kinderzimmer … oder zumindest andeutungsweise. In eine Ecke passte gerade eben ein kleines Bett, auf dessen Matratze ein Berg kleiner, bunter Kleidungsstücke lag. Auf einem schmalen Schreibtisch an einer Wand stand eine Leselampe mit Cowboy-und-Indianer-Motiv auf dem Schirm, und anderswo stand ein Bücherregal, vollgepackt mit Kinderbüchern und Spielzeug aller Art. Platz am Tisch nahm man auf einem Plastikstuhl in Form einer übergroßen, wie zum Schöpfen hohlen Hand, und am Fuß des Bettes quoll eine Box vor Plüschtieren über. Decke und hintere Wand aus nacktem Betonstein ohne Putz waren mit Sternen und Halbmonden beklebt, die im Dunkeln leuchteten. Die Pappkartons, die sich in der Mitte des Raumes stapelten, ähnelten jenen, die wir zum Umzug benutzt hatten, aufs Haar; sie beschrieben das Formmuster, das ich zuerst erkannt hatte.

Es wirkte wie ein Museumsschaukasten, die Rekonstruktion eines Kinderzimmers von 1958, wie etwas hinter Glas mit einem Messingschild auf dem steht: Rekonstruktion des Kinderzimmers eines Amerikanischen Jungen.

Ich trat in der festen Annahme ein, damit ein Heiligtum zu entweihen, bekam jedoch allenthalben ein unterschwelliges Schwindelgefühl. Abgesehen von einem schmutzigen Vorleger halb unter dem Bett blieb der Boden unbedeckt, weshalb meine Schritte auf dem Beton trotz der Enge des Raumes widerhallten. Ich untersuchte das Spielzeug auf den Regalen und die zusammengelegte Kleidung auf dem Bett, dann hob ich den Deckel der Box mit dem großen Zeh hoch – ich hatte meine Turnschuhe an – und blickte in die Augen ausgestopfter Bären, Schweinchen, Affen und weiterer schwer zu identifizierender Geschöpfe. Sie kamen mir wie Ertrinkende in einem Brunnenschacht vor.

Zuletzt ging ich zweimal um den Stapel Kartons in der Mitte des Zimmers. Der Karton wirkte alt, was der vereinzelte schwarze Schimmel darauf bestätigte. Als ich die obere Kiste aufklappte, sah ich noch mehr bunte Kinderkleidung wie auf dem Bett. Ein gestreiftes Poloshirt zog ich heraus; es war praktisch neu. Nachdem ich es wieder hineingesteckt hatte, stellte ich die Kiste auf den Boden, um die darunter zu durchstöbern, in der ebenfalls nur Kleidung verstaut war. Die dritte war vollgestopft mit Spielsachen, einem anderen Stoffbären, einer Baseballkappe und dem entsprechenden Ball dazu, abgegriffen mit zerfranster Naht, sowie Sneakers mit verknoteten Schnürsenkeln und getrocknetem Matsch an den Sohlen. Neben einem motorbetriebenen Bleistiftspitzer fand ich etwas, das wie die Achse eines Spielautos aussah, an der nur noch ein schwarzes Rad befestigt war, und schließlich fiel mir eine illustrierte Kinderbuchausgabe von Die Schatzinsel in die Hände.

So arbeitete ich mich durch alle Behälter – mit einer Mischung aus hartnäckigem Unglauben und zunehmender Benommenheit – bis zum untersten. Wie sich herausstellte, war dieser nicht wie die anderen, sondern aus hellblauem Plastik mit roter Kordel zum Anpacken. Mir war, als raste ein Bolzenschloss ein; gewisse Schlüsselelemente fügten sich, obwohl ich nicht genau eruieren konnte, was es war.

Ich ging vor der blauen Kiste in die Hocke, die nicht größer war als ein Farbeimer, und entfernte den Deckel ohne viel Aufwand. Es heißt, der Geruchssinn sei am stärksten ans Erinnerungsvermögen gekoppelt, und in diesem Moment zweifelte ich nicht im Geringsten daran, dass dies stimmte. Es duftete nach Spänen von Zedernholz, nach Hamsterstreu und getrockneten Brettern, ganz schwach auch nach Kunstharz. Indem ich dieses Gemisch einatmete, fühlte ich mich in meine frühe Kindheit zurückversetzt, als die Hölle nach dem Tod meines kleinen Bruders noch in weiter Ferne gelegen hatte.

In dem blauen Kasten lagen bunte Holzbauklötze verschiedener Form und Größe, wie ich sie ebenfalls besessen hatte, als ich klein gewesen war. Als meine Mutter sie im Rahmen eines Garagenflohmarktes verkaufte, hatten sie zahlreiche Dellen und Kerben davongetragen beziehungsweise weitgehend ihre Farbe verloren. Diese Klötze hingegen sahen brandneu und quasi unbenutzt aus. Ich nahm einen heraus und hielt ihn an meine Nase. Der bittersüße Geruch meiner Kindheit.

Wie mir Adams Bericht über Elijah Dentman wieder einfiel, wusste ich, dass ich in Elijahs Zimmer stand. All diese Dinge hatten ihm gehört. So hässlich dieser kleine Kerker anmutete, hatte er hier geschlafen, gespielt und sein Nachtgebet gesprochen.

Kalter Schweiß perlte von meinen Nacken hinab. Mein Mund trocknete aus. Was waren das für Eltern, die ihr Kind hinter einer Kellerwand versteckten? Ein Zimmer ohne Fenster, ohne natürliches Licht?

Unvermittelt kam mir die Weihnachtsfeier bei Adam in den Sinn, als ich mich am Buffet mit Ira Stein unterhalten hatte. Klar und deutlich hörte ich ihn sagen: Die Dentmans waren eine recht eigentümliche Familie, wie Sie vielleicht schon erfahren haben. Nicht dass ich schlecht über diese bedauernswerten Leute sprechen möchte, vor allem nach dem, was ihnen passiert ist.

»Du solltest runterkommen und dir das ansehen«, forderte ich Jodie gleich nach ihrer Rückkehr auf. Es war halb sechs und vorzeitig finster geworden. Ich hatte den ganzen Tag mit dem Durchsuchen von Elijah Dentmans Sachen verbracht.

Jodie sah müde aus, als sie ihre Bücher und Tasche auf dem Küchentisch ablegte. Sie beäugte mich wie jemanden, der ihr in einer dunklen Gasse auflauerte, während sie sich ein Bier aus dem Kühlschrank nahm. »Erzähl mir nicht, du hast noch mehr Handabdrücke an den Wänden entdeckt.«

Es klang keine allzu subtile Verurteilung in ihrer Stimme.

»Besser«, antwortete ich.

»Hast du dich heute geduscht? Du siehst richtig brutal aus.«

»Komm schon«, sagte ich und machte mich auf den Weg den Flur hinunter Richtung Kellertür. »Sieh es dir mal an.«

Sie folgte mir.

»Hier lebte mal ein kleiner Junge«, erklärte ich von unten hinauf, während Jodie matt die Stufen herabstieg. »Elijah hieß er. Seine Mutter und ihr Bruder brachten ihn mit, als sein Großvater erkrankte.« Dass der Knabe im See hinterm Haus ertrunken war, sparte ich bewusst aus. Als sie den Fuß der Treppe erreichte, ergriff ich ihre Hand und führte sie eilig zur Geheimtür. »Du wirst es nicht glauben, aber ich schätze, ich habe das Zimmer des Jungen gefunden.«

Wir standen Schulter an Schulter in der Wandöffnung zu Elijah Dentmans Raum wie ein Paar an einer U-Bahn-Haltestelle. Ich lachte, weil mich dieser nahezu archäologische Fund nach wie vor verblüffte, und trat schließlich erneut ein, indem ich die Kisten umging, die ich nach dem Sichten willkürlich verstreut stehen gelassen hatte.

Jodie verharrte am Eingang. Ihre Miene zeugte von vollkommener Verständnislosigkeit. Nein, nicht bloß das, sondern vor allem Fassungslosigkeit. Flüchtig wollte ich mir weismachen, dass ich ähnliche Szenen in meinen Büchern wirklichkeitstreu ausgearbeitet hatte.

»Sieh dir dieses Loch an«, sprach ich. »Die haben das arme Kind hier wie einen Gefangenen gehalten.«

Langsam hob Jodie eine Hand und hielt sich den Mund zu. Ihr Teint hatte die Farbe saurer Milch angenommen.

»Es war, als hätte ich einen Luftschutzbunker ausgehoben oder eine Zeitkapsel, oder irgendetwas nach einem nuklearen Holocaust.«

»Wie … hast du das gefunden?«

»Im Weg stand ja nichts weiter als die Gipswand. Ich drückte dagegen, und sie sprang wie die Grabkammer irgendeines verwunschenen Pharaos auf.« Ich winkte sie herein. »Komm und wirf einen Blick hierauf.«

»Nein.« Sie bewegte sich nicht von der Stelle.

»Wieso?«

»Komm raus. Das gefällt mir nicht.«

»Wovon redest du? Ist das nicht total irre?«

»Genau, das ist es.«

Ich tippte die Plastikkiste, in der das Holzspielzeug lag, mit dem Fuß an. »Als ich klein war, hatte ich die gleichen Bauklötze.«

»Schön für dich. Jetzt komm da bitte raus.«

Wie ich sie vor der Tür beziehungsweise Wand sah, kam sie mir mit einem Mal meilenweit weg vor, als schwebe sie in einer anderen Dimension.

Ich beobachtete sie auf der anderen Seite des Eingangs – eigentlich an der anderen Seite der Wand –, und wegen der ganzen Distanz zwischen uns, hatte ich plötzlich das Gefühl mich in einem alternativen Universum zu befinden. Es war nur temporär und als es sich verabschiedete ging ich zu ihr und rubbelte ihr über die Arme.

Jodie schaute mich an, doch ihr Blick wirkte abwesend und nicht scharf, als bestünde ich aus Rauch, den sie glatt durchschauen konnte.

»Hey«, sagte ich. »Was ist los mit dir?« Die Antwort dämmerte mir sofort, und mein dämliches Grinsen verging. »Du weißt von Elijah und dass er hier gestorben ist. Deswegen hast du Schiss. Das ist es doch, nicht wahr?«

Meine Worte stießen sie vor den Kopf – sie hatte von ihm erfahren, aber nicht erwartet, dass auch ich eingeweiht war. Ehe ich ihren Gesichtsausdruck gänzlich interpretieren konnte, wandte sie sich ab. Er war nicht stark genug, um ihre Gefühle preiszugeben, aber er veranlasste mich dazu, ihre Arme loszulassen.

»Sag schon«, forderte ich. »Du weißt es, oder?«

»Eine Frau auf der Weihnachtsfeier von Adam und Beth hat es mir erzählt.« Jodie schlenderte hinüber zu Waschmaschine und Trockner, wo sie beiläufig Interesse an der großen, orangefarbenen Waschmittelpackung heuchelte, die auf einem der Bretterböden unter der Treppe stand. Ich fragte mich, ob es Nancy Stein gewesen war, die es ihr gesteckt hatte. »Später fragte ich Beth darüber aus, und sie bestätigte mir, dass es stimmt.«

»Warum wolltest du es vor mir verheimlichen?«

»Hast nicht du mir dieses Geheimnis vorenthalten?«

»Ich tat es nur zu deinem Besten. Es hätte nichts gebracht, dir davon zu erzählen.«

»Und ich tat es zu deinem Besten.« Als sie mich wieder anschaute, erkannte ich, dass sie gegen Tränen ankämpfte. »Ich werde mich deshalb nicht von dir maßregeln lassen. Das werde ich nicht zulassen. Weißt du noch, der Abend bei deinem Bruder nach der Beerdigung eurer Mutter? Außerdem bin ich stets bei dir, wenn die Erinnerung an Kyle dich wieder einholt. Ich bekomme mit, wenn du im Schlaf über ihn redest. Vor allem aber weiß ich, wie du nur allzu gern über deinen Gedanken brütest. Du quälst dich selbst.« Sie verkrampfte die Hand so arg, dass ich befürchtete, die Bierflasche ginge zu Bruch. »Also ja: Ich nahm an, du wüsstest es nicht, und hatte nicht vor, es dir jemals unter die Nase zu reiben. Wäre es nötig gewesen, es zu deinem geistigen Wohlergehen unter den Tisch zu kehren, hätte ich es mit ins Grab genommen.«

»Meine Güte … es tut mir weh, dass du glaubst, ich sei so schwach.«

»Werde verdammt noch mal erwachsen. Versuch nicht, mir Schuldgefühle einzureden. Das wird nichts.«

Jodie hatte recht. Ungeachtet der Tatsache, dass ich mich verarscht fühlte, begriff ich sehr gut, weshalb sie den Mund gehalten hatte. Allzu deutlich entsann ich mich jenes Abends nach Mutters Beisetzung, der herben Worte, die geäußert worden waren, und der Hiebe, die Adam und ich einander versetzt hatten.

»Okay«, sagte ich schließlich, indem ich auf sie zuging, um sie zu umarmen, wobei der Flaschenhals in meinen Unterbauch stach. »Ist schon gut.«

Jodie seufzte an meiner Schulter, da ließ ich sie wieder los. Ich erwartete eigentlich, sie hätte feuchte Augen, doch dem war nicht so. Sie sah einfach nur unglaublich müde aus.

»Am besten rufst du irgendwen an, der herkommt und dieses Zeug wegschafft.« Sie nickte in Richtung des Kinderzimmers. »Und ich will kein Wort mehr über das verlieren, was dem Jungen zugestoßen ist. Es ist tragisch, hat aber nichts mit uns beiden zu tun.«

»Richtig«, pflichtete ich bei, während ich noch eine ihrer Schultern massierte. »Absolut überhaupt nichts.«








Kapitel 11

Am nächsten Morgen rief ich eine Räumungsfirma namens Allegheny Pickup and Removal an und gab einem gewissen Harry Peters zu verstehen, man solle Elijah Dentmans Zeug abholen. Es würde zehn Tage dauern, bis wir drankämen. Jodie war nicht sehr erfreut darüber. Falls sie dem versteckten Kinderzimmer und seiner Einrichtung tagtäglich mehr als nur einen flüchtigen Gedanken schenkte, gelang es ihr aber auf fabelhafte Weise, sich nichts anmerken zu lassen.

Ich hingegen ertappte mich dabei, zu jeder Gelegenheit, die sich ergab, hinunter in den Keller zu schleichen – obwohl ich meiner Frau versprochen hatte, genau dies zu unterlassen –, angetrieben durch ein unerklärliches Verlangen, und um Elijahs Habe zu durchforsten.

Adams Geschichte über den Unfalltod des Buben hatte bei der Entdeckung dieser Gruft von einem Zimmer dazu geführt, dass ein vormals verglimmender Funke der Kreativität erneut in meiner Seele aufglühte. So lichtete sich meine Schreibblockade wie schwere Nebelschwaden, die hinaus aufs Meer zogen, und ich sah es wieder vor mir, das große Ganze.

Ich verlor jegliches Interesse an dem Manuskript, mit dem ich mich bisher befasst hatte. Holly hatte die ersten Kapitel bereits gelesen und Begeisterung bezeugt, doch ich fing an, eine fiktive Familie – oder hatte sie nicht vielleicht doch allzu wirkliche Vorbilder? – zu entwickeln, die von schweren Zerwürfnissen heimgesucht wurde: Eine alleinstehende Mutter und ihr junger Sohn zogen bei dessen Onkel und Großvater ein, der wiederum im Sterben lag. Welche Art von Leben mochten diese Menschen führen? Was geschah mit diesem Jungen, der dazu gezwungen war, in einer Zelle zu hausen, die sich Poe für Das Fass Amontillado hätte ausdenken können?

Natürlich entgingen mir die Gemeinsamkeiten der Tode von Elijah und Kyle nicht. Beide waren ungefähr im gleichen Alter gestorben, und ihre Zimmer hatte man nach dem jeweiligen Unfall auf mysteriöse Weise unberührt gelassen, Elijahs im Keller von Waterview Court 111, Kyles in unserem Haus in Eastport. Als ältester Sohn hatte Adam ein Zimmer für sich allein gehabt, während ich mit Kyle zusammengelegt worden war. Nach seinem Tod hatte Vater meine Sachen zu Adam gebracht, und ich war gefolgt. Eines kalten Tages im Dezember hatten meine Eltern Kyles Hinterlassenschaft still und wie durch Fäden manipuliert in die Garage verbannt.

(Was später damit geschehen war, entzog sich meiner Kenntnis. Nachdem Vater gestorben und Mutter zu ihrer Schwester nach Ellicott City gezogen war, kehrten Adam und ich zur Stätte unserer Kindheit zurück, um uns um das Vermächtnis unseres Vaters zu kümmern. Ich rechnete damit, Kyles Sachen immer noch in der Garage zu finden, sah mich gnadenlos damit konfrontiert – wie ein Mörder am Pranger, wenn der Tag des Jüngsten Gerichts nahte –, musste am Ende aber verdattert feststellen, dass es verschwunden war. Irgendwie kam mir dies schlimmer vor, als alles noch einmal vor Augen zu haben, weil es bedeutete, dass sich meine Eltern zumindest einmal Zeit genommen hatten, um sich der Erinnerungsstücke zu entledigen. Der Gedanke daran, welchen Kummer sie dabei verspürt haben mochten, schmerzte sehr.)

Besagter Parallelen wegen und weil ich nicht wusste, wie Elijah Dentman ausgesehen hatte, verpasste ich meinem fiktiven Jungen Charakterzüge von Kyle – schmächtig und hellhaarig, mit goldigen Augen und langen Wimpern sowie rotbraunen Sommersprossen auf dem Nasenrücken. Als einziger Flachsschopf war er das schwarze Schaf der Familie gewesen. Ich schrieb fieberhaft und war nach jeder Sitzung zwar ausgelaugt, aber umso begeisterter.

Eines Nachmittags, als Jodie wieder einmal mit Beth unterwegs war, rief ich Adam an und bat ihn, so schnell wie möglich herzukommen. Er erschien in seiner blauen Polizeiuniform mit der Mütze in den Händen auf der Terrasse. In der Uniform sah er doppelt so stämmig aus, zumal die Schutzweste unterm Hemd seine Brust rund wie ein Whiskeyfass wirken ließ.

»Was um alles in der Welt ist denn so dringend? Du hast ja am Telefon kaum Luft gekriegt.«

Ich führte ihn nach unten in das Zimmer.

»Verdammte Scheiße.« Adam bekam den Mund nicht mehr zu. »Machst du Witze?« Wie Jodie blieb er auf der Schwelle stehen, als hindere ihn eine unsichtbare Barriere am Eintreten.

Abends packte mich einmal mehr der Drang, etwas zu Papier zu bringen. Aber ich war es leid, mit Stift und Block auf meinem Schoß auf der Couch zu sitzen. So fuhr ich einen Stuhl mit Rollen, den ich neben weiteren Überbleibseln im Keller entdeckt hatte, in Elijahs Zimmer direkt vor den Schreibtisch, und nachdem die Höhe soweit bequem eingestellt war, schlug ich meinen Block auf und fing wie im Wahn zu schreiben an.

Dabei entstanden Zerrbilder von Tooey Jones, Ira und Nancy Stein sowie Szenen von Adams Weihnachtsfeier, nicht zu vergessen das Kellerschlafzimmer hinter der Wand. Ausführlich beschrieb ich das halb versenkte Treppengerüst im See. Und natürlich Elijah Dentman selbst, meine Hauptfigur und tragische Gestalt, den bedauerlichen Buben, den man in einer regelrechten Untergrundzelle festhielt. Was für ein Kind war er? Wie entwickelte sich ein Zehnjähriger, verwahrte man ihn in einem Keller? (Als mir der Schuhkarton mit den verendeten Vögeln wieder einfiel, wurde mein Körper taub wie im Fieber.)

Vorerst hatte ich die Schreibblockade überwunden und befand mich auf einem Höhenflug in Bausch und Bogen. Unter mir blinkten Lichter, ein Geflecht umtriebiger Verkehrswege, und ich stieg immer höher.

Als ich den Stift endlich niederlegte, schmerzte meine Hand, und am Zeigefinger tat sich eine ansehnliche Blase auf. Der Text in meinem Notizbuch hingegen las sich wunderbar fließend, und die Beschreibungen waren sehr ausführlich geraten. Was mir jedoch abging, war eine eigentliche Geschichte. Ich wusste zu wenig über die Dentmans, als dass ich ihr Leben akkurat hätte wiedergeben können. So zwängte ich meinen kleinen Jungen in ein Kellerversteck, ohne zu begreifen, was ihn dorthin gebracht hatte. Wer war Elijah? Wer waren die Dentmans?

Ich musste es herausfinden.

Kapitel 12

Als ich in der öffentlichen Bibliothek Westlake ankam, war es gerade erst Viertel nach elf. Eisengraue Wolken zogen am Horizont auf und verhießen neuen Schnee.

Das Gebäude wirkte plump und besaß eine Ziegelsteinfassade, stand an der Kreuzung zwischen Hauptstraße und Glasshouse Street im Schutze dichtgedrängter Ahornbäume, die ohne Blätter spindeldürr anmuteten. Drinnen war es totenstill. Wie immer, wenn ich eine Bücherei aufsuchte, begab ich mich in den G-Bereich und fand ein einzelnes, zerfleddertes Exemplar meines Romans Silent River zwischen den anderen Einbänden. Augenscheinlich stammte es aus einer Privatsammlung und war der Bibliothek vermacht worden, denn auf der Innenseite des Umschlags entdeckte ich den Namen G. Kennow.

An der Information lächelte mich eine ältere Dame mit sympathisch großmütterlichem Gesicht und Zweistärkenbrille an. Sie cremte sich gerade die Hände ein.

»Hi«, grüßte ich. »Ich würde gern die Archive der Lokalzeitung sichten.«

»Sie meinen die von Westlake, also The Muledeer?«

»Ja, das städtische Blatt«, sagte ich und dachte, wie gut der Name Maultierhirsch zu einer Gegend wie dieser passte.

»Wie viele Jahre zurück soll es denn gehen? Falls es sich auf etwa zwei beläuft, befinden sich die Kopien der Ausgaben im Lagerraum. Was darüber hinausgeht, liegt als Microfiche vor.« Im entschuldigenden Ton fügte sie hinzu: »Ich weiß, dieses System ist ein wenig veraltet, selbst hier draußen am Steißbein des Teufels, aber die Bibliothek kam bislang nicht dazu, alle Daten auf Festplatte zu transferieren.«

»Nicht schlimm«, beschwichtigte ich.

Obwohl niemand zugegen war, der uns hätte belauschen können, beugte sie sich über den Tisch und wisperte verschwörerisch: »Um ehrlich zu sein, mag ich keine Computer. Ich traue den Dingern nicht; zu viele Tasten, und zu viel, was schiefgehen kann. So oder so bin ich eine alte Frau und werde in diesem Leben weder Tango noch Two-step lernen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Sie grinste, wobei ihre gepuderten Wangen erröteten. »Um Gottes willen, ich höre mich bestimmt wie ein perfekter paranoider Schwachkopf an.«

»Überhaupt nicht«, erwiderte ich. »Ich selbst schreibe auch nach wie vor alles von Hand. Außerdem glaube ich nicht, dass ich auf Microfiche zurückgreifen muss, weil ich etwas aus dem letzten Sommer suche.«

»Na dann«, antwortete sie, »brauchen Sie das Einhorn.«

Ich blinzelte. »Das was?«

Die Bibliothekarin kramte in einem Schuhkarton herum, den sie unterm Tisch hervorgezogen hatte, und reichte mir ein Schlüsselbund, an dessen Kette ein Gummieinhorn baumelte. Die Farbe war verblasst, und am Hintern schien etwas Bissspuren hinterlassen zu haben. Der kleine Anhänger hätte durchaus hundert Jahre alt sein können.

»Hier entlang.« Ich folgte der Frau, nachdem ich um den Schreibtisch gegangen war, durch ein Labyrinth aus Bücherregalen. »Gott weiß, warum Vicky darauf besteht, die Tür abzusperren. Ich jedenfalls kann mir nicht vorstellen, weshalb jemand einbrechen und all unsere Zeitungen stehlen sollte.«

»Was meinten Sie vorher damit, von wegen Steißbein des Teufels?«

»Steißbein des Teufels«, wiederholte sie. »Den Ausdruck hat meine Mutter geprägt. Er bezieht sich auf mitten im Nirgendwo, also einen Ort wie Westlake.«

»Ich mag die Vorstellung.«

»Oh, verstehen Sie mich nicht falsch«, entgegnete sie. »Die Stadt ist wirklich wunderschön.«

Ich meinte eigentlich die Formulierung ihrer Mutter, verkniff mir aber eine weitere Erklärung.

Letztlich erreichten wir eine unauffällige Tür im hinteren Bereich der Räumlichkeiten. An der Tür klebte ein bekanntes Motivationsposter, das Bild einer struppig gelbbraunen Katze. Darunter stand seltsam falsch geschrieben: Hang in Their!

Die Bibliothekarin wählte den passenden Schlüssel und sperrte auf, beugte sich hinein und schaltete das Licht an. Der Raum war nicht größer als eine Toilette. An einer Wand standen Regale, die unter dem Gewicht gestapelter Zeitungen einzubrechen drohten. Ferner war Platz für einen Tisch mit Stuhl sowie einen gelben Katalog, der an einem Haken am Raugips hing.

»Das ist der Index«, bedeutete die Frau, indem sie mir die Schlüssel überließ. »Sie können auch die Toiletten aufschließen. Vicky glaubt wohl, auch dort fände jemand etwas zum Stehlen. Möchten Sie Kaffee?«

»Nein, danke.«

»Also, melden Sie sich einfach, wenn Sie etwas brauchen. Ich heiße Sheila.«

»Danke, Sheila.«

Nachdem sie verschwunden war, trat ich ein und machte die Tür zu. Die Luft war abgestanden und stank logischerweise intensiv modrig nach altem Papier. Ich nahm den Katalog vom Haken und fing zu blättern an. Es brauchte eine gute Minute, oder zwei, bis ich das Archivierungssystem durchblickt hatte, doch dann fiel es mir umso leichter, konkrete Daten zu finden.

The Muledeer war eine Wochenzeitung, und keine Ausgabe dicker als die Speisekarte eines Highway-Restaurants. Außer dass es letzten Sommer passiert war, wusste ich nicht, wann genau Elijah Dentman den Tod gefunden hatte, also begann ich in der ersten Juniwoche und arbeitete mich Seite pro Seite durch. Weil die Artikel sehr knapp gehalten waren, glaubte ich nicht, dass es allzu lange dauern würde, bis ich es fand, zumal etwas so Unerhörtes wie der Tod eines Jungen aus der Gegend gewiss eine Titelstory abgeworfen hatte.

Alles in allem passierte kaum Aufregendes in Westlake, Maryland. Alltägliches prägte den Inhalt, Berichte von örtlichen Talentshows, Werbung für lokale Betriebe und die üblichen Todesanzeigen, wenn ein älterer Mitbürger zum auf ewig begleiteten Wohnen in den Himmel entstiegen war. Obwohl die Artikel wenig Wissenswertes vermittelten, gestatteten sie einen erhellenden Einblick in das Herz und der Seele die Kleinstadt, die ich nun meine Heimat nannte.

Endlich fand ich es; die Schlagzeile sprang mich geradezu an:

JUNGE ERTRINKT IM SEE

Eine frostige Woge floss durch meinen Körper. Dass es der Wirklichkeit entsprach, lähmte mich. Ich atmete nicht, dessen war ich mir bewusst, konnte allerdings nichts dagegen unternehmen.

Direkt links unter der Zeile war ein Schulfoto von Elijah Dentman abgedruckt. Seine Haut schimmerte so hell wie das Haar. Er hatte ein rundes Gesicht und zusammengekniffene Augen, doch darauf belief sich die Ähnlichkeit zu Kyle. Sein Erscheinungsbild deutete eine gewisse Trägheit oder Unterentwicklung an. Der Schnappschuss musste in einem Supermarkt entstanden sein, typisch mit falscher Holzvertäfelung im Hintergrund, und wirkte so schlicht wie alltäglich. Trotzdem wäre ich, als ich dem Jungen in die Augen schaute, am liebsten zusammen- und in Tränen ausgebrochen.

Laut David Dentman, dem Onkel des Jungen, war er nachmittags zum Schwimmen an den See gegangen und wollte auf dem Treppengestell spielen, während David ihn vom Wohnzimmerfenster aus im Auge behalten hatte und seine Mutter im Obergeschoss schlief. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte David hinausgesehen und Elijah nicht entdeckt, weshalb er rufend zum See geeilt und ins Wasser gewatet war, ohne aber eine Antwort zu erhalten. Als er allem Anschein nach Blut auf einer der Holzstufen gesehen hatte, war er verständlicherweise in Panik geraten und zurück zum Haus gelaufen, um die Polizei zu rufen.

Die Cops suchten den See und die anliegenden Waldstücke flüchtig ab. Sie verhörten auch die Nachbarn und es wurde Nancy Stein zitiert, die David Dentmans Aussage bestätigte: Sie war mit dem Hund spazieren gegangen und hatte Elijah auf der Holztreppe im Wasser beim Spielen gesehen. Später am Nachmittag sei ihr dann ein spitzer Schrei von dorther aufgefallen, bei dem Nancy Stein sich erst später etwas gedacht habe, wie sie behauptete …

Nachdem ich den Bericht durchgelesen hatte, kam es mir vor, als hätte mich jemand wiederholt in den Magen geboxt. Es gab einen wichtigen Aspekt des Vorfalls, den mir Adam nach der Party bei sich zu Hause nicht geschildert hatte: Elijahs Leichnam blieb seitdem verschollen. Selbst die Taucheinheit des Westlake Police Departments hatte ihn nicht gefunden. Dem Polizeichef zufolge befand sich das Wasser des Sees während der Sommermonate auf dem Höchststand, und der anhaltende Regen der vergangenen Monate hatte den Grund aufgewühlt, was die Sicht unter Wasser erschwerte. Man durchkämmte das Gewässer noch den ganzen Abend lang, stieß aber nicht auf die Leiche. Sie haben den Jungen nie gefunden.

Das letzte Wort zum Thema las man auf dem Titel der darauffolgenden Ausgabe: Die Polizei ging davon aus, Elijah sei abgerutscht und habe sich den Kopf am Holz aufgeschlagen, das Bewusstsein verloren und schlussendlich den Tod gefunden – er war ertrunken. Die DNA-Tests hatten ergeben, das Blut auf den Treppen war das von Elijah. Den Schrei, den Nancy Stein vernommen hatte, stammte vermutlich von Elijah, als er die Treppen hinabfiel, bevor er mit dem Kopf aufgeschlagen war. Und genau so wurde der Fall abgeschlossen.

Ich las den Artikel mehrmals durch, ohne richtig schlau daraus zu werden. Sicher, der See war groß, aber dennoch ein überschaubares Gewässer. Warum gelang es ihnen nicht den Leichnam zu finden? War das Kind derart schnell verwest und zerfallen? Das ergab keinen Sinn.

»Hier trotzdem etwas Kaffee für Sie.« Sheilas Stimme ließ mich vor Schreck auffahren. Ich war so vertieft, dass ich die Tür überhaupt nicht gehört hatte. Sie stellte einen Plastikbecher neben den Zeitungen auf dem Tisch ab. Als sie über meine Schulter lugte, sah sie die Schlagzeile und schüttelte den Kopf, als sei sie bitterlich enttäuscht. »Oh, ich erinnere mich. Was für eine furchtbare Tragödie.«

»Man hat die Leiche nie gefunden«, bemerkte ich ungläubig mit kratziger Stimme.

»Wenn so etwas einem jungen Menschen passiert, ist es umso schlimmer.« Sheila runzelte die Stirn, bevor auch der Rest ihres Gesichts in Falten lag. »Weshalb interessieren Sie sich für dieses Drama?«

»Meine Frau und ich, wir sind neu in der Stadt und hörten davon.« Ich rang mir ein schwaches Lächeln ab. »Schätze, aus reiner Neugier.«

»Ein junger Mann wie Sie sollte sich nicht mit solch makabren Dingen beschäftigen, sondern Angeln gehen, Fußball spielen und Zeit mit seiner Frau verbringen.«

»Ich schreibe Horrorbücher, verdiene mein Geld mit dem Makabren, Sheila«, gestand ich und nahm den Kaffee, um daran zu nippen.

Sie strahlte wie eine stolze Mutter, weil ich sie mit ihrem Namen angesprochen hatte. »Was genau schreiben Sie? Kurzgeschichten?«

»Romane.«

»Wirklich? Fantastisch! Wurde irgendetwas auch veröffentlicht?«

»Alle.« Ich hasste diese Frage schon immer.

»Haben wir sie vielleicht sogar hier in unserer Bibliothek?«

»Genau genommen steht eines meiner Bücher dort drüben im Regal. G wie Glasgow.« Ich wollte sie plötzlich loswerden, und dies stellte sich wohl als beste Möglichkeit dar.

»Ist das nicht witzig? Glasgow sagten Sie? Wie die schottische Stadt?«

»Exakt.«

Sheila grinste so breit, dass ich jeden Moment erwartete, ihr Kopf fiel über dem Oberkiefer ab. »Wissen Sie, was ich jetzt mache? Ich werde dieses Buch suchen und Sie es signieren lassen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Wir stellen einen hübschen Reiter mit den Werken unserer Lokalhelden am Eingang auf.« Sie schlug die Hände vor der Brust zusammen. »Toll. Als lebten Prominente in unserer unmittelbaren Umgebung.«

Sheila schlurfte davon, und ich hängte den gelben Katalog wieder an den Haken. Ehe ich mich aber auf den Weg machte, gab ich einem unverhofften Drang nach und blätterte zurück zum Artikel über Elijah Dentman. Nach einem kurzen Blick über die Schulter riss ich die Seite heraus, faltete sie zusammen und steckte sie in die Gesäßtasche meiner Jeans.



Kapitel 13

»Warum zum Teufel hast du mir nicht gesagt, dass sie Elijah Dentmans Leichnam nie geborgen haben?«

Adam hatte einen freien Tag, und wir saßen mit gesundem Durst an der Theke des Tequila Mockingbird. Das Bird, wie es die Stammkunden nannten, war ein schummriger, rustikaler Pub mit rußigen Backsteinwänden und verzogenem Holzfußboden, wie aus den Albträumen eines Verrückten. Der zersplitterte Tresen befand sich an einer Wand gegenüber einer Reihe Rundtische, während eine alte Jukebox neben der Klotür Staub ansetzte. Entblößte Deckenstreben, durchweg verkohlt und leidlich stabil, erinnerten an Fettbrände, die außer Kontrolle geraten waren. Mit all ihren Geistern und Aromen aus vergangenen Tagen unterschied sich die Bar nicht großartig von anderen überall im Land.

Die einzige Ausnahme war eine Wand nicht aus Backsteinen, sondern mit einer riesigen Anzahl von Mahagoni-Regalen, auf denen sich Hunderte – vielleicht Tausende – in Leder gebundene Bücher befanden. Die Rücken waren brüchig, und viele der aufgeprägten Titel nicht mehr lesbar. Das letzte Brett, die hinterste Nische der die ganze Breite des Raumes einnehmenden Konstruktion, beanspruchten die Wälzer. Einige steckten liegend unter den Böden, wohingegen man andere zwischen zwei Bände geschoben hatte, und zwar offensichtlich so gewaltsam, dass es nahezu genauso unmöglich war, sie herauszuziehen, wie einen Nagel in einem Baumstamm. Gerahmte Kunstdrucke der Gemälde aus William Blakes Zyklus Lieder der Unschuld und Erfahrung hingen an den übrigen Wänden, wobei die Farben hinterm Glas derart brillant und gestochen scharf waren, dass sie inmitten dieses düster ländlichen Gasthauses völlig fehl am Platz wirkten.

»Wovon sprichst du?«, fragte Adam. »Ich hab dir alles erzählt.«

»Nein. Du sagtest, er sei ertrunken. Du hattest nie erwähnt, dass man seinen Körper nie geborgen hat.«

Wie er mit dem Finger am Schaum seines Bieres schnippte, sah er auf einmal gelangweilt aus. »Okay, gut. Wir haben ihn nicht gefunden.«

»Wie kann das sein? Es handelt sich um ein geschlossenes Gewässer.«

»Ein sehr großes und tiefes obendrein.« Adam seufzte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Niemand konnte bezeugen, dass der Junge wirklich hineingefallen war, also wissen wir auch nicht, auf wann wir seinen offiziellen Tod datieren sollen. Nancy Steins Aussage bezüglich des Geräusches, das ihr wie ein Schrei vorgekommen war, ist unser einziger Anhaltspunkt. Wir trafen erst über zwei Stunden später am Ort des Geschehens ein. Weißt du, was mit einem Körper geschieht, der so lange unter Wasser bleibt?«

»Hey.« Ich hielt die Hände in einer Geste gespielter Kapitulation hoch. »Ich kritisiere das nicht.«

Die Augen meines Bruders verengten sich. »Was treibst du überhaupt die ganze Zeit, dass du auf solche Fragen kommst?«

»Ich war in der Bücherei und habe mir ein paar alte Zeitungsartikel angeschaut.«

»Weshalb?«

Ich wollte den Anschein von Lässigkeit wahren und nicht durchblicken lassen, dass ich ein Buch schrieb. »Ich schätze aus Neugier.«

»Klar, ganz bestimmt.« Der Klang seiner Stimme bewies mir, dass er mir nicht glaubte.

»Bist du an jenem Tag dort gewesen? Hast du an der Suche teilgenommen?«

»Ja.«

»Wie war es?«

»Entsetzlich. Mir wird heute noch schlecht, wenn ich daran denke.« Adam legte beide Hände flach auf die Theke. »Das Härteste, womit wir es hier zu tun haben, sind Randalierer auf der Hauptstraße oder Halbstarke, die es lustig finden, ihr Geschäft auf den Stufen der Post zu verrichten.«

»Deine Leute waren also nicht darauf gefasst, einen Fall wie diesen zu behandeln?«

»Wir sind gute Cops, falls du in diese Richtung zielst. Wir wissen, wie wir unseren Job zu machen haben, und machen ihn gut …«

Er starrte angestrengt auf sein Bier. »Einer von uns ist im Irak draufgegangen. Er kündigte aus einer Laune heraus und faselte etwas von einer Berufung, der er folgen musste. Scheiße.« Nun wanderte sein Blick durch den dämmerigen Raum. »Wir sind eine redliche Polizeieinheit, das meine ich damit.«

»Ich zweifle gewiss nicht daran.«

»Scheiße«, wiederholte er und trank sein halb volles Glas in einem Zug leer, bevor er zwei weitere bestellte.

»Wer hat Nancy Stein befragt?«

»Mein Partner«, antwortete Adam. »Douglas Cordova. Der war auch auf der Feier, du erinnerst dich?«

Ich tat es vage: Kerl mit breiter Brust und angenehmen, fast kindlichen Zügen. »Sicher«, erwiderte ich. »Hat man die Eltern je ernsthaft verdächtigt?«

»Nicht offiziell.«

»Aber ihr Jungs hattet trotzdem ein paar Fragen an sie?«

»Nein. Hör mal, wenn ein Kind auf diese Weise …«

»Dann widmet man sich zuerst den Eltern«, nahm ich vorweg, »beziehungsweise wie in diesem Fall der Mutter und dem Onkel.«

»Dass man sucht und sucht, ohne den Leichnam zu finden, ist nicht unüblich«, behauptete Adam.

Ich dachte: Sicher, wenn jemand verdammt noch mal im Atlantik ersoffen ist. Mich beschlich das starke Gefühl, dass er mehr sich selbst als mich überzeugen wollte. »Und was hältst du von dem Kinderzimmer, das ich im Keller gefunden habe? Etwas so Schauerliches habe ich noch nie gesehen.«

»Klar.« Er ließ sich nicht festnageln. Irgendwo im Laufe der Unterhaltung hatte ich ihn verloren.

»Vergessen wir den Raum für eine Sekunde. Veronica Dentman ließ das ganze Zeug absichtlich zurück, sorgfältig zusammengepackt und versteckt, wie ein schmutziges Geheimnis.«

»Auch nichts Besonderes«, antwortete Adam.

»Kinderbücher, Baseballsachen, Wollhand- und Turnschuhe, Klamotten, Spielzeug …«

»Jeder versucht, mit dem Tod auf seine eigene Weise zurechtzukommen. Veronica Dentman gelang es vermutlich nur so – indem sie schnell wegzog, ohne etwas mitzunehmen.«

»Mir kommt es bloß ein bisschen kalt und unsensibel vor. Absonderlich.«

Adam stöhnte. »Mal an Mom und Dad gedacht?«

Ich nahm einen Schluck Bier und fragte zurück: »Was ist mit ihnen? Sie machten diese Phase nach Kyles Tod durch, löschten aber nicht jede Erinnerung an ihn aus. Im Haus hingen weiterhin Fotos von ihm, und einige seiner Sachen lagen ebenfalls noch herum. Es dauerte fast ein Jahr, bis sie sein Schlafzimmer leer räumten, um Himmels willen.« Der Gedanke daran ließ die Eindrücke zum wiederholten Mal aus der Versenkung aufsteigen: Matchbox-Autos unter Kyles Bett nach der Beerdigung. Ich zwinkerte nervös und musste mich räuspern, ehe ich wieder trinken konnte.

»Genau das meine ich«, betonte Adam. »Jeder geht damit auf seine Art um. Mom und Dad setzten sich auf ihre eigene Weise damit auseinander. Scheiße, vielleicht bin ich aus einem unterbewussten Wunsch Bulle geworden, denjenigen zu helfen, die es nicht selbst können.«

Ich merkte, wie er mich anschaute, wollte den Blick aber nicht erwidern. Immer noch dachte ich an die Spielautos, und weil ich irgendwo hinsehen musste, konzentrierte ich mich auf mein Bier.

»Du hast ein paar Bücher über ihn geschrieben«, fügte er hinzu.

»Ein Buch«, sagte ich. »Nur ein Buch« Und außerdem hat es Alexander Sharpe geschrieben und nicht ich.

Im Wandspiegel hinter der Theke sah ich, dass Adam grinste. Dann drückte er meine Schulter, woraufhin mir die Luft wegblieb. Ich kam mir vor wie ein Akkordeon. »Brüderchen, vergib mir, wenn ich dich darauf stoßen muss, aber du hast vier Romane geschrieben, in denen stets jemand ertrinkt beziehungsweise nur knapp dem Tod entgeht, nachdem etwas aus einem See gestiegen ist. Willst du mir weismachen, du seist dem gegenüber, was du die ganze Zeit geschrieben hast, blind gewesen?«

Seine Worte erschütterten mich bis ins Mark. Nicht im Entferntesten hatte ich es jemals so betrachtet. Aus seinem Munde klang es umso wahrer, und schlagartig sah ich es ein, als sei es vom Horizont her über mich hereingebrochen. Selbst die verfluchten Titel stellten ein einheitliches Motiv in Aussicht, das mir bis zu diesem Augenblick entgangen war: The Ocean Serene, Silent River, Drowning Pool und Waterview. Ganz zu schweigen von dem Namen auf dem Deckblatt des Manuskriptes, das ich Holly vor unserer Abreise nach London geschickt hatte – Blood Lake.

Fuck, war es wirklich so offensichtlich für die anderen? War ich wirklich so blind? Ich biss auf meine Unterlippe und weigerte mich, Adam den Titel meines jüngsten Projektes zu nennen, der noch grob umrissenen Geschichte über Elijah Dentman und die gestörte Familie, die vor mir in unserem Haus gelebt hatte: Floating Staircase – Die Treppe im See.

»Du behauptest also, wegen dem, was Kyle passiert ist, Polizist geworden zu sein?« Ich wollte unbedingt das Thema wechseln. Dabei zitterte meine Stimme ein wenig, doch ich glaubte nicht, dass mein Bruder, der die doppelte Menge getrunken hatte, es bemerkte.

Er schob eine seiner breiten Schultern zurück. »Vielleicht. Ich bin mir nicht sicher. Na ja, es würde mich doch wundern, hätte Kyles Tod nicht irgendetwas damit zu tun. Dann könnten wir auch behaupten, nichts von alledem, was um uns geschieht, hätte überhaupt eine Auswirkung auf unser Leben.«

Ich hätte ihn gern gefragt, ob er je schweißgebadet aufwachte und nach Luft schnappte, während er glaubte, eine Geisterhand schleife ihn in ein nasses Grab. Hatte er schon einmal mitten in der Nacht aufrecht im Bett gesessen, weil Schritte auf dem Flur – Schritte, die sofort verklangen, sobald man den Atem anhielt und sich auf sie konzentrierte, wartete und wartete – an sein Ohr gedrungen waren? Das waren alles die Dinge, die mich als Kind geplagt hatten … und seit Kurzem wieder taten, mich wie ein alter Fluch heimsuchten. Ich fragte mich, welche Mächte in unserem neuen Haus zugange waren. Welcher Fluch lastete auf diesen Mauern?

Die Vorstellung jagte mir eine Heidenangst ein.

»Wie dem auch sei«, fuhr Adam fort. »Vom Standpunkt eines professionellen Ermittlers aus – und ein solcher zu sein, maße ich mir durchaus an – ziehst du wohl allzu voreilige Schlüsse aus dem Zimmer, das du in eurem Keller gefunden hast.«

»Aha. Welche Schlüsse sollen das sein?«

»Zuallererst nimmst du an, es gehöre Elijah, nur weil sein Bett und all die Sachen drinstehen.«

»Und das ist falsch?«

»Es ist eine Möglichkeit, aber deshalb ist es noch lange keine Tatsache. Du musst alles andere ausschließen können, bevor du einen Strich darunter ziehst. So könnten Veronica und David Dentman, der Onkel des Kindes, das Zeug etwa nach dem Unfall in den Keller geschafft haben, genauso wie Kyles Sachen in der Garage verwahrt worden waren.« Er fuhr mit dem Daumen über die Kante seines Bierglases. »Und euer Haus hat keine Garage.«

»Shit«, fluchte ich. Zum zweiten Mal in weniger als fünf Minuten hebelte Adam meine Auffassung von Wirklichkeit aus den Angeln. Dabei war der Bastard noch betrunkener als ich. »Schätze, da ist was dran. Von dieser Warte aus habe ich es noch gar nicht betrachtet.« Das Kribbeln in meinem Bauch flaute rapide ab. Die Begeisterung, mit der ich über die fiktiven Dentmans geschrieben hatte, schien zu verebben oder zusammenzuschrumpfen, und ich befürchtete, der Nebel der Schreibblockade ziehe erneut auf und hülle mein Konstrukt ein.

»Trotzdem …« Adams Stimme verklang.

»Was?«

»Nun«, hob er an und versuchte – so zumindest fasste ich es auf –, sich seines angeschlagenen Zustandes zum Trotz vorsichtig fortzutasten. »Selbst wenn es sich nicht um das Zimmer des Jungen handelt, bleibt eine Frage offen.«

»Und die wäre?«

»Wozu diente der Verschlag?«

Das musste ich zunächst auf mich wirken lassen, Adam offenbar auch, denn er schwieg mehrere Sekunden lang.

»Leute«, unterbrach Tooey im Vorbeigehen am Tresen. Er zwinkerte uns verstohlen zu. »Alles klar bei euch?«

Ich hob eine Hand. »Bestens, danke.«

Hinter uns fütterte jemand die Jukebox für Johnny Cash.

»Ich muss dir etwas gestehen«, sagte ich schließlich nach einer zu langen Schweigeperiode. Ich erzählte Adam davon, wie ich meine alten Aufzeichnungen weggeworfen hatte, die frühen Ergüsse zu Kyles Tod aus der Zeit kurz nach unserem Umzug nach London. »Damals begriff ich es nicht so recht, aber jetzt glaube ich, klickt es allmählich.« Ich wartete auf Adams Antwort; wenigstens hätte er fragen können, was mich schlussendlich zu diesem neuen Bewusstsein gebracht hatte, doch er sagte kein Wort. Also räusperte ich mich einmal mehr und fuhr fort: »Es lag daran, dass ich mich nach Mutters Beerdigung und unserem Streit elend fühlte. Ich habe mich schäbig benommen und war weder dir noch Beth gegenüber sonderlich fair, geschweige denn, dass ich Jodie damit einen Gefallen getan hätte.«

Er starrte wieder beharrlich auf sein Bier. »Oder dir selbst, nicht wahr?«

»Ich warf die Notizbücher weg, weil ich dachte, so einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen zu können.«

»Und? Funktionierte es?«

Mein Kopf fühlte sich knallrot und heiß an, wie glühende Asche. Ich schaute in den Spiegel, nur um sicherzugehen, dass kein Schweiß auf meiner Kopfhaut verdampfte.

»Hat es geklappt?«

»Ich hasse es, das jetzt zu sagen.«

»Wieso?«

»Weil es geklappt hat. Es widert mich regelrecht an, dies zuzugeben, aber während der Zeit in London habe ich fast überhaupt nicht an Kyle gedacht. Ich erinnere mich sogar an einen Zeitungsbericht über ein kleines Mädchen, das in Highgate Ponds ertrunken war. Beim Lesen sagte ich mir noch: Ach ja, ich vergaß, das Gleiche ist Kyle zugestoßen.« Ich rieb meine Augen; die Finger waren vom Bier klebrig. »Oh Gott, ich höre mich ätzend an.«

»Du suchst bloß einen Mittelweg«, erwiderte Adam und trank ein weiteres Glas leer. »Die Antwort besteht darin, dich einerseits nicht selbst zu verurteilen und ein Leben im Kummer zu fristen, andererseits aber auch nicht zu verdrängen, was geschehen ist.« Er schaute auf seine Uhr. »Wir sollten aufbrechen. Es ist schon spät.«

Beinahe hätte ich ihn am Handgelenk gepackt und die eine verbliebene Frage gestellt, die mir schon seit Tagen auf den Lippen brannte: Glaubst du an Geister? Bevor ich mich jedoch dazu hinreißen ließ, wurde mir blitzartig klar, wie absurd es geklungen hätte, also behielt ich es weiterhin für mich.

Ohnehin weiß alle Welt, wo die Toten hinkommen – unter die Erde.

Als ich in jener Nacht nach Hause zurückkehrte, schlief Jodie bereits. Es war bitterkalt im Haus, also legte ich eine zusätzliche Decke über sie und küsste ihre Wange. Sie regte sich und brummelte, wobei eine ihrer Hände unter den Laken herausrutschte und meinen Arm packte. Sie drückte zu.

»Wollte dich nicht wecken«, flüsterte ich von der Bettkante aus.

»Hmmm«, summte sie schläfrig. »Macht nichts. Legst du dich zu mir?«

»Noch nicht.«

»Willst du was Witziges hören?«

»Sicher«, beteuerte ich nach wie vor wispernd.

»Kurz bevor du zurückgekommen bist, war ich auf dem Klo.«

»Hast nicht zu viel versprochen«, entgegnete ich, indem ich ihren Handrücken rieb. »Ein echter Brüller.«

»Nein«, wandte sie ein. »Hör zu.«

»Mach ich.«

»Ich ging ins Bad und schaltete das Licht ein. Dabei musste ich blinzeln, du weißt schon, weil es so hell war und ich schon geschlafen hatte. Kennst du doch, oder?«

»Natürlich.«

»Also kniff ich die Augen zusammen, guckte in den Spiegel, und weißt du was? Ich sah nicht mich, sondern jemand anderen darin.« Ihr Gesicht schien über dem weißen Gebirge des Kissens zu schweben und wirkte geisterhaft bleich, wie der Mond.

»Weißt du, wen ich sah?«

»Wen?«

»Dich«, sprach Jodie. »Ich war du – nur für den Bruchteil einer Sekunde. Aber ich war du.«

Ich beugte mich nach vorn und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie fühlte sich sehr warm an. »Du hast das geträumt«, erklärte ich ihr.

»Nein«, widersprach sie. »Ich war hellwach. Was glaubst du, hat das zu bedeuten?«

»Hab keine Ahnung«, gab ich zu und stopfte die Decken fester um sie herum.

Jodie wälzte sich auf die Seite, wobei ich ein zaghaftes Lächeln auf ihren Lippen bemerkte. »Ich auch nicht.« Ihre Lider flatterten, ehe sie die Augen wieder schloss. »Das ist wohl das Schöne am Geheimnisvollen.«

Nach dem dritten Kuss ging ich leise in den Flur und schaute nach dem Thermostat. Es zeigte nach wie vor zwanzig Grad an, obwohl es sich im Schlafzimmer wie unter zehn anfühlte. Ich sah sogar den Hauch meines Atems.

»Verdammt, das ist lächerlich.«

Im Büro gegenüber leuchtete etwas, also steckte ich den Kopf durch den Türspalt und machte die Lampe an. Jodie hatte ihren Tisch an die Wand gestellt. Der Bildschirm darauf strahlte sein amethystfarbenes Licht ab, daneben stand ein altertümlicher Drucker, und Jazz-CDs lagen verteilt auf der Arbeitsfläche. Die ganze Wand über dem Tisch war mit gerahmten Auszeichnungen tapeziert, Diplomen wie Abschlusszeugnissen und einer Liste der besten Studenten Amerikas neben einer Frau-des-Jahres-Plakette der alten Universität, an der sie ihr Grundstudium absolviert hatte. Am Boden stapelten sich Bücher über Psychologie sowie Ordner voller Fotokopien wie Türme einer gerade entstehenden Stadt, Diagramme und Kurven voller Textmarker-Linien. Ich fühlte mich schlecht, weil ich nicht sauber gemacht und Jodie damit sich selbst überlassen hatte.

Zitternd ging ich wieder nach unten. Nach all dem Ärger mit der launischen, unzuverlässigen Heizung hatte ich mich daran gewöhnt, hinterm Haus Holz zu hacken, mit dem wir den Kamin im Wohnzimmer fast rund um die Uhr am Brennen hielten. Ich schnappte mir ein paar frisch gehauene Klötze von der Terrasse und warf sie ins Feuer.

Nach ungefähr fünf Minuten loderte es beschaulich. Dann nahm ich eine Flasche Chivas aus unserem kärglich bestückten Spirituosenschrank in der Diele und goss einen Fingerbreit in ein schweres Kognakglas. Mit dem Rücken an der Wand hockte ich dann vorm Feuer und schaute dem Spiel der Flammen zu. Der Whiskey brannte im Hals und strahlte wohlige Wärme bis in meine Zehen aus.

Über eine Stunde verbrachte ich vor dem Kamin und sah zu, wie die Glut schwächer wurde beziehungsweise letztlich erstarb, während ich die Konversation mit Adam bei Tooey Revue passieren ließ. Ich hatte ihm freimütig gestanden, dass Kyle in London aus meinem Gedächtnis verschwunden war, und wie miserabel ich mich deshalb fühlte. Das war die Wahrheit. Doch die Rückkehr in die Staaten und unser Einzug in Westlake – in ein altes Haus voller Geflüster, voller Geheimnisse und kalter Hände, die mir nachts an die Brust fassten – hatten alles wieder aufgewühlt. War die kleine Londoner Wohnung ein sicheres Refugium gewesen, war ich nun bemüht, meinen Kopf frei zu halten. Was mich ängstigte, war die Unsicherheit, ob mich tatsächlich nur die Erinnerung an Kyle plagte – oder die Möglichkeit, dass etwas anderes an mir nagte, mich langsam bearbeitete wie ein Steinmetz und schlussendlich niederrang.

Sie hatten Elijah Dentman nie gefunden, und das bedeutete, dass sein Leichnam immer noch dort unten im stillen, schwarzen Wasser war – mit weißlich aufgeblähter Haut, an der sich die Fische gütlich taten und die Augen tief in den Schädel zurückgewichen waren. Geistig vor mir sah ich schwarz gewordene Fingerspitzen, aus denen die Knochen bereits herausragten, und grünes Haar, das wie Seetang auf einem düster leuchtenden Schädel im Schlick waberte.

Fuck, dachte ich.

Ich stand auf und ging zurück an den Schrank, wo ich den Chivas abstellte, dann wandte ich mich zurück zur Treppe.

Irgendwo im Haus schallte etwas Metallisches. Das Geräusch hallte wider und klang so, als schlüge jemand mit einem Schraubschlüssel gegen ein starres Eisenrohr.

Auf halbem Weg die Stufen hinauf hielt ich inne. Mein Puls fing zu rasen an.

Es knallte ein zweites Mal, jetzt erschreckend laut und direkt aus einem der Heizungsrohre. Ein Pfeifen wie aus der Ferne schloss sich an, was mich an die Sirene eines nahenden Feuerwehrautos erinnerte. Dann plötzlich schwoll der Lärm weiter an, wuchs sich zu einem steten, tiefen Brummen aus.

Ich machte kehrt und ging im Flur auf allen Vieren nieder, um meinen Kopf dicht über einen der Lüftungsschlitze zu halten. Daraus stieg keine Wärme auf, obwohl es gerade so geklungen hatte, als sei die Heizung angesprungen. Dieses befremdliche, fortwährende Brummen …

Es klang wie eine Stimme.

Irgendein Teil meiner selbst, der sich für die animalischen Instinkte am Grunde meiner Seele verantwortlich zeigte, flammte auf und übernahm nun die Zügel. Ich presste ein Ohr an den Schlitz und lauschte – ein unbestimmter, langgezogener i-Laut, hinter dem ich allenthalben vage schwaches Wispern ausmachte –, dann vibrierte der Heizkessel und schaltete wieder ab. Das Stottern aus seinem Inneren tönte wie verebbendes Gelächter in einem übervollen Zuschauerraum. Jetzt erst, während ich immer noch mit dem Ohr am Metallgitter klebte, bemerkte ich, dass ich die Luft angehalten hatte. So atmete ich mit bebenden Lungen aus; einen Augenblick später war mir, als tat jemand auf der anderen Seite des Schlitzes das Gleiche.

Ich fuhr hoch, wobei mein Herz wie ein wildes Tier gegen die Rippen zu drängte, die es beengten.

Nach weniger als zehn Sekunden stand ich am Absatz der Kellertreppe und schaute hinunter in das unendliche, nicht fassbare Dunkel. Meine Hand am Türknauf schwitzte. »Genug«, sagte ich laut, obwohl meine Stimme kaum so bestimmt klang, wie ich es mir wünschte. »Das muss aufhören.«

Ich verharrte einen Augenblick, wollte mir aber nicht eingestehen, dass ich eine Art Antwort von unten befürchtete, sie aber auch dringlich erwartete, vielleicht ein flüchtiges Schaben oder sogar den Blick eines glühenden Augenpaares vom Fuß der Treppe. Nichts von alledem passierte.

Fröstelnd ging ich zu Bett.



Kapitel 14

»Ich will ein paar von Elijahs Sachen zurück zu seiner Mutter bringen«, sagte ich.

Die Sonne schien an diesem Morgen im Januar, und die Luft roch nach Mesquitebäumen. Adam und ich spazierten um den See. Jeder von uns hielt einen dampfenden Pappbecher Kaffee in der Hand. Vor uns tollten Jacob und Madison zwischen den Bäumen herum, lieferten sich eine Schneeballschlacht. Ihr Lachen klang wie Kirchenglocken. Im Vergleich zu den vergangenen Wochen war es milder geworden, doch das Eis auf dem See war nach wie vor dick und sah nicht so aus, als werde es allzu bald schmelzen. Der unverhofft klare Himmel zeichnete die Gebirgskette am Horizont reliefartig scharf nach.

Adam nippte an seinem Kaffee und fuhr gleich darauf mit dem Handrücken über seinen Mund. »Wieso?« Er blickte hinaus auf den gefrorenen See und die Reihen Schwarzkiefern am Gegenufer. Seine stahlblauen Augen blickten nüchtern. Weiß dampfender Atem quoll zwischen seinen aufgesprungenen Lippen heraus.

»Schwer zu erklären«, erwiderte ich. »Ich habe einfach das Gefühl, es tun zu müssen – für mich selbst, vielleicht aber auch für die Mutter.«

Er strafte mich mit einem strengen Blick.

Ich fügte schnell an: »Es geht darum, einen Mittelweg zu finden, denk daran. Das Glück liegt in der Ausgewogenheit, über das wir bei Tooey gequatscht haben.«

»Warum erzählst du mir das?«

»Weil ich annehme, du weißt, wo Veronica Dentman lebt. Zumindest könntest du es für mich herausfinden, denn immerhin bist du Polizist.«

Sein Lachen donnerte wie ein Feuerwerkskörper.

»Was denn? Bin ich ein Arschloch, nur weil ich etwas tun möchte, von dem ich glaube, dass es eine hehre Sache ist?«

»Das haben wir schon durchgekaut. Veronica Dentman ließ dieses Zeug aus gutem Grund zurück. Ob du ihre Entscheidung gutheißt oder nicht, ist ehrlich gesagt ziemlich egal. Ich dachte, du hättest eine Räumungsfirma beauftragt, um die Sachen abzuholen.«

»Das wird noch eine Woche dauern«, antwortete ich. Es war gelogen, denn erst am Morgen hatte ich die Leute wieder angerufen und abgesagt. Jodie wusste nichts davon, und auch Adam sollte es nicht erfahren. Nach dem, was in der Nacht geschehen war, sowie allen anderen Vorkommnissen im Zusammenhang mit unserem Umzug nach Westlake hielt ich es für unangebracht, dass Fremde einmarschierten und Elijahs persönliche Gegenstände sehr wahrscheinlich zerstörten.

»Ich halte das für eine schlechte Idee.«

»Da irrst du dich.«

»Tu ich nicht. Ich denke, du übertrittst eine Grenze, indem du dich in anderer Leute Leben einmischst. Diese Frau hat ihren Sohn letztes Jahr verloren; als sie all die Kartons zurückließ, wusste sie genau, was sie tat.«

»Siehst du? Exakt darum geht es«, konterte ich. »Ich glaube, dass sie es eben nicht wusste. Gut, vielleicht war es zu jener Zeit am besten für sie, sich auf diese Weise Luft zu verschaffen, aber nachdem nun eine Weile verstrichen ist, würde sie sich bestimmt darüber freuen, die Sachen wiederzubekommen.«

»Wer bist du, Dr. Phil?«

»Ich meine es ernst. Was ist, wenn sie es bereut, den Kram nicht mitgenommen zu haben? Falls sie es im Nachhinein als kapitalen Fehler ansieht, für den sie sich selbst hasst?«

»Auch wenn dem so wäre: Was kümmert es dich?«

Weil etwas in diesem Haus wollte, dass ich das Zimmer fand, hätte ich fast gesagt. Ich stieß aus gutem Grund auf all diese Dinge.

Wir erreichten eine Lichtung im Wald an der Spitze des Sees. Gegenüber sah ich das Haus der Steins hinter den nackten, grauen Bäumen auf den Felsen. Wir setzten uns auf einen Baumstumpf, der breit genug für uns beide war, während Jacob und Madison weiter durch den Schnee sprangen, der von ihren Stiefeln bröckelte und in die Höhe stob, als sie beim Rennen mit den Hacken ausschlugen.

Adam bot mir eine Zigarette an. Ich nahm sie. Nachdem er sich die letzte in den Mund gesteckt hatte, zerknüllte er das leere Päckchen und entsorgte es in einem Blecheimer, der praktischerweise an den Stamm eines nebenstehenden Baumes genagelt war.

Ich hatte seine Frage nicht beantwortet; sie schwebte noch zwischen uns in der Luft wie etwas, das wir beide peinlich fanden.

»Hör zu«, sprach Adam schließlich. »Was wirst du tun, wenn du im Haus dieser armen Frau aufkreuzt, wenn sie zusammenbricht, sobald sie sieht, dass dein Wagen voll beladen mit den Spielsachen ihres toten Sohnes ist? Denkst du, es wird dir besser gehen, nachdem sie vor dir umgekippt ist und sich die Augen ausgeweint hat? Was hat sie davon?«

»Du begreifst es nicht.«

»Oh doch, ich begreife es voll und ganz. Hier geht es nicht um den Jungen der Dentmans.«

»Worum sonst?«

Adam wandte sich ab. »Vergiss es.«

»Nein«, beharrte ich. »Raus mit der Sprache.«

»Gottverdammt, Mann. Erkennst du es denn nicht? Du hängst wieder einmal in einer klassischen Sackgasse deines Lebens fest, und in typischer Travis-Glasgow-Manier, tust beziehungsweise sagst, was du willst, solange du dich eine Weile besser fühlst, egal wie andere dabei empfinden.«

Ein Schlag ins Gesicht hätte mir weniger wehgetan als das. Vermutlich merkte er es auch, denn sein Blick ruhte eine Millisekunde zu lang auf mir, und ehe er wegschaute, sah ich, seine Züge weich werden.

Ich warf die Zigarette auf die Erde und erhob mich.

»Scheiße«, grollte Adam. »Tut mir leid. Das hörte sich brutaler an, als es gedacht war.«

»Egal, nun ist es raus.« Aus irgendeinem Grund bekam ich zittrige Hände, also versteckte ich sie in meinen Taschen.

»Hass mich, falls dir danach ist, aber ich kann nicht ruhig zusehen, wenn du auf dem besten Weg bist, dir selbst zu schaden.«

»Scheiß drauf, Mann. Du hältst dich für den großen beschissenen Beschützer vor allen Übeln der Welt und glaubst, dir ein verschissenes Martyrium aufbürden zu müssen, nur weil du mein älterer Bruder bist. Falls du es noch nicht bemerkt hast: Ich bin keine dreizehn mehr. Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.«

»Vergiss es wieder, okay?« Adam klang so gottverdammt gelassen, dass ich ihm am liebsten eine aufs Maul gehauen hätte. »Die Welt ist nicht gegen dich. Genauso wenig wie ich. Diese ganze Selbstmitleid-Sache ist seit Jahren abgelaufen.«

Etwas in mir klinkte aus. Ich drehte mich ruckartig um. »Du bist ein Stück Scheiße – weißt du das? Du hast mich abgewiesen, als wir klein waren, nach dem, was mit Kyle passierte. Und jedes Mal, wenn wir miteinander streiten, wirfst du mir dasselbe vor. Du bist ein mieses Schwein, Adam.«

Er sprang so ungestüm von dem Baumstamm auf, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Ich hasste mich dafür, ungewollt zusammengezuckt und einen Schritt zurückgewichen zu sein.

»Ich hab dich weder abgewiesen noch jemals für Kyles Tod verantwortlich gemacht«, sagte er, »sondern nur dafür, dass du danach ein richtiges Arschloch geworden bist.«

»Du kannst dir nicht vorstellen, was ich durchgemacht –«

»Ich war auch ein beschissenes Kind! Du hast keinen Schimmer davon, was ich durchgemacht habe.« Seine Stahlaugen brannten sich in meine, und ich hasste es, nicht wegsehen zu können. Ich hasste es, dass er der Stärkere war, in dieser Situation und vermutlich über weite Teile unseres Lebens hinweg. »Auch ich habe einen Bruder verloren, du beschissener Blödmann.«

Das Schlottern meiner Hände war nunmehr auf die Arme übergegangen. Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen – egal was –, doch was ich äußerte, war nur ein schwaches, unartikuliertes Grunzen. Einen Moment später sah ich Adam doppelt, dann dreimal.

»Herrgott noch mal«, knirschte er und legte einen Arm um meinen Hals. Er presste die Lippen an meine Schläfe.

»Lass mich los«, murmelte ich, obwohl ich es gar nicht wollte.

»Du bist mein Bruder; du bist alles, was ich habe.«

»Du hast Beth«, konterte ich. Dann nickte ich in Richtung der Kinder, die sich auf einem Schneehaufen zankten und dabei ohrenstechend kreischten. »Und du hast diese zwei Herzchen.«

Adam lachte kurz auf, Madison plumpste gerade mit dem Hintern in den Schnee. »Verdammt«, fluchte er, »wahrscheinlich hast du sogar recht.«

Später am Abend kam er bei uns vorbei mit einem linierten Notizbuchzettel, auf dem eine gekritzelte Adresse stand.



Kapitel 15

Irgendwann im Laufe der Nacht wurde ich vom Trippeln nackter Füße auf dem Flur im Obergeschoss wach. Ich kletterte benommen aus dem Bett, wobei ich Jodie, die wie immer tief schlummerte, nur halb bewusst neben mir wahrnahm. Als ich vor die Zimmertür trat, sah ich immer noch nicht klar. Der Lichtschalter war offenbar verschwunden, denn ich fand ihn nicht. Ich lauschte und vernahm hastige barfüßige Schritte die Treppe hinunter.

Der Moment, den ich verharrte, kam mir länger vor, als er in Wirklichkeit dauerte. Ob ich richtig wach war oder noch träumte beziehungsweise in einem abstrakten Zwischenzustand schwebte, konnte ich nicht sagen.

Meine Haut fühlte sich gefroren an, während ich innerlich brannte, als hätte ich Fieber. Wie ein Gespenst wandelte ich an der Brüstung entlang und warf einen Blick in den Flur unterhalb. Zuerst sah ich nichts. Doch als ich genauer hinschaute, erkannte ich, allem Anschein ein kleines Kind, das reglos am Fuß der Treppe an der Wand lehnte. Ohne Zögern fing ich an, die Stufen hinunterzugehen, wobei ich eine Hand auf das Geländer legte, um mich im Dunkeln zu orientieren.

Als ich unten ankam, war das Kind verschwunden. Mondlicht drang durch die breiten Vorderfenster in die Diele und schraffierte den Teppich leuchtend blau. Da stand ich nun und zitterte, obwohl meine Haut von Schweiß überzogen war. Was ich als Nächstes tun sollte, wusste ich nicht.

»Elijah …?« Es blieb bei einem Flüstern – nein, nicht einmal das war es, denn selbst etwas so Leises vermochte ich nicht durch meine verkrampfte Kehle zu pressen –, doch der Geisterjunge ging nicht darauf ein.

Ich glaubte, etwas hinter mir zu hören, und fuhr herum. Für den Bruchteil einer Sekunde vergaß ich, wo ich war. Eigentümlich ruhig schritt ich weiter voran auf der Suche nach einem Jungen, von dem ich wusste, dass er nicht da war. Alles erschien mir auf dramatische Weise überbetont – mein Atem, das Knirschen und Knacken der Bretter sowie das Geräusch meiner bloßen Füße, als ich vom klebrigen Hartholzboden auf den Teppich im Hauseingang trat. Dessen Fransen spürte ich besonders intensiv an den Zehen, fast wie Stacheln. Meine Schritte hingegen verursachten keinerlei Lärm.

Hier herrscht Klarheit, dachte ich mir und war nicht sicher, was ich damit meinte.

Ich ließ die Diele hinter mir. Im Wohnzimmer dachte ich: Die Wirklichkeit ist eine Frage subjektiver Wahrnehmung, genauso wie Träume oder Erzählliteratur. Alles ist Fiktion, und der Trick besteht darin, sich an etwas festzuhalten – festzuhalten mit aller Kraft –, bis man dazu in der Lage ist, einen halbwegs normalen Zustand wiederzuerlangen.

Wirf einen Anker aus, dachte ich weiter.

Dann blieb ich stehen, mitten im Wohnzimmer, frierend, allein und unsicher, was zur Hölle ich da machte. Der Mond, ein Glupschauge mit stechendem Blick, linste durch eines der Fenster; das Licht der Straßenlampen bohrte sich wie Nadeln in meine Augen. Ich bildete mir ein, die Tür zum Keller zu hören, die von hier aus auf der anderen Seite des Hauses lag … und hörte schnelle Schritte jener nackten Füße, barfüßig über die Treppe laufen, zwei auf einmal nehmend, hinab in die eiskalte, verlassene Finsternis …

Aber ich bewegte mich nicht.

Ich war fertig mit der Geisterjagd.

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